vonHelmut Höge 01.10.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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1969 gründeten sich in den USA und also auch in der BRD alle möglichen “Liberation Armys”. Das inspirierte uns in  Westberlin zur Gründung einer  “Necrophiliacs Liberation Front” – in der wir viel Spaß hatten. Aber nun breitet sich die “Neophilie” aus – und das ist gar nicht lustig: Dieser Mist begann schon mit den fünf “Neuen Bundesländern” (Helmut Kohl). Dem folgte auf dem Fuß ein “Neues  Denken” (Richard von Weizsäcker) und sogar eine “Neue Ära” (Michael Stürmer). Und prompt sprach die Treuhandchefin Birgit Breuel von einer “Neuen Ökonomie”. Woraufhin sich auch die Massenmedien  “dem Neuen”  (von FAZ bis ZEIT) nicht länger verschlossen, ja sich sogar selbst wie Eberhard Diepgen ein “Neues Outfit” (BILD)  zulegten.

Überhaupt wurde die “Neue Hauptstadt” (Tagespiegel) geradezu von Neophilien heimgesucht: Wenn man der Presse glauben durfte, standen die “Neuen Investoren” (Berliner Zeitung) Schlange und “Neue  Ideengeber” (taz) waren plötzlich gefragt wie nie zuvor, während die Politik “Neue Möglichkeiten” (metall) witterte, mahnten die Unternehmer dringend “Neue Spielregeln” (das ehemalige Nachrichtenmagazin Der Spiegel) an. Bald erstreckte sich der Neoismus bis ins letzte Dorf: Sogar Washington und die Weltbank suchten fieberhaft nach “Neuen Wegen” (Handelsblatt). Denn es gab überall auch eine “Neue Unzufriedenheit” (ZDF) sowie eine “wirklich internationale Neue Protestgeneration