vonHelmut Höge 28.07.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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In Pritzwalk nennt man sie die “Viererbande”: Günter Schinske, Gabi Schult, Uschi Preuß und Sylvano Schmidt, genannt Max. Günter, Gabi und Max arbeiteten bis zur Wende als Melker in einer LPG, Uschi war zuletzt Verkäuferin in einem LPG-Blumenladen.

Recht eigentlich bildeten sie das Scharnier zwischen dem Alten im Untergrund und der neuen Oberfläche von Pritzwalk. Die vier lernten sich über ABM kennen. Genaugenommen handelte es sich dabei um eine der ABM vorgeschaltete “Integrationsmaßnahme” (IM), über die die “immer schwieriger werdenden Langzeitarbeitslosen” als Kollektiv erst einmal quasi ABM-reif gemacht werden sollten.

Das Arbeitsamts-Curriculum sah die Einübung von Bewerbungsschreiben, Ausfüllen von Steuererklärungen sowie die Vermittlung rudimentärer Englisch- und Schreibkenntnisse vor. Die drei Westberliner (Kunst-)Dozenten setzten jedoch primär auf “Hilfe zur Selbsthilfe” und organisierten mit der IM- Gruppe z.B. bei einem Teilnehmer rechtzeitig vor Winterbeginn eine Brennholzhack-Aktion, bei einer anderen die Bepflanzung ihres Vorgartens… Max fuhr einen Wartburg, morgens holte er erst Uschi, dann Günter und Gabi zum Kursus ab: Die beiden wohnten außerhalb von Pritzwalk, und die Integrationsmaßnahme fand im Sozialgebäude der ehemaligen Zahnradfabrik statt, das eine DGB-nahe Qualifizierungsgesellschaft als eine Art General- Ausbildungsübernehmer für die ganze Region angemietet hatte. Es gab dort sogar zwei Kantinen – auf ABM- Basis. Und oben in den ehemals VEB-eigenen Fitnessräumen eine Kegelbahn, die von der IM- Gruppe gerne aufgesucht wurde.

Auch während ihres Betriebs-Praktikums sorgte Max mit seinem Wartburg für den Transport der Viererbande: Uschi und Max arbeiteten bei einer Forellenzuchtanlage, die ein ehemaliger Mitarbeiter von der Treuhand auf Pachtbasis privatisiert hatte. Gabi arbeitete in den Gewächshäusern eines Gärtnerehepaares, und Günter verdingte sich auf der Kiesgrube eines Fuhrunternehmers aus seinem Dorf. Er half ihm, eine in Berlin billig erworbene Schnellbauhalle auf seinem Schuttplatz wieder aufzubauen. Günter hoffte, dort eine Festanstellung zu finden, sein Chef bot ihm auch die Übernahme der Kosten für einen LKW-Führerschein an, aber das kollidierte dann mit Günters Arbeitslosenstatus und zerschlug sich so. Max suchte sich im Westen Arbeit: Erst als Reisevertreter für ein Münchner Unternehmen ( “Zum Überreden bin ich aber gar nicht geeignet”) und dann am Fließband einer Bremer Molkerei (hier stellte sich das Problem, eine zweite Wohnung anmieten zu müssen, was in der “Probezeit” ein zu großes finanzielles Risiko war). Gabi und Uschi wurden von ihren Chefs, denen sie sich als Praktikanten angedient hatten, anschließend nicht übernommen.

Dafür versprach das Arbeitsamt dem gesamten IM-Kursus einen Übergang in reguläre AB-Maßnahmen. Nachdem man ihre Westdozenten rausgeschmissen hatte (weil diese sich nicht eng genug an die Kurs-Curricula gehalten hatten), betreute eine ortsansässige Computerfirma die IM-Gruppe weiter. Günter und Max näherten sich unter der Leitung ihrer neuen “Klassenlehrerin” dem High-Tech-Gerät primär über das Karten-Patience-Programm, ansonsten wurden sie über das neue Rentenrecht und die Rechtschreibreform informiert. Uschi wurde Klassensprecherin. Als solche war sie u.a. für das Alkoholtestgerät verantwortlich, mit dessen Hilfe allzu betrunkene Kursusteilnehmer festgestellt und dann von der Teilnahme ausgeschlossen werden sollten. Kurz vor dem mit einem schriftlichen “Zertifikat” endenden Kurs teilte die Klassenlehrerin ihnen mit, daß es keine “Auffang-ABM” gäbe.

Max bereitete daraufhin nach Ablauf einer Anstandsarbeitslosigkeitsphase doch seinen Umzug nach Bremen vor, Uschi, die Alleinerziehende ist, bekam ein schweres Hüftleiden und mußte fürderhin an Krücken gehen. Gabi gab “die Hoffnung” nicht auf, aber Günter meinte immer mal wieder: “Ick hab’ keene Zukunft mehr.” So fiel langsam die “Viererbande” auseinander, aber anläßlich einer Kunstausstellung über ABM – von einem ihrer ehemaligen Westberlin-Dozenten, Peter Funken, organisiert – sah man sie in einem Videofilm über ihr 13monatiges Bemühen, von der “Marktwirtschaft” angenommen zu werden.

