vondigitalkonzentrat 01.10.2018

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Schöne neue digitale Welt? Ein Blog über Digitalisierung, Netzkultur, Bürgerrechte – und ohne Buzzwords.

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Die taz überlegt, was zu tun ist, sollte die Zeitung ab 2022 nicht mehr auf Papier erscheinen können. Das hat Wellen geschlagen. Die einen verteidigen das gedruckte Papier, die anderen sehen neue wirtschaftliche und journalistische Möglichkeiten.

Was mir in der Debatte bisher fehlt: Eine grundsätzliche Analyse, wie das rein digitale Medium sein soll und wie die technischen Vorgaben und Möglichkeiten Anwendung finden. Wenn es in der Debatte nur darum geht, das Papier einfach mal digital zu machen, ist das im schlechtesten Fall kraftlos — und im besten Fall ein Startschuss mit gewaltigen Chancen. Das gilt, wie in meinem Rant-Blog vom August geschrieben, nicht nur für eine Zeitung, sondern für alles was irgendwie digitalisiert wird.

Das neue Artikel-Atom

Was man sich unter einer Zeitung heute vorstellt, ist eine klar über ein Datum definierte Sammlung von Artikeln, auf Seiten, in nacheinander abfolgenden Ressorts. Schön gesetzt und ansehnlich, als hübsche Einheit auf dem Frühstückstisch, egal ob digital oder auf Papier. Gibt es aber diese klar definierte Zeitungseinheit in Zeiten von Newsstreams noch? Minutenaktuelle Meldungen und das Gelegenheitslesen zwischen süßen Katzenfotos und der WhatsApp-Nachricht aus der Zumba-Gruppe sind die neue Rezeption. Es findet eine Atomisierung statt, der Artikel wird die kleinste unteilbare Einheit — nicht mehr der Gesamtkontext einer Zeitung. Demnach wird auch nicht mehr die Einheit als Artikelsammlung layoutet und gesetzt, sondern das Artikel-Atom. Dass der Artikel auf allen Medien gut ausschaut und responsiv ist, von der winzigen Watch über Smartphone zum großen Desktop-Bildschirm, ist eine große Herausforderung.

Langfristig wird diese Betonung auf dem Einzelartikel dazu führen, dass seichte und überzeichnete Artikel-Atome viral gehen, während aufwändige und komplexe Reportagen überflogen und weggeklickt werden. Der über Facebook, Twitter und Co. verlinkte Teil des Internets ist heute noch kein Platz für Tiefgründiges. Es zählen kräftige Aussagen in den Überschriften, lockerer und wenig Text, markante Bilder. „The Guardian“ hat das offensichtlich schon früh gemerkt und aus langen Artikeln eine genau so benannte Rubrik gemacht. Deren Titel „The long read“ wird damit gleich zur Warnung an alle, die mit einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne den Artikel anklicken. Und die Artikel der Long Reads gibt es für den besonders angenehmen passiven Konsum auch gleich als vorgelesenen Podcast. Das ist ein riesiger Change: Um ein digital nicht gut funktionierendes Textformat zu erhalten, wird das Medium radikal gewechselt.

Die Zeitungs-Cuvée

Wenn die Einheit einer Zeitung erst mal aufgebrochen ist, wird das passieren, was mit den Medien Film und Audio schon geschehen ist. Es wird Firmen geben, die als Meta-Plattform Artikel vermarkten wollen. Apple hat bereits vor einigen Jahren in den USA damit angefangen: Apple News, quasi als ein iTunes für Zeitungsartikel. Interessante Startups wie newsadoo (übrigens mit Artikeln der taz) stehen in den Startlöchern. Der Leser und die Leserin können sich ihre ganz persönliche Mischung zusammenstellen. Sport aus dem Kicker, Techniknews von heise und Drogentechnokultur von Vice. Das wäre eine große Chance für Zeitungen und Verlage mit klarem Profil, die sich mit qualitativ hochwertigen Artikeln in einem bestimmten Ressort hervortun können. Problematisch ist aber, wenn die neuen Meta-Plattformen zum Gatekeeper werden, überhaupt kein redaktionelles Interesse haben und vom gemachten Umsatz einen ordentlichen Anteil einstreichen.

Nutzt alles was geht!

Selbst bei rein digitalen Medien wie Spiegel Online oder heise.de wird nur ein Bruchteil von dem genutzt, was mit dem Technologiesammelsurium HTML5 möglich wäre. Interaktive Visualisierungen von Rohdaten erlauben, dass der Leser selbst durch die Fakten stöbert und geführt eine eigene Meinung entwickeln kann („Mit Fakten gegen Fake-News-Schreier“). Aber nur ganz selten verirrt sich mal ein interaktives Element in einen Artikel, selbst bei den Redaktionen mit großem Budget. Die Möglichkeiten der Interaktion mit dem Artikel beschränken sich auf das ewiggestrige Kommentarforum, dessen Funktionen seit dem mit phpBB geölten Web des letzten Jahrtausends gleich geblieben sind. Dabei ließen sich einfach parallel auf Twitter oder Mastodon laufende Diskussionen zur Debatte einbauen. Und das nicht nur bei todernsten Themen. Warum nicht eine Instagram-Collage zum passenden Hashtag unter dem Lifestyleartikel zur Mailänder Modewoche? Das alles braucht einen angstbefreiten Umgang mit der DSGVO, motivierte Kuration und kompetente Moderation. Nicht jeden Trollbeitrag will man unter seinem anspruchsvollen Artikel blöken sehen. Die interaktive Debatte muss aber Teil des digitalen Konzeptes sein und bleiben, wie Sascha Lobo in seinem Blog mit Nachdruck fordert („Huch, Agathe, die Leser schreiben!”).

Bilder und Videos können ein ganz neues Gewicht bekommen. Der Papierplatz ist nicht beschränkt, Klickstrecken sind digital nicht nur möglich sondern auch beliebt. Hier zeigen die Technews-Hipster von The Verge eindruchsvoll, was optisch und crossmedial alles möglich ist. Responsiv, klar erkennbare Rubriken und eine gelungene Mischung aus langen tiefgründigen Artikeln und Breaking News. Aber selbst diese digitale Avantgarde liefert in meinen Augen noch zu wenig. Das Web gibt rein technologisch betrachtet mehr her.

Nicht das Ob, nicht das Wann, nur das Wie

Ob die rein digitale Zeitung kommen wird, ist aus meiner Sicht nicht die Frage. Die Frage nach dem Wann hat eine klare Antwort: Jetzt. Es werden heute garantiert mehr digitale als gedruckte Buchstaben gelesen, es gilt also die Transition zu gestalten und den richtigen Zeitpunkt zu finden, wo das nicht-digitale unvermeidbar obsolet ist. Und auf das Wie gilt es noch die richtige Antwort zu finden. Experimentell, mutig und unkonventionell.

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https://blogs.taz.de/digitalkonzentrat/2018/10/01/die-digitale-atomspaltung-der-zeitung/

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