vonAline Lüllmann 10.06.2010

taz Hausblog

Wie tickt die taz? Das Blog aus der und über die taz mit Innenansichten, Kontroversen und aktuellen Entwicklungen.

Mehr über diesen Blog

Am Dienstagabend habe ich im taz-Café eine Veranstaltung moderiert, bei der es auch um die Frage ging, ob die Medien ihre Funktion als vierte Gewalt einbüßen. Zur Vorbereitung habe ich mir meine persönliche Vierte-Gewalt-Bilanz angeschaut: Als Redakteur in der Berlin-Redaktion der taz schreibe ich über die Landespolitik – aber in welchem Umfang ist es mir eigentlich gelungen, die Regierung kritisch zu begleiten, sie gut zu analysieren und auf Missstände hinzuweisen?

Im Laufe des vergangenen Jahres habe ich in der taz 263 Artikel geschrieben, und die Bilanz ist durchwachsen. Zunächst habe ich gezählt, in wie vielen Artikeln ich über Sachverhalte von öffentlichem Interesse berichten konnte, die vorher noch nicht öffentlich bekannt waren und die ohne meine Recherche auch nicht ans Tageslicht gekommen wären. Das waren fünf Artikel. In den restlichen 258 Artikeln habe ich über Sachverhalte geschrieben, die bereits bekannt waren – in der Regel deshalb, weil sie von den Pressestellen der Parteien, der Regierung, von Unternehmen oder Verbänden veröffentlicht wurden oder weil andere Medien sie veröffentlicht haben.

Diese 258 Artikel kann man wiederrum grob in zwei Gruppen aufteilen. Die sind einmal die Artikel zu den Themen, bei denen ich mich ganz ordentlich bis sehr gut auskenne, bei denen ich also die jeweilige Nachricht einordnen, analysieren und kommentieren konnte – auch das sind ja alles Funktionen, die zur vierten Gewalt gehören. In diese Gruppe gehören etwa zwei Drittel meiner Artikel.

Bei dem anderen Drittel meiner Artikel habe ich über ein mir bis dahin unbekanntes Thema geschrieben. Für die Recherche blieb wenig Zeit – es reichte gerade, um zwischen der Redaktionskonferenz am Vormittag und dem Redaktionsschluss am späten Nachmittag ein paar Anrufe bei den üblichen Verdächtigen zu tätigen (also bei den Pressestellen von Parteien, der Regierung, von Unternehmen und Verbänden). Für alle diese Artikel gelten natürlich auch die journalistischen Standards in dem Sinne, dass alles, was da drin steht, auch stimmen sollte. Ich lege den Pressesprechern also keine Positionen in den Mund, die sie mir gegenüber gar nicht vertreten haben. Aber dennoch frage ich mich abends auf dem Weg nach Hause nach solchen Texten häufiger: Sagen diese Artikel eigentlich wirklich etwas über die reale Realität da draußen aus? Oder beschreiben sie eigentlich nur, mit welchen Zitaten die üblichen Verdächtigen aus Politik, Wirtschaft und Verbänden gerne in der Zeitung auftauchen wollen? Bestenfalls komme ich mit diesen Artikeln der Chronistenpflicht nach, aber irgendwelche Kontrollfunktionen übe ich damit nun wirklich nicht aus.

Aber was waren denn nun meine persönlichen fünf größten Tops und Flops des Jahres? Hier die Übersicht:

Die Tops

5. Januar: Nachdem eine Lieferung mit sensiblen Kreditkartenabrechnungen bei der Frankfurter Rundschau gelandet ist (“Christstollen-Affäre”), wird über die Sicherheit von Postdienstleistern diskutiert. Ich finde über eine Suche in der Datenbank mit den europaweiten Ausschreibungen heraus, wie das Land Berlin seine Behördenpost zustellt: Mit der Menütaxi GmbH, die ansonsten vor allem Essen auf Rädern liefert und hauptsächlich 400-Euro-Kräfte beschäftigt.

15. Januar: Das Abgeordnetenhaus hatte im Vorjahr beschlossen, dass der Senat bei europaweiten Ausschreibungen auch ökologische Zuschlagskritierien vorgeben und diese mit einer Gewichtung von einem Drittel berücksichtigen soll. Ich überprüfe die 109 Ausschreibungen, die die Senatsverwaltungen seit der Gültigkeit des Beschlusses veröffentlicht haben und komme zu dem Ergebnis: Der Senat hat sich in keinem einzigen Fall daran gehalten (siehe auch Übersicht aller Ausschreibungen als xls-Datei). Der Senat rechtfertigt das später damit, dass Beschlüsse des Abgeordnetenhauses (anders als Gesetze) nicht bindend sind. Finanzsenator Thilo Sarrazin allerdings setzt den Beschluss beim Stromeinkauf für die öffentliche Verwaltung erstmals um, als Ergebnis erhält Ökostrom den Zuschlag.

15. April: Seit Anfang des Jahres hat jeder Wohnungssuchende das Recht, vom Vermieter Einblick in den Energieausweis zu erhalten. Mit einer Kollegin begebe ich mich auf verdeckte Recherche: Wir besichtigen Wohnungen der sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften und geben uns dabei als normale Mietinteressenten aus. Das Ergebnis: Nur einmal läuft alles so, wie es sollte. Der krasseste Fall ist dabei die Gewobag, die Mietinteressenten grundsätzlich keine Kopie des Ausweises aushändigt. Später schreibe ich darüber, dass die Senatsverwaltung für Finanzen dies auch nicht ändern will. Daraufhin setzten sich SPD und Linke für eine Pflicht zur Aushändigung einer Ausweiskopie ein.

5. Juni: Ich finde heraus, dass der rot-rote Senat als Teil seiner Wirtschaftsförderung neu angesiedelten Callcentern die Suche nach ihren Mitarbeitern bezahlt – und zwar auch dann, wenn die Mitarbeiter nur sechs Euro pro Stunde verdienen. Dabei setzt der Senat sich sonst für einen Mindestlohn von 7,50 Euro ein. Später sagt Wirtschaftssenator Harald Wolf in einem Interview mit uns, er habe selbst erst durch meine Recherche davon erfahren und die Konsequenzen daraus gezogen: “Das habe ich geändert. Auch für die Callcenter gilt, dass die Lohnsumme 25.000 Euro betragen muss” (knapp 10 Euro Stundenlohn).

17. Dezember: Bundeskanzlerin Angela Merkel bezieht für das Bundeskanzleramt Strom, der überdurchschnittlich viel CO2 verursacht. Dabei hatte sie die Wahl, welchen Strom sie einkauft – andere Kabinettsmitglieder beziehen reinen Ökostrom. Die Information war besonders schwierig zu recherchieren, weil die zuständigen Stellen sie zunächst nicht herausgeben wollten. Erst nach einer Klage vor dem Verwaltungsgericht zur Durchsetzung des Anspruchs auf Auskunftserteilung gemäß Landespressegesetz erhielt ich die Informationen. Die Recherche dauerte von der ersten Anfrage bis zur Veröffentlichung sieben Monate (siehe auch den Schriftverkehr als PDF.)

Die Flops

20. Januar: Der Bund für Umwelt und Naturschutz hatte zur Pressekonferenz geladen und dort von seinen Befürchtungen erzählt: Vattenfall wolle in Berlin ein neues Kohlekraftwerk bauen, das 400 Megawatt Strom und 1.000 Megawatt Fernwärme liefert. In meinem Artikel gebe ich die Befürchtungen des BUND eins zu eins wieder, inklusive den Zitaten von BUND-Mitarbeitern, in denen diese wahrsagen, Vattenfall werde “sicherlich noch eine Reihe von flankierenden Ökoprojekten vorstellen”, um das Projekt grün anzustreichen. Im Vergleich zu den Gesamtkosten für das Projekt werde “aber nur ein Bruchteil des Geldes in solche Ökoinvestitionen gehen”. Die Angaben des BUND hinterfrage ich in meinem Text nicht. Am Ende kommt alles ganz anders: Vattenfall setzt auf die umweltfreundlichen Energieträger Erdgas und Biomasse.

4. April: In der taz erscheint ein Text unserer freien Mitarbeiterin Lisa Rank über die Blogger-Konferenz Republica. Ich war am Vortag Chef vom Dienst in der Berlin-Redaktion und hatte ihren Text stark überarbeitet – zu stark. Lisa Rank beschwert sich in ihrem Blog: “Hab ich so nicht geschrieben und vor allen Dingen nicht gemeint. Der Nachholbedarf in diesem Bereich ist indiskutabel, diese Zeile wurde so von mir nicht verfasst.” In einem Kommentar zu ihrem Blog-Eintrag erläutere ich die Abläufe in der taz und die Notwendigkeit des Redigierens, dessen Grenzen ich hier überschritten hatte: “Es war nicht meine Absicht, Lisa dort eine Meinung reinzuschreiben, die nicht ihre ist. Ich habe mich daher bei ihr bereits entschuldigt.”

30. Juli: Der Sponsoringbericht des Berliner Senats erscheint und ich behaupte in meinem Artikel, der Bericht enthalte einen gravierenden Fehler. Tatsächlich ist der Bericht korrekt. Ich hatte schlicht nicht gut genug aufgepasst und bei der Recherche einige Jahreszahlen durcheinandergebracht.

18. November: Der Senat will die Spielbankabgabe deutlich senken, um die unter Umsatzrückgang leidende Branche zu retten. Mein Kommentar zu dem Thema zeigt, dass ich den Vorgang gründlich missverstanden habe: Ich gehe davon aus, dass die Spielbanken durch eine Senkung der Abgabe ihre Spielangebote attraktiver machen können, dadurch mehr Spielsüchtige anlocken und so wieder mehr Umsatz machen. Tatsächlich bleiben die Gewinnquoten in den Spielbanken aber gleich. Der Schritt des Senats bedeutet lediglich, dass von dem gesunkenen Umsatz ein höherer Teil als Gewinn bei den Spielbanken hängen bleibt.

Ganzjährig: Noch gravierender als die Fehler in meinen Texten finde ich eigentlich die Fehler bei der Themenauswahl. Mir sind eine ganze Menge Themen entgangen, die eigentlich relevant gewesen wären. Etwa die Situation bei der S-Bahn. Seit Jahren lief der Betriebsratsvorsitzende des Unternehmens durch die Stadt und erzählte allen, welche schlimmen Folgen der Sparkurs der Bahn eines Tages haben werde. Nur gehört hat kaum jemand auf ihn. Ich dachte mir, dass das eben die interessengeleiteten Klagen eines Betriebsrates sind, der sich selbstverständlich gegen Personalabbau einsetzt, und bin daher der Sache nicht weiter nachgegangen. Erst als das Eisenbahnbundesamt im Juni den Großteil der S-Bahn-Flotte stilllegte, habe ich damit begonnen, mich um das Thema zu kümmern – als es also schon zu spät war. Dieses Thema wird auch ein Beispiel sein, wenn ich am 9. Juli auf dem Jahrestreffen des Netzwerk Recherche in Hamburg eine Veranstaltung mit dem Titel “Was Journalisten durch die Lappen geht: S-Bahn-Chaos und Alpe Adria” moderiere. Auf dem Podium: Hans Leyendecker (Süddeutsche Zeitung), Peter Neumann (Berliner Zeitung), Rolf Holub (Grüne Kärnten) und Heiner Wegner (Betriebsrat S-Bahn Berlin).


Flattr this

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/hausblog/meine_vierte-gewalt-bilanz/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Wirklich außerordentlich! Ich finde besonders gut, dass du das Ganze öffentlich machst. Weil so etwas meist nur intern in der Redaktion stattfindet, oder maximal auf einer Konferenz, wo es eventuell später auch andere mitkriegen.
    Ich behalte das mit der Jahresbilanz für mich auf jeden Fall im Kopf.

  • Kritik an der Arbeit von Kolleginnen und Kollegen ist unter Journalisten (bin ich auch) verbreitet, selbstkritische Reflektion selten. Man geht aber nicht durch ein Arbeitsleben, ohne Fehler zu machen. Dass Sie das so offen darstellen, ist schon ein weiterer Punkt für Ihre TOP-5-Liste. WL

  • Respekt, Herr Heiser! Ihre Ehrlichkeit hat mich sehr beeindruckt. Auch weil viele Ihrer Kollegen bei den sogenannten Alphamedien der Meinung sind, dass sie einen journalistischen Heiligenschein besitzen.

  • Hut ab! Die Fähigkeit zur Selbstreflektion vermisse ich bei vielen Ihrer Kolleginnen und Kollegen.
    Ich mache mir zur Zeit viele Gedanken zur Presse als “vierte Gewalt” und habe die Hoffnung schon fast aufgegeben. Ein Fünkchen Hoffnung war Ihr Artikel allemal, hoffentlich der Anfang einer großen Erleuchtung.
    Vielleicht sollten solche Artikel Pflicht werden?! Schöner wäre es natürlich, wenn das auf freiwilliger Basis käme.

    Danke!

  • ich schließe mich meinem vorredner an und fordere den flattr knopf. so ein selbstkritischer jahresabschlussrückblick sollte zur journalisstischen pflicht werden.

  • Bei dem ganzen Gequengel und Geknatsche über Qualitätsjournalismus ist Dein Beitrag richtig erholsam. Ich geh jetzt mal in ein dunkles Zimmer und packe an meine eigenen Nase …

  • Fazit ist doch nur: Ein Redakteur ist auch nur ein Mitarbeiter. Gut, das mag damit zusammenhängen, dass ich ein, zwei „große Persönlichkeiten“ auch privat kennen lernen durfte, und das meinen Blick auf verschiedene Dinge geändert hat.

    Letztendlich machen wir alle nur unsere Arbeit. Da kommt man nicht umhin, auch mal Dinge zu tun, die einem weniger interessant erscheinen, oder mit denen man sich so direkt vorher nicht beschäftigt hat, oder die man eigentlich nur deshalb tut, weil der Brötchenbezahler es von einem verlangt.

    Und dann bekommt man auch mal die Gelegenheit, Dinge zu tun, die einem liegen, und wo einem die Arbeit mehr Spaß macht, als bei anderen Dingen, die man eben tut, weil man sie tun muss.

    Das ist bei „öffentlichkeitswirksamen“ Berufen nicht anders, als bei Berufen, bei denen die Arbeitsergebnisse nicht in der Öffentlichkeit stehen.

  • Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war “Jounalist” ein Ehrentitel, den grosse Männer wie Tucholsky oder Krauss mit Stolz trugen. Heute gibt es von vergangenem Glanz nur noch einen Schimmer mühsam zusammen gehaltenen Ehrgefühls allenthalben. Und dann kommen Sie daher und schreiben vollkommen nüchtern und selbstverständlich Ungeheures: Selbskritik! Und es gibt keinen Sockel auf den man Sie stellen könnte – und wenn es ihn gäbe, würden Sie sich nicht draufstellen lassen. Dank. Schlichter Dank.

  • Sehr sehr guter Beitrag, Herr Heiser. Ich finde, dafür haben Sie jede Menge Respekt und Hochachtung verdient. Im Gegensatz zu vielen Ihrer KollegInnen können Sie Ihre Arbeit offenbar selbst kritisch durchleuchten, sowohl im Positiven als auch im Negativen.
    Es geschieht wahrlich nicht oft, dass jemand – unabhängig vom ausgeübten Beruf – über die menschliche Größe verfügt, sich selbst und anderen gegenüber die eigenen Fehler einzugestehen.
    Ich glaube, Ihre Haltung ist eine großartige und wohlmöglich die wichtigste Voraussetzung für wirklichen Qualitätsjournalismus.
    Danke.

Schreibe einen Kommentar zu Heil, Bruno Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert