vonHelmut Höge 27.07.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Die hier wiederholt “Hausmeisterprosa” genannten Aushänge in der taz stammen nicht nur vom Hausmeister, die meisten haben sich Redakteure ausgedacht. Auch muß gesagt werden, dass sie immer weniger werden: Früher wimmelte es geradezu von Schildern, die eine hierarchische  und  verantwortliche  Organisationsstruktur  ersetzten. Das reichte von Zetteln an Blumentöpfen “Nur ganz wenig gießen” bis zu Kantinen-Aufrufen wie “Wer sein Geschir nicht abräumt, kriegt demnächst nichts mehr zu essen!” Darüberhinaus gab es noch – meist vor taz-Vollversammlungen – ein gedrucktes hausinternes Diskussionsforum namens “P 3” (in Anspielung an die italienische Gehimloge “P 2”) sowie dann in der Kochstraße die Fahrstuhlzeitung: Das waren Flugblätter und schriftliche Meinungsäußerungen, die man im Fahrstuhl an die  Wände klebte. Beides hat in gewisser Weise das  taz-interne Intranet ersetzt, auch wenn es dort zumeist nur noch um  so kleine praktische Dinge wie Fahrradluftpumpe, Gerätebatterien, Essensmarken etc. geht. Diese “Entpolitisierung” wird dort gelegentlich noch kritisiert.
Anderswo ist sie dagegen das A und O der Kommunikation.  Die staatliche Lebensmittelüberwachung in England veröffentlichte unlängst eine “Anleitung zum Händewaschen”, nachdem eine ihrer Untersuchungen ergeben hatte, dass eine satte Mehrheit der Beschäftigten in Catering-Firmen – also das Küchenpersonal in mobilen und stationären Kantinen – sich ihre Hände nicht ausreichend oder gar nicht oder nicht oft genug wäscht: “Schritt 1 – Benässe Deine Hände gründlich unter laufendem warmen Wasser und spritze etwas Flüssigseife in die Innenfläche einer Hand. Schritt 2 – Reibe beide Hände aneinander, so daß Schaum entsteht. Schritt 3 – Reibe die Innenseite einer Hand gegen den Rücken der anderen und die Finger. Wiederhole den Vorgang mit der anderen Hand. Schritt 4 – Reibe zwischen den Fingern beider Hände und rund um die Daumen. Schritt 5 – Wasche die Seife mit sauberem Wasser ab. Schritt 6 – Trockne Deine Hände gründlich ab”. (Quelle: Mail on Sunday)

Was hat es mit diesem Schwachsinn auf sich? Schon vor Margret Thatcher und ihrer neoliberalen Durchforstung der ganzen Gesellschaft war das englische Bildungssystem zum großen Teil privatisiert, d.h. das miese staatliche Schulwesen war für die Armen da und das gute private für die Reichen. Dies hatte zur Folge, dass man dort meinte, die Arbeiterklasse und generell alle Unterprivilegierten ihr Leben lang öffentlich schulen zu müssen – dergestalt, dass überall und an den unmöglichsten Orten pädagogische Schilder angebracht werden: “An der Theke nicht rauchen!” “Nicht spucken!” “Hier nicht rumstehen!” “Der letzte Drink wird um 23 Uhr ausgeschenkt!” “Nach dem Pinkeln das Ziehen nicht vergessen!”  “Hier warten und anstellen!” “Hier keine Gläser abstellen!” “Bitte nicht laut reden!” “Bleibe höflich!” usw..

Ständig stieß man früher in englischen Parkanlagen und auf öffentlichen sowie halböffentlichen Plätzen auf solche Schilder – und seitdem haben sie sich wie die Wanzen vermehrt. Man bekommt als Ausländer schnell das Gefühl, in eine Gesellschaft von Debilen und Asozialen geraten zu sein und wundert sich, dass  Leute, die solche Hinweisschilder brauchen bzw. tolerieren, überhaupt lesen können. Je mehr man sich jedoch den besseren Kreisen nähert – in Clubs, vornehmen Läden und Hotels – desto  weniger Schilder gibt es.

Und nicht nur das: als Reicher darf man anscheinend alles. Im vornehmen “Kensington Hilton” sah ich, wie ein kleiner reicher Chinese das Empfanspersonal so lange und aufs gröbste beschimpfte, bis er sein “King Size Bed” nicht erst am nächsten Tag, sondern sofort bekam. Man kann dort das Dienstpersonal als Reicher sogar anspucken oder bepinkeln, vorausgesetzt man hat genug Geld, um dafür zu zahlen. Wir haben es hier inzwischen mit einer echten Schweinegesellschaft zu tun.

