vonmanuelschubert 28.10.2016

Filmanzeiger

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Schwul, alt, allein und hungrig nach Sex – die Seniorengruppe „Prime Timers“ bringt schwule Senioren zusammen und findet für den Begriff „Spieleabend“ eine ganz eigene Entsprechung, wie eine Dokumentation auf dem Pornfilmfestival Berlin 2016 nun zeigt.

Die „Prime Timers“ in New York City muten wie eine gewöhnliche schwule Ausgehgruppe für Senioren an. Doch etwas unterscheidet sie von anderen Zusammenschlüssen dieser Art, von denen es in den USA einige gibt – sie haben (auch) Sex miteinander. Doch zurück zum Anfang: Ein Dezembertag in New York, ein gutes Dutzend Männer kommt in einem großen und lichtdurchfluteten Raum zusammen. Die Stimmung ist fröhlich, Weihnachten ist nicht mehr weit entfernt.

Die Gruppe – allesamt Männer jenseits der 50, einige stützen sich auf ihre Gehstöcke, einer sitz im Rollstuhl. Geschenke werden verteilt, darunter eine kleine aufziehbare Figur in Form eines Bodybuilders, der seinen steifen übergroßen Penis wichst. Gelächter. Die „Prime Timers“ verbringen ihre Freizeit gemeinsan und als Senioren haben sie mehr Freizeit als ihnen manchmal lieb ist. Es geht um das Zusammensein, um Kameradschaft und Geborgenheit, wenigstens für ein paar Stunden in der Woche. Und um gegenseitige Befriedigung – mit „nice and mature Men“.

SEX AND THE SILVER GAYS – die Dokumentation der New Yorker Filmemacher Charles Lum und Todd Verow, welche beide längst zu den Dauergästen des Pornfilmfestivals Berlin gehören, begleitet die Männer am Vorabend ihrer allmonatlichen Gruppensexparty. Bob ‘Woof’ Torres, der Leiter des Vereins, ermahnt alle Anwesenden sich noch in die Anmeldeliste für den nächsten Tag einzutragen. Gruppensex für schwule Senioren muss offenkundig gut geplant sein. Teilnehmen dürfen alle, wie Bob den Filmemachern erklärt. Altersbegrenzungen gäbe es keine, außer vielleicht, dass die Teilnehmer nicht allzu jung sein sollten. Wobei sich die Jüngeren sowieso eher selten blicken ließen.

Wie es war und wie es ist – schwuler Sex

Dafür gibt es nach oben keine Begrenzung: Das älteste Prime-Timer-Mitglied ist 100 Jahre alt. Doch gleichwohl er klassischen Sex nicht mehr haben könne, empfinde er noch viel Freude beim Frottieren, wie Bob ausführt. Charles Lum und Todd Verow entwickeln ihre Dokumentation unaufgeregt, unprätenstiös und frei von Tabus. Ihr Mitteleinsatz ist minimal, Mikrofon, etwas Licht, Kameras, fertig.

Mehr braucht es auch nicht, richtet sich doch so die Konzentration allein auf die Protagonisten und ihre Geschichten. Dass sich die „Prime Timers“ zum Sex treffen, dass Verow und Lum der expliziten Dokumentierung der Sexsession ein gutes Drittel der Laufzeit des Films widmen, geschenkt. Höhepunkt (im nicht-sexuellen Sinne) sind jene Gespräche, die Lum und Verow mit den Männern vor und nach der Sexparty führen. Denn sie legen Zeugnis ab darüber, wie es war und ist, als schwuler Mann aufzuwachsen, zu leben und alt zu werden.

Sie alle haben die AIDS-Krise der 80er und 90er durchlebt und überlebt. Sie sind die letzten Vertreter von Generationen schwuler Männern, die nahezu komplett dem Virus zum Opfer fielen, die sterben mussten, weil sie so leben wollten wie sie es für richtig hielten. Offen und frei ihre Sexualität auslebend, jenseits der Heteronormativität. Todd Verow und Charles Lum räumen dem Aspekt des HIV-Veteranentums in ihrem Film jedoch wenig Raum ein, und das ist ein Glück. Denn wie diese Senioren heute vor der Kamera darlegen, gab es freilich auch ein schwules Leben vor und nach der AIDS-Krise. Schwule Leben, die angefüllt waren, wie es scheint, mit mannigfaltigen Formen von Sex – an unzähligen Orten. Sex in Clubs und Darkrooms, auf Klos, in Saunen, im Park, überall. Schier endlose Geschichte sexueller und damit persönlicher Freiheit, von denen man mit jedem Satz mehr zu erfahren wünscht.

Penetration wird weniger wichtig

Die Gespräche mit den Männern wurden in einer Hotelsuite mitten in Manhattan aufgezeichnet. Sie sitzen nackt vor der Kamera, sich und ihre alten Körper mit all deren Falten, Haaren, Unförmigkeiten und Altersflecken zeigend. Es ist wichtig zu betonen, und Verow/Lum lassen daran in SEX AND THE SILVER GAYS auch keinen Zweifel, dass die Männer sich selber zeigen wie sie es wollen. Sie werden nicht ausgestellt oder vorgeführt. Auch nicht in ihrer immer noch unbändigen Freude am Sex.

Wobei Bob ‘Woof’ Torres einschränkt, dass der Sex im Alter Wandlungen erfährt. Der penetrative Aspekt rücke in den Hintergrund, vielmehr ginge es um sensitives Erleben. Was das bedeutet, auch dies zeigen uns Lum/Verow ungefiltert: Streicheln, Kraulen, Schwänze lutschen, Brustwarzen und Eier bearbeiten, Spanking hier und da für den Arsch. Die Männer ergeben sich einem mannigfaltigen Durcheinander von Körpern und Reizen. Jeder mit jedem, jeder so wie er es mag und (noch) kann.

Wessen Körper nicht mehr viel kann, weil ihn Prostatakrebs und das Alter der Libido beraubt haben, der erfreut sich daran, dem Geschehen als Zuschauer beizuwohnen und ab und zu einen Penis zu schmecken. Diese Treffen seien Schmerzmittel und Antidepressivum zugleich, gibt einer der Männer der Kamera zu Protokoll. Man kann nicht anders, als ihm und seinem verschmitzen Lächeln zu glauben.

Der Körperkult der jungen Schwulen? Er spielt für diese Männer keinerlei Rolle mehr. Dafür haben sie noch einen Rat an die Jungend übrig: „Seid ihrselbst, schaut nicht soviel auf eure Smartphones – und genießt das Leben.“ Wie das geht, die „Prime Timers“ führen es allmonatlich vor. Und man kann Charles Lum und Todd Verow kaum dankbar genug dafür sein, dass sie uns diese wunderbaren alten Herren vorgestellt haben.

SEX AND THE SILVER GAYS | USA 2016 | 71 Minuten | digital | Dokumentarfilm | Charles Lum & Todd Verow


(c) Titelbild: Pornfilmfestival Berlin/Bangor Films/Club Lum

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