von 19.09.2011

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Elke Schmitter war von 1992 bis 1994 taz-Chefredakteurin. Foto: Anja Weber
Elke Schmitter war von 1992 bis 1994 taz-Chefredakteurin. Foto: Anja Weber
Rede von Elke Schmitter zur Verleihung des taz Panter Preises

Liebe Freundinnen und Freunde des Panter Preises und der taz,

in dem neuen, in vielfacher Hinsicht wunderbaren Film von Aki Kaurismäki helfen zwei Schuhputzer, eine Gemüsehändlerin, eine Gastwirtin, ein Polizist und ein paar Personen mehr in der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre einem illegalen Flüchtlingskind aus Afrika, nach London zu seiner Mutter zu gelangen. Niemand erklärt, warum er das tut, auch Kaurismäki erklärt das nicht. Er zeigt es nur.

Die Frage, wie weit die Menschenliebe reichen kann, wird im Westen seit gut zweihundertfünfzig Jahren intensiv diskutiert. Man kann zwei Haltungen unterscheiden: eine eher pessimistische, die für sich in Anspruch nimmt, realistisch zu sein – und eine eher idealistische, die dasselbe von sich behauptet. Für beide stehen, am Anfang der Diskussion, zwei weise und weiße Männer.

Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau, dessen Name sprichwörtlich geworden ist für die Verehrung des Natürlichen und das Mißtrauen gegen die Zivilisation – wir würden heute „Entfremdung” dazu sagen – , Jean-Jacques Rousseau war der Ansicht, so etwas wie Empathie, Mitleid und Einfühlungsvermögen sei natürlicherweise auf den engen Kreis der Lebewesen beschränkt, mit denen wir Umgang haben.

„Allem Anschein nach”, schrieb er 1755, „verdampft das Gefühl der Menschlichkeit und wird schwächer, indem es sich über die Erde ausdehnt, und es ist uns nicht gegeben, von den Unglücksfällen bei den Tataren oder in Japan ebenso berührt zu werden wie von dem, was einem europäischen Volk zustößt.” Solidarität mit den Opfern von Fukushima würde Rousseau vermutlich als eine verbrämte Form von Eigennutz analysieren – eine Art Abwehrzauber gegen ein Unglück, das auch uns treffen kann.

Unsere steinerne Politik den Flüchtlingen gegenüber, die nach Europa wollen, gibt seiner pessimistischen Haltung recht. Die schönsten Grundrechtserklärungen nützen nichts, wenn das Meer und eine Innenministerkonferenz dagegen sind. Wir wehren das Unglück von Fremden ab, weil es uns gleichgültig ist.

Die Trägheit des Herzens wird nur überwunden, wenn wir mit den Menschen verbunden sind, denen ein Unglück geschieht. Am Schlimmsten aber sind die Phrasendrescher, die von der allgemeinen Menschenliebe faseln, um ihren Egoismus zu überspielen.

„Mißtraut jenen Kosmopoliten” warnte Rousseau vor diesen Typen, „Mißtraut jenen Kosmopoliten, die in der Ferne in ihren Büchern Pflichten suchen, die in ihrer Nähe zu erfüllen sie nicht bereit sind. Ein Philosoph liebt die Tataren, um davon entbunden zu sein, seinen Nachbarn zu lieben.”

Preisverleihung im Deutschen Theater Berlin. Foto: Rolf Zöllner
Preisverleihung im Deutschen Theater Berlin. Foto: Rolf Zöllner
Im selben Jahr, da Rousseau das schrieb, am 1. November 1755, wurde Lissabon von einem Erdbeben heimgesucht, das zwölftausend Gebäude, darunter fast alle Kirchen, zerstörte und bei dem mehr als 10.000 Menschen starben. Für Rousseaus Antipoden Voltaire war dieses Unglück nicht nur ein willkommener Anlass, die Religion zu verspotten, nach deren Dogma der liebe Gott die Welt angeblich doch auf´s Beste eingerichtet hat. Sondern auch zu kritisieren, dass die Herzen der Menschen träge sind.

„Lisbonne est abimée, et l´on danse à Paris” – Lissabon liegt in Trümmern, und in Paris wird getanzt. Voltaire war allerdings nicht der Ansicht Rousseaus, das der Mensch im Grunde ein Privat-Tier ist, das nicht gestört werden möchte. Er und seine Kollegen von der Aufklärungsfront waren davon überzeugt, dass man sich mit der Trägheit des Herzens nicht zufriedengeben darf.