Das Schweinöse an der  Händewasch-Anleitung ist natürlich die damit einhergehende Unterstellung, dass die im Cateringbusiness Beschäftigten nicht aus Wut über die miesen Arbeitsbedingungen mit dreckigen Händen arbeiten (wie es z.B. eine US-Case-Study über “Sabotage” speziell in der Gastronomie schon 1990 bewies), sondern dass das Küchenpersonal schlicht zu blöd ist, um zu wissen, wie man sich die Hände wäscht. Man hält diese Leute also für Untermenschen. So wie es auch die US-Schulungsfilme über die einst den Nazis abgekuckten vietnamesischen Wehrdörfer nahelegten (sie wurden übrigens von John Wayne moderiert): In diesen Machwerken brachten schwarze GIs den Vietnamesen z.B. bei, wie man sich mit Wasser und Seife wäscht! Damals habe ich noch über diese Ignoranz der ebenso rohen wie dummen Ami-Eliten gegenüber dem uralten vietnamesischen Kulturvolk gelacht, auch in England habe ich mich anfänglich noch über den Schilderwahn lustig gemacht, aber nach dem achten Tage wollte ich nur noch raus aus diesem Scheißland.

In einem kurzen taz-Flurgespräch meinte neulich jemand – in bezug auf das Intranet: Von Entpolitisierung könne bei der taz überhaupt keine Rede sein,  ich solle doch nur mal gründlich kucken, wieviele Artikel sich täglich mit Politik befassen. Wie sich herausstellte, meinte der damit jedoch vor allem die bürgerliche – berufsmäßig ausgeübte – Politik: als privat betriebene Karriere. Diese Sicht machte mich erst mal sprachlos, denn die taz fühlte sich anfänglich noch einem ganz anderen Politikbegriff verpflichtet.  Und für mich ist nach wie vor jemand, der die polis zu seinem oikos macht die allergrößte Drecksau.
Die nachkriegsdeutsche Linke verstand unter Politisierung (der Massen und des Individuums) eine Bewußtmachung der eigenen Lage – ihre Entprivatisierung. Mit dem Alltag sind all jene Lebensbereiche gemeint, von denen aus sich die Menschen in einem Prozeß der Selbstaufklärung verständigen und organisieren. “Ich hatte Depressionen, Arbeitsstörungen, Kontaktschwierigkeiten, war einfach kaputt – und dann plötzlich die Osterdemonstrationen, die neuen Kontakte, die ganze Aktivität im SDS; es war wie eine Befreiung”, so äußerte sich z.B. ein Student 1971. Zu diesem Zeitpunkt  war die Politisierung bereits weltweit ein Massenphänomen geworden, fast ein Trend, der dann in der BRD u.a. im Kursbuch 25: “Politisierung: Kritik und Selbstkritik” analysiert wurde. Die Äußerung des Studenten entstammt daraus. Die nachkriegsdeutschen Anfänge der Politisierung waren vereinzelter und zaghafter, mindestens im Westen.

In einem 1953 veröffentlichten Berlin-Roman “Ring über Ostkreuz” von Erich Wildberger, in dem es um die Existenzgründungsprobleme einer West-Berliner Baufirma geht, fährt ein frisch verliebtes Pärchen auf ein Grundstück in den Ostteil der Stadt, wo 41 Obstbäume erntereif sind. Um dahin zu gelangen, müssen sie sich mit ihren Fahrrädern fast ranpirschen – und anschließend mit dem Obst ebenso zurück. “In Britz erreichen sie wieder den Westsektor. Sie lächeln sich an. Ein Triumph! Man hat zwar unnötig viel riskiert, aber man hat sich gewehrt, hat der Willkür ein Schnippchen geschlagen.”

Im selben Jahr wurde der (kommunistischen) “Willkür” für kurze Zeit sogar Einhalt geboten: am 17. Juni 1953 – als während des “mitteldeutschen Aufstands” allein in Ost-Berlin Zehntausende auf die Straße gingen, um gegen Normerhöhungen der Regierung zu protestieren, die einer Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen gleichkamen. Die Demonstranten zogen zu den Regierungsgebäuden in Mitte, wobei sie immer mehr wurden. Einer der Teilnehmer, Jochen Markmann, erinnert sich, “dass zum Beispiel plötzlich lauter Köche auftauchten, die einfach ihren Küchenherd in irgendeinem Hotel oder Restaurant im Stich gelassen hatten … Der Zug schwoll zu einer enormen Menge an.” Die kommunistische Regierung musste schließlich von der Roten Armee geschützt werden. In den Jahren vor diesem “Arbeiteraufstand” hatte es bereits studentische Unruhen – vor allem an der Ost-Berliner Humboldt-Universität – gegeben, die Ende 1948 zur Gründung der Freien Universität im Westen geführt hatten. Auch dort kam es dann immer wieder zu Auseinandersetzungen – wenn z.B. Agitationskollektive der FDJ auf dem Dahlemer Campus auftauchten. Ins Visier der Weststudenten  widerum geriet der einst von den Nazis aus der Akademie der Künste ausgeschlossene Karl Hofer, der nach dem Krieg die Hochschule der Künste wiederaufgebaut hatte und ihr Rektor geworden war. Er wurde regelmäßig mit Lebensmittelpaketen aus dem Osten unterstützt und so hieß es in einer studentischen Protestresolution: “Was Hofer für die Russen leistet, zeigen die Pajoks, die er von ihnen erhält…Die Künstler, die sich gleichzeitig vom Westen und vom Osten ernähren lassen, nehmen an Umfang ständig zu.” Diese Vorwürfe wurden während der fünfzehnmonatigen Berlinblockade 1949 erhoben. Die eher unterernährten Studenten waren der Auffassung, dass Hofer deshalb “zur Erziehung der Jugend völlig ungeeignet” sei.

1950 wurde West-Berlin von der Bundesregierung zum “notleidenden Gebiet” erklärt:  Es fehlte an Wohnraum, die Hälfte der Bevölkerung lebte noch in unzumutbaren Verhältnissen, die Zahl der Arbeitslosen hatte mit über 300.000 gerade ihren Nachkriegshöhepunkt erreicht und nach wie vor strömten täglich tausende von Flüchtlinge in die Stadt. Dies ist sozusagen der materielle Ausgangspunkt für die Politisierung in den Fünfziger Jahren. Der Publizist Erich Kuby kam 1957  nach einer Recherchetour durch die DDR und die BRD zu dem Schluss, dass es nur im Osten eine politisierte, zu “Unruhen” fähige, studentische Jugend gäbe: “Westdeutsche Jugend findet politisch nicht statt”. Dies galt auch und erst recht für die in West-Berlin, die er damals noch als “bürgerlich” und antikommunistisch verhetzt einschätzte.

Dieser Befund sollte sich jedoch bald – nicht zuletzt durch Erich Kubys eigenes Wirken, wofür ihn die FU im Sommersemester 1965 mit einem Haus- und Redeverbot ehrte –  geradezu umdrehen: im Maße der antikommunistische Konsens zwischen Staat und (Adenauer- )Regierung einerseits und den Studenten andererseits sich langsam auflöste. Als ein Meilenstein auf dem Weg dahin wird die Ostermarschbewegung angesehen.

Der aus dem Osten geflüchtete spätere Psychologieprofessor und Teilnehmer an dieser Bewegung, Peter Brückner, schreibt – in einem autobiographischen Fragment: “Seit der Wiederbewaffnung der BRD und dem Antrag auf ein Verbot der KPD (1952) greife ich ab und zu wieder nach Marx… Der Protest holt mich einigermaßen aus der Depolitisierung hervor… 1958/59 deutet sich in den Antiatom-Kongressen an der FU Berlin eine Art von Wende an; bildet sich in diesem Sparkassenland ein ‘kollektives Subjekt’?”

Dies Subjekt der Autopolitisierung    entstand im Westen zu dem Zeitpunkt erst zögernd, dann jedoch sich überstürzend, während es  im Osten letztlich Objekt (der Partei) blieb.  Stattdessen entwickelte sich dort bis zum Mauerbau ein anschwellender Flüchtlingsstrom (“Abstimmung mit den Füßen” genannt), und danach eine vereinzelte  Dissidenz, ähnlich der in der Sowjetunion. Formierende  Tendenzen von oben kamen aber auch in der BRD – über die westlichen Besatzungsmächte – zum Zuge: “Im bundesdeutschen team-work ist der sales-promoter eine wichtige Figur geworden; er leitet in Gestalt von lay-outs dem managing- Direktor Vorschläge zu, die darauf hinauslaufen, den Standard auf ein level zu heben, der uns bisher unbekannt war…”, schrieb 1957 Erich Kuby über “die Sprache, die der deutsche Michel in knapp sechs Jahren erlernt hat”.   Aus den USA kamen dann jedoch im Protest gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner auch die Widerstandsformen dagegen. Beginnend mit dem antimilitaristischen und antirassistischen “Free Speech Movement” an der Universität Berkeley 1964, bis zu den sozialen Erfindungen “Teach- In”, “Sit-In”, “Go-In” – und, noch immer nicht endend, mit der “Political Correctness”. Hinter dieser alternativen Amerikanisierung, die zugleich eine Antiamerikanisierung war, insofern sie sich gegen die Kriegsführung in Südostasien richtete  (“USA – SA – SS!”), griff das “kollektive Subjekt” jedoch vor allem auf russische Erfahrungen und Theorien zurück – und zwar weltweit. In Berlin war die Keimzelle für deren bald massenhafte “Aufarbeitung” der SDS, und dort insbesondere die Gruppe um die aus dem Osten stammenden Studenten: Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Peter Rambauseck u.a.. Fast könnte man sagen, dass die Studentenbewegung in Deutschland versuchte, bruchlos wieder an dem Punkt anzuknüpfen, von wo aus die Linken 1933 in den Untergrund, ins Exil oder ins Arbeitslager gegangen waren. Alle ihre Debatten und Auseinandersetzungen – seit den Dekabristen und vor allem der Revolution von 1905 – wurden nun noch einmal geführt. Die großen bundesdeutschen Intelligenzverlage Rowohlt, Fischer, Suhrkamp, Hanser, Ullstein … führten geradezu ein Kopf- an Kopf-Rennen mit den linken Raubdruckern um die Neuherausgabe der einstigen Bestseller der Arbeiterbewegung – von den alten Anarchistinnen bis zu den noch fast frischen Stalinisten. Kommunebewegung, Feminismus, psychoanalytische Kindererziehung, sexuelle Befreiung, Antipsychiatrie, Heimerziehungsalternativen, revolutionäre Betriebszellen, illegale Druckereien, Reisekader, Konspiration, Terrorismus, eigene Rauschmittelversorgungswege etc. … All das hatte es bereits in Russland von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhunderts gegeben. Diese Schätze wurden in den Sechziger Jahren nach und nach gehoben – und für die “politische Arbeit” wieder nutzbar gemacht. Die Studentenbewegung breitete sich wie eine Epidemie aus, sie wurde ideell und materiell vom Osten unterstützt und war ihrerseits mit den “Befreiungsbewegungen der 3.Welt” solidarisch. So sammelte die im “Deutschen Herbst” 1977/78 begründete linke “tageszeitung” z.B. Geld, um “Waffen für El Salvador” zu kaufen, andere Aktivisten vermachten ihr naziväterliches Millionenerbe dem Vietkong. Der erste getötete Demonstrant – Benno Ohnesorg – vor der Deutschen Oper in Berlin forcierte die allgemeine Politisierung noch einmal. 1968 erfassten die Vietnamproteste und die schwarze Bürgerrechtsbewegung auch die US-Soldaten. In den Streitkräften zirkulierten bald 250 linke Zeitungen, einige auch in Berlin, wo der SDS  Deserteuren praktisch half, nach Schweden zu entkommen. Theoretisch drehte sich die Politisierung und Massenmobilisierung vor allem um die Pole “Marx” und “Freud”.

Während es in Frankreich den Studenten gelang, mit den Arbeitern im Mai 68 einen Generalstreik auszurufen, waren sie im “antikommunistischen Bollwerk” Westberlin jedoch weit davon entfernt, mit den Arbeitern auch nur ansatzweise eine “Aktionseinheit” zu bilden. Hier verstärkten die Gewerkschaften eher noch ihre Abgrenzungsbemühungen (u.a. durch Rausschmisse kommunistischer  Mitglieder), was zur Folge hatte, dass die Politisierung des Alltags mehr und mehr in eine “Kulturrevolution” mündete, d.h. sich auf das Milieu der Studenten und Schüler beschränkte. Positiv spiegelte das ihre “Randgruppenstrategie” wieder, die daneben auch noch Rocker, Heimkinder, Straffällige usw. einbezog. Die Umkrempelung des eigenen Lebens, die in einem sich ausbreitenden Netz von selbstorganisierten, d.h. “alternativen” Projekten, Läden, Kneipen, Kommunen und Publikationsorganen stattfand, setzte eine kollektive Ich-Suche in Gang, die bisweilen arbeiterfeindliche Töne annahm. In diesem Zusammenhang sei an die damaligen linken Bestseller “Lenz” von Peter Schneider, “Häutungen” von Verena Stefan und vor allem an “Die Reise” von Bernward Vesper erinnert. Für orthodoxe Linke waren das alles kleinbürgerliche Fluchtbewegungen. Gleichzeitig wurden die Straßendemonstrationen der APO (Außerparlamentarische Opposition) immer selbstbewusster und militanter, wobei in den anschließenden Diskussionen den Polizeiknüppeln durchaus eine bewusstseinserweiternde, d.h. politisierende Wirkung zugeschrieben wurde. Umgekehrt beharrte jedoch vor allem die CDU/CSU darauf, dass die Polizeiknüppel eher beruhigend, depolitisierend, auf die studentischen Randalierer wirken.

In den Siebziger Jahren spaltete sich “die Bewegung” immer mehr auf – in Maoisten, Trotzkisten, Anarchosyndikalisten, Illegale (wie die RAF) usw.. Und neben dem Anti-AKW-Protest hatten auch einige spektakuläre  “Psychosekten” regen Zulauf. Erwähnt seien die Bhagwananhänger in Poona und die Wiener Aktions-Analyse-Kommune von Otto Muehl, die beide starke Ableger in Berlin besaßen. Bedeutend unspektakulärer war dagegen die alltägliche “politische Kleinarbeit” – etwa der SDS-Basisgruppen Moabit und Wedding. Dennoch entstanden daraus einige geradezu exemplarische Biographien: Eine rote Germanistin kam z.B. über die Betriebsagitation dazu, eine Druckerlehre anzufangen, und wurde später Betriebsrätin in einer Großdruckerei. Zuletzt machte man sie zur Vorsitzenden der Berliner IG Medien. Umgekehrt wurde bei einem AEG-Arbeiter in der Basisgruppe Wedding das politische Interesse derart geweckt, dass er es schließlich über diverse Ausbildungsgänge bis zum Vorsitzenden der Berliner IG Metall brachte. Nach der Wiedervereinigung versagte er jedoch: Als die Arbeiter im Osten den Westgewerkschaften quasi ungewollt in den Schoß gefallen waren, dann jedoch eine eigene, branchenübergreifende Betriebsrätebewegung gegen die Abwicklung ihrer Betriebe durch Privatisierung ins Leben gerufen hatten, die bald ebenso wie die des 17.Juni 1953 das Haus der Ministerien belagerte, das nunmehr die Treuhandanstalt beherbergte. Bei diesem Funktionär kann man von einer Depolitisierung durch Karriere reden. Diese wurde Mitte der Siebzigerjahre sozialdemokratisches Programm, indem ein Dutzend neue Universitäten geschaffen wurde, wo den meisten studentischen Rädelsführern Dozentenstellen winkten. Außerdem wurde das System des Begabtenabiturs derart ausgeweitet, dass sich Tausenden von Jungproletariern plötzlich Aufstiegschancen auftaten. In Westberlin nutzten das vor allem die bereits “anpolitisierten” Kindergärtnerinnen, Heimerzieherinnen und Krankenschwestern. Gleichzeitig hatte sich hier aber eine neue Arbeitergruppe als “kollektives Subjekt” gebildet: die Türken – die zunächst in Arbeiterwohnheimen untergekommen waren. Sie zogen in den Siebziger Jahren in die fast nur noch von subproletarischen Kümmerexistenzen bewohnten Kieze Kreuzbergs, Schönebergs und im Wedding. Dadurch wurden sie langsam von Gastarbeitern zu Dauerbewohnern Berlins – gründeten Arbeiterclubs, Solidaritätsvereine und organisierten sich u.a. gegen nationalistische Gruppen wie die Grauen Wölfe, aber auch gegen Benachteiligungen am Arbeitsplatz. Die Gewerkschaften gewöhnten es sich an, Flugblätter auf Türkisch zu verfassen. Bald gab es die ersten türkischen Arbeitnehmersprecher. Noch heute – da die “Betriebsverschlankungen” längst auch auf Westberlin übergegriffen haben – sagt man: “Jeder gute türkische Betriebsrat war früher ein maoistischer Kurde!” Zu den ersten türkischen AEG-Arbeiterinnen gehörte Emine Sevgi Özdamar, danach studierte sie Schauspiel in Istanbul. Wieder zurück in Berlin bekam sie 1976 eine Anstellung an der Volksbühne. Fortan lebte sie in West-Berlin und arbeitete in Ost-Berlin. In einem ihrer autobiographischen Romane schreibt sie – rückblickend auf ihre Politisierung als Arbeiterin, die in einem der türkischen Arbeitervereine begann, in denen fast nur Männer saßen und diskutierten, dabei ununterbrochen rauchten und Tee tranken: “Als ich den hinkenden türkischen Sozialisten einmal vor dem Café Steinplatz sah,  er überquerte gerade die Straße, sagte ich zu mir, schlaf mit dem hinkenden Sozialisten, er wird dich danach in Ruhe lassen, er hinkt, er ist Sozialist, er wird keine Angst bekommen, dass du ihn zum Heiraten zwingen willst”.   Das Café und Kino am Steinplatz in “Charlottengrad” war eines der Zentren der Studentenbewegung. Spätestens seit dem Bau der Mauer 1961 waren die meisten wohlhabenden Berliner aus Angst vor den Kommunisten nach Westdeutschland ausgewichen. In ihre großen Wohnungen links und rechts des Kurfürstendamms zogen Studenten ein. Berlin lockte damals vor allem solche an, die, wie der Künstler Thomas Kapielski sagte: im Malen eine eins und im Rechnen immer ein fünf hatten. In dem Maße wie die Hausbesitzer ihre zentralen Liegenschaften wieder in den Griff bekamen, wichen die Studenten nach Schöneberg und Kreuzberg aus. Ihre Politisierung hatte sich indes derart auf einige Aspekte des Alltags – nämlich der “behutsamen Stadterneuerung unter ökologischem Vorzeichen” – beschränkt, dass sie dort mit den Türken aneinander gerieten. In diesen sahen sie bald nur noch “Stoßtrupps der Hausbesitzer” – zum endgültigen Herunterwohnen der letzten Altbausubstanz. 1980 schrieb die Scene-Zeitung Zitty: “In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei…Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen”. Viele Türken ließen nach und nach ihre Familien nachkommen, was die Bezirksregierung von Kreuzberg immer wieder mit “Zuzugssperren” zu verhindern suchte. Ümit Bayam, den seine Mutter, als er acht Jahre alt war, nach Kreuzberg holte, schrieb 1997 einen Text über seine ersten Erlebnisse dort. Er bekam dafür einen Preis beim SDR-Schreibwettbewerb “40 Jahre Gastarbeiter – Deutschland auf dem Weg zur multikulturellen Gesellschaft?” Als Stadtplaner und Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung engagiert er sich derzeit im Kreuzberger “Wrangel-Kiez”, wo es gilt, den Bau eines riesigen Einkaufscenters in einem mühsam erkämpften und sich langsam zusammenraufenden Soziotop zu verhindern. In den Siebziger Jahren war es dort noch darum gegangen, so genannte Kahlschlagsanierung und Autobahnbau zu stoppen.

Die Depolitisierung des Alltags, so wie sie einmal von den unbeugsamen Professoren Johannes Agnoli und Peter Brückner in ihrem Buch “Die Transformation der Demokratie”, das man auch die “Bibel der APO” genannt hat, verstanden wurde, besteht vor allem in der “Parlamentarisierung der Linken”, die inzwischen “in den westlichen Ländern zu einer Lebensfrage des Kapitalismus” geworden sei. Mit den Grünen gelang das auch, obwohl in den Achtziger Jahren die Politik auf der Straße zunächst weiter ging: einmal in der Anti-AKW-Bewegung und zum anderen bei den Hausbesetzern – in den Häuserkämpfen, wobei die Personage einen Wechsel vom Hippietum zum Punk vollzog. Dennoch scheint das kollektive Subjekt dabei nicht mehr auf, sondern geht langsam unter. Bis Ende der Neunzigerjahre die Reprivatisierung nach und nach auch alle  Alltagsbereiche erfaßt.

Wir haben somit von 1953 an eine aufsteigende Linie der Politisierung des Alltags, die Arbeit, Familie, Kindererziehung, Sexualität, Künste etc. erfasst, um diese Bereiche  zu transformieren – bis 1968. Danach spaltet sich die soziale Bewegung immer mehr auf – in Parteien und Single-Purposes, sie spezialisiert und professionalisiert sich. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung ist der alternative Impuls endgültig am Ende – bzw. vom System integriert. “Wir machen aus Punk Prunk!” verspricht z.B. ein Werbeslogan des Kaufhofkonzerns.

Zur Erklärung dieser westlichen  Politisierungswelle hat u.a. der Historikerund taz-Autor  Mathias Mildner ausgeführt, die Schüler- und Studentenbewegung habe ihre materielle Ursache darin gehabt, dass damals zum ersten Mal eine noch junge Generation schon über eine erhebliche Kaufkraft verfügte – und dafür eine eigene “Kultur” einforderte, die sie sich erst einmal erkämpfen musste. Die Rockmusik z.B. war bis in die Sechzigerjahre noch weitgehend verboten – heute dudelt sie auf allen Kanälen von morgens bis abends und überall. Sie ist zu einer akustischen Umweltverschmutzung geworden. Desungeachtet kann von einem Scheitern nicht die Rede sein. Ähnliches gilt für viele linke “Ansätze”, die sich durchgesetzt haben, nur dass sie jetzt eben von anderen Leuten vertreten werden. “Wir waren anfangs etwa 12 Leute im SDS – und jetzt sind wir wieder genauso viele: fast noch die selben,” so sagte es der West-Berliner Widerstandsforscher Hans-Dieter Heilmann 1999 – selber verblüfft.   In Restaurationszeiten, da wieder von Generationen, Rassen, Religionen und Nationen die Rede ist, wächst zunächst die rechte Bewegung. Ob man bei ihr von einer Politisierung des Alltags, als Basisimpuls, reden kann, vermag ich nicht zu sagen. Auf alle Fälle hat sie bereits etliche Gefängnisse umgekrempelt, d.h. dass die Neonazis das Klima der Auseinandersetzungen dort mittlerweile bestimmen. Körpertraining, nationalistisch-rassistische Entmischung und Kommunikationslosigkeit lassen die Ostler in den Westgefängnissen inzwischen sogar von ihren alten DDR-Knästen schwärmen – wie eine Studie über die Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel von Hans-Joachim Neubauer gerade nahe legte. Statt der in den Siebziger Jahren in Westberlin wiedergegründeten “Roten Hilfe” gibt es dort jetzt eine “Braune”. Und statt der selbstorganisierten linken “Release”-Vereine haben die Drogensüchtigen fast nur noch den totalitären Synanon-Verein als Anlaufstelle, der sich mit ganz viel “Staatsknete” zu einem regelrechten Umerziehungskonzern entwickelte . Für entlaufene Heimkinder gab es ab den Siebziger Jahren im Wedding die “Werkschule”, in der das Kollektiv der Jugendlichen und Erzieher sich ihre eigenen (einstmals besetzten) Häuser herrichtete und eine neue Form von Schulunterricht erfand. Alle bekamen das selbe “Taschengeld” und jeder hatte auf Vollversammlungen eine Stimme. Heute betreibt eine grüne Kiezsanierungsfirma dieses Geschäft im großen Stil und auf ABM-Basis im Osten: Es werden Häuser gekauft, saniert und dann für “betreutes Wohnen” hergerichtet, wozu man noch Ausbildungsmöglichkeiten, vor allem an Computern, anbietet.

Es wäre zu viel verlangt, in dieser Situation wieder auf Russland zu hoffen, wo man noch verwirrter zu sein scheint. Immerhin kommen jetzt jede Menge Russen nach Berlin, es ist fast ein Exodus der letzten sowjetischen Intelligenz. Ironischerweise gerade wegen des depolitisierten Alltags hierzulande. “Das war ein befreiender Akt und ein Erfolg,” schrieb Peter Brückner einst – über seinen ersten lukrativen Job im Westen, “dass der Entschluss befreiend war, dass mich das Geld politisiert hat (und nicht, wie die jungen Generationen, die Sexualität), hat eine Moral. Es gibt Zustände – individuelle wie gesellschaftliche – in denen einzig ein Stück Ruchlosigkeit produktiv ist, und wo die ‘individuelle Interessen- Orientiertheit’ viel weniger sozial integriert als Armut, Sozialarbeit, Tugend.”

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/07/27/im-schilderwahn/

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