Jedesmal wenn das Filmteam (Funken, Höge, Wenner) aus Berlin anrückte, und es kam über ein Jahr lang alle paar Wochen, war die “Viererbande” zu jeder szenischen Schandtat bereit. In den Zwischenzeiten zogen sie sich jedoch immer mehr in ihre Wohnungen zurück, tranken Schnaps und verfolgten die Welt quasi nur noch über dürftige Fernseh-Features und billige US-Serien. Derweil verschlimmerte sich Uschis Hüftleiden, ihr Freund kam ins Gefängnis, dann auch ihr großer Sohn und schließlich nahm man ihr auch noch den kleinen Sohn weg. Max bekam, kurz bevor er seine Stelle in der Molkerei bei Bremen antreten konnte oder mußte, eine Herzattacke und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als er wieder rauskam, war er ein anerkannter Frührentner – mit 600 Euro im Monat. Günter und Gabi wohnten in einem Einzimmerhaus auf dem Dorf, wo – am anderen Ende – auch Gabis früherer Ehemann mit ihren vier Kindern lebte. Jedesmal wenn er einen Alkoholentzug abgebrochen hatte, ließ er seinen Frust an seinen Töchtern, aber auch an Gabi aus. Regelmäßig trafen sich die 17 Pritzwalker Neonazis bei ihm. Im Suff überredete er sie, Gabis und Günters Vorgarten zu verwüsten. Diese trauten sich manchmal im Dunkeln nicht mehr auf die Straße. Auch die reißerischen Sat.1-Reportagen von morgens bis abends stimmten sie nicht gerade optimistisch.

Aber Günter behielt trotzdem seine gute Laune und seinen Witz. Er war ein Pferdenarr, regelmäßig fuhr er nach Neustadt auf den Pferdemarkt. Und Pferderennen im Fernsehen – das war wie Parteitag für ihn. Einmal holte er sich ein Pony, kam aber nicht klar mit dem wilden Hengst. Gabi machte derweil ihren Führerschein und kaufte sich ein altes Auto. Und ein Telefon schafften sie sich auch noch an. Ich dachte bereits, sie würden es langsam schaffen – und es sich mit zusammen 1.000 Euro im Monat (bei 120 Euro Miete) gemütlich machen. Günter bekam sogar das vage Versprechen auf einen Halbnachtsjob: Er sollte im Winter Platzwart bzw. Nachtwächter auf der Kiesgrube werden, wo der Besitzer immer mehr Schrottautos abstellte.

Aber dann aß Günter plötzlich nichts mehr, und bald konnte er auch keine Flüssigkeit mehr bei sich behalten – zum Arzt wollte er auch nicht. 14 Tage später war er tot: auf dem Weg zur Toilette zusammengebrochen. Seine Mutter, die im selben Dorf wohnte, und Gabi nahmen während der Vorbereitung seiner Beerdigung über 10 Kilo ab. Die genaue Todesursache wußten sie nicht und wollten sie auch nicht wissen: “Er hat einfach keinen Sinn mehr im Leben gesehen – keine Hoffnung!” Und das war wahrscheinlich die Wahrheit.

An einem schönen warmen Spätsommertag fuhren wir alle auf den Dorffriedhof, um ihm das letzte Geleit zu geben, wie man so sagt. Cirka 60 Leute hatten sich mit Blumen um die kleine Kapelle versammelt – viele weinten. Auf Gabis Wunsch spielte eine gemietete Beerdigungsrednerin “Ave Maria” und ließ dann in ihrer Trauerrede noch einmal Günters Leben Revue passieren – ein bißchen zu kritisch für meinen Geschmack, aber besser als verlogen: Ausführlich kam sie dabei auf seine Arbeitslosigkeit, den Alkohol, das Fernsehen und seine Pferdeleidenschaft zu sprechen.

Der Friedhof lag inmitten eines blühenden Rapsfeldes. Von irgendwoher blökten Schafe. Flieder, Schneeball, Rotdorn und Kastanie blühten. Gelegentlich überflog ein Storch oder ein Bussard die Kapelle. Später erzählte mir der Schwager von Günter, daß die LPG ihn 1987 als Fahrer beschäftigt hatte, ohne daß er einen Führerschein besaß. Es kam deswegen zu einem Gerichtsverfahren gegen Günter, das man als Schauprozeß aufzog – und deswegen live im Radio übertrug. Aufgrund Günters witziger Antworten sei das Ganze aber nach hinten losgegangen: “Günter war anschließend ein richtiger Held in der Region”. So hatte er z.B. auf die Frage das Richters, ob er ein Konto besäße, geantwortet: “Ja, ein Fallskonto!” – “Was ist das denn?” – “Falls was drauf ist!” In seinen letzten Lebensmonaten schimpfte er übrigens am liebsten über den Euro. Und seine letzten Worte zu mir am Telefon lauteten: “Der Sozialismus hat uns schon ruiniert, aber der Kapitalismus wird uns nun endgültig fertigmachen!”

Es war trotz allem eine schöne Beerdigung. Nur mit Mühe konnte ich meine Tränen zurückhalten. Schwalben schossen durch die Luft, und die Lerchen jubilierten über den Feldern. Mit der alten Goetheschen Weisheit “Es gibt nichts Schöneres auf Erden, als morgens eine Lerche zu hören und mittags eine zu essen”, gewann ich beim Leichenschmaus im Haus seiner Mutter langsam meine Fassung wieder. Es war die erste Beerdigung in meinem Leben. Leider nicht die letzte.

Im Rahmen einer Ausstellung über “ABM”, die dann jedoch von Landowsky im Lottorat nicht genehmigt wurde und deswegen über “Die Arbeit” umbenannt wurde, zeigte Dorothee Wenner den auf 28 Minuten zusammengeschnittenen aber immer noch sehr schönen Film über “Die Viererbande” – einmal (!).

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