Es galt zum Einen, die Zeitgenossen zu erschüttern – durch Augenzeugenberichte, durch Reportagen, durch Literatur. Zum anderen aber galt es, mit dem Verstand nachzuhelfen, wo das Mitgefühl hinkt. Man muss andere, solidere Häuser bauen. Man muss den Ärzten erlauben, Leichen zu öffnen, damit die Medizin sich entwickeln kann. Man muss die Wissenschaften fördern, um die Welt besser zu verstehen. Und man muss die Verfasstheit des Menschen erforschen, um zu begreifen, wie man Anteilnahme, Solidarität und Friedfertigkeit in ihm wachhalten kann.

Gegen Blitz und Donner kann man nichts tun, aber die Bedingungen menschlichen Lebens, die kann man verbessern. „Ich beklage die Portugiesen”, schrieb Voltaire sechs Wochen nach diesem Unglück, „Ich beklage die Portugiesen, aber die Menschen auf ihrem kleinen Ameisenhaufen tun sich noch viel mehr Übles an. Unsere Kriege erwürgen mehr Menschen, als die Erdbeben verschlingen. Wenn man in dieser Welt nur das Abenteuer von Lissabon zu fürchten hätte, würde man sich einigermaßen wohlfühlen.”

Der jetzige Forschungsstand gibt Voltaire mehr Recht als Rousseau. Wir werden mit Spiegelneuronen geboren, die uns von Anfang an zur Empathie befähigen. Mehr noch: wir lernen durch Empathie, durch Nachahmung und Beobachtung, alles, was wir brauchen. Wir könnten keinen Schritt auf unseren zwei Beinen gehen, wir könnten nicht sprechen, nicht denken und fühlen, wenn wir nicht empathische Wesen wären.

Das Foto eines geschlagenen Kämpfers, eines weinenden Kindes, einer verzweifelten Frau löst in uns Anteilnahme aus, weil wir diese Gefühle kennen und weil es Menschen sind wie wir. Menschheitsliebe ist keine Spinnerei, sondern die Bedingung unseres Seins.

Trotzdem liegt Rousseau natürlich nicht falsch. Eine trockene Zeitungsmeldung von einer Überschwemmung am Amazonas beschäftigt uns weniger als der Wasserrohrbruch zuhause. Gegen diese natürliche Disposition, die unsere Aufmerksamkeit auf die Probleme lenkt, die wir lösen können, von denen wir betroffen und für die wir zuständig sind, gegen diese natürliche Disposition arbeiten die Medien aus guten wie weniger guten Motiven jeden Tag an.

Das Bild einer unterernährten Familie direkt auf unserem Frühstückstisch soll die Distanz überwinden, die zwischen uns und Somalia liegt. Wenn wir zuviele Bilder dieser Art sehen, lesen wir keine Zeitung mehr. Die Bewirtschaftung unseres Mitgefühls hat ihre Grenzen da, wo das Mitgefühl mit dem Gefühl der Ohnmacht zusammenkommt.

Der Panter Preis der taz Stiftung, der heute zum 7. Mal vergeben wird, geht gegen dieses Dilemma auf seine Art an. Er zeichnet Menschen aus, die von der Welt berührbar geblieben sind, und die etwas für ihre Verbesserung tun.

Der Panter Preis würde Rousseau gefallen, weil es im symbolischen Sinne um unsere Nachbarn geht – um Menschen, deren Bedürfnisse die Kandidaten des Panter Preises so persönlich berührt haben, dass sie sich für sie einsetzen. Ob das alleinerziehende Frauen in Eritrea sind, die mithilfe eines Esels nun einem Beruf nachgehen können, oder Kinder aus bildungsfernen Familien in Dresden, denen man bei ihren Schulaufgaben hilft – die KandidatInnen des taz Panter Preises engagieren sich, wo sie als Person Anteil nehmen.

Und der Panter Preis würde Voltaire gefallen, weil er in einem Zusammenhang steht, der seit 250 Jahren den Pessimismus und die politische Trägheit des Herzens bekämpft: Es ist immer die Linke gewesen, die Mitgefühl und Empörung als zwei Seiten derselben Medaille erkennt, und die jede Art tätiger Hilfe nicht als Almosen begreift, sondern als solidarisches Tun. Wie Kaurismäki auch.

Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung der Tageszeitung taz, ihrer Genossenschaft und der taz Panter Stiftung und wünsche Ihnen ein fröhliches Herz bei diesem Abend.

Schmitter ist Mitglied im Stiftungskuratorium der taz Panter Stiftung. Sie war von 1992 bis 1994 Chefredakteurin der taz und ist heute Redakteurin beim Spiegel.

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