vonfini 21.07.2020

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Praktische Anregungen für den Lost Boy

Um sich anzunähern, um zu schlichten, um aus dem patriarchalen Gruselkabinett auszubrechen und der hegemonialen Männlichkeit doch noch von der Schippe zu springen, folgend ein paar Anregungen für den Lost Boy:

1. Demut:
Du bist vermutlich genauso wenig absolut einzigartig und grandios, wie wir anderen um Dich herum. Weder in Deinem Erfolg noch in Deinem Leiden und Versagen. Du bist durchschnittlich befähigt, durchschnittlich geschädigt und darin liebenswert, sonst hättest Du nicht diese Frau an Deiner Seite, die alles für Dich tun würde. Solange Du diesen Text lesen konntest und insofern in irgendeiner Weise Mitglied einer westlichen Gesellschaft bist, kann dein Leiden außerdem so tödlich nicht sein. Du brauchst also weder dauerhaft und immer tiefer in Deinem Selbstmitleid versinken noch derweil davon träumen, ob Du nicht vielleicht doch der nächste Kurt Cobain bist. Wenn Du über 27 bist, ist der Zug ohnehin schon abgefahren.

2. Verantwortung:
Das mit dem Selbstmitleid ist temporär richtig und wichtig, aber irgendwann könntest Du verstehen, dass Dein Leben leider sonst niemandem gehört und deswegen auch keiner außer Dir selbst, die Verantwortung darüber hat. Es wird keine Prinzessin auf einem weißen Pferd kommen und Dich retten. Sie kann Dich nicht reparieren und auch nicht für immer das Hurra in Dein Gesicht sein. Die Basis für Dein Leben kannst Du nur selbst legen, denn ab Mitte 20 kannst Du auch nicht mehr Deine Eltern dafür verantwortlich machen. Schließlich bist inzwischen Du der Autor Deiner Handlungen und sicherlich auch in der Lage, Dir professionelle Hilfe zu holen.

3. Leichtigkeit:
Das Hurra in Demut ist aber genau die Haltung, die Dir eine gewisse Distanz zu Deinem Leiden und Deiner Motivationslosigkeit verschafft. Denn so arg ist es nicht und Du bist auf jeden Fall in der Lage, Deine Situation zu gestalten. Und sei es mit einem üppigen Frühstück, einem Spaziergang in der Sonne, der Umarmung eines Freunds, einer durchtanzten Nacht oder was auch immer Dir Freude bereitet. Das ist (jederzeit) möglich und da. Es ist unser Privileg, dass wir Leichtigkeit (er-)leben können. Dieses Privileg geht nicht auf Menschen über, die es nicht haben, wenn Du es nicht nutzt. Du nutzt es nur einfach nicht und absorbierst stattdessen die Leichtigkeit Deiner Umgebung. Du kannst entweder weiter fallen oder fliegen lernen, so wie es die Frau an Deiner Seite vermutlich auch getan hat.

4. Feminismus:
Das mit dem Feminismus hat nicht nur was mit der Emanzipation der Frau sondern genauso mit der Emanzipation des Mannes zu tun. Denn auch als Mann musst Du den Geschlechtervorgaben nicht gehorchen und kannst Dich selbst als Mann definieren. Setze Dich mit Deiner eigenen Männlichkeit auseinander, sprich mich anderen Männern über ihren Umgang mit Emotionen, sozialem Druck und familiären Anforderungen. Und ganz grundlegend: Versuche Dich selbst und deine Partnerin in erster Linie als Menschen wahrzunehmen.

Was Wendy tun kann

Und für die Partnerin? Hit the road, solange es noch geht. Ernsthaft. Du kannst ihn nicht retten und wirst mit jedem Tag tiefer verletzt. Eine gleichwertige Partnerschaft, gemeinsam fliegen und eine selbstbestimmte Rolle wirst Du mit einem Lost Boy an Deiner Seite nicht finden. Du bist und bleibst seine Angestellte und diesen gesellschaftlichen Dienst solltest Du verweigern. Wenn das nicht mehr geht (womöglich weil Du ein Kind mit dem Lost Boy hast), wurden mir folgende Strategien geschildert, die das Leiden lindern können:

1. Distanz:
Sichere Deine Felle, sonst treiben sie irgendwann doch noch weg. Hände weg von gemeinsamen Konten, Eigentum oder ähnlichem. Distanziere Dich außerdem emotional von seinem Leid, denn es hat nichts mit Dir zu tun. Du kannst ihn weder heilen, noch machst Du es gravierend schlimmer. Es ist eigentlich egal, was Du tust, also bleib bei Dir. Ob hier überhaupt von einer Partnerschaft im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann, ist ohnehin fraglich.

2. Sexualität:
Machen wir uns nichts vor, eine erfüllende Sexualität ist doch immer noch eine recht solide Verbindung zwischen Menschen. Genieße sie also! Differenziere sie aus, entdecke neue Welten, entdecke gemeinsam mit ihm verborgene Pfade und erfreue Dich an seiner Sinnlichkeit. Mach’ sozusagen den Lost Boy zum Fuck Boy.
Falls sich die Lostheit Deines Boys allerdings auch auf Euren Sex ausweitet oder Dich anhaltend nervt, entdecke Sexualität als Deinen eigenen Lost Place. Anders als Drogenkonsum führt Sexpositivismus eher selten zu dauerhaften Schäden, ermöglicht aber ebenso atemberaubende Körpergefühle und ein völliges Vergessen der Realität mit all ihrer Hässlichkeit.

3. Selbstwirksamkeit:
Du kannst Deinen Lost Boy nicht retten und das ist auch nicht Deine Aufgabe. Genau wie bei ihm, bezieht sich auch Deine Verantwortung primär auf Dein eigenes Leben. Lass ihn fallen, lass ihn scheitern, lass ihn aufstehen und weiterlaufen. In seinem Tempo, in seine Richtung und sieh zu, dass Du nebenher ein paar schöne Zeiten mit ihm verbringst. Sei Dir nur im Klaren darüber, dass Du die organisieren musst und plane entsprechende Alternativen ein, falls „was dazwischen kommt“. Prüfe außerdem, ob das, was der Lost Boy an Grandiosität verspricht, das ist, was Du leben möchtest und prüfe im Weiteren, ob es in irgendeiner möglichen Welt realistisch ist. Eine Frage, die sich Dir hier stellen wird: Warum gestehst Du Dir selbst diese Grandiosität eigentlich nicht zu? Warum muss Dein Boy sie erfüllen? Womöglich entdeckst Du ähnlich großartige Facetten an Dir, die Du bisher nicht eigenständig ins Zentrum gerückt, sondern immer als Add-On jemand anderem zur Verfügung gestellt hast. Fordere die Gesellschaft und ihren strukturellen Sexismus heraus, indem Du Sichtbarkeit für Dich und Deine Großartigkeit erstreitest.

Fortsetzung von:
Das Lost Boy Syndrom I – Wendy says: My boy is lost.
Das Lost Boy Syndrom II – Der Lost Boy und das Patriarchat
Das Lost Boy Syndrom IV – Wendys Lyrik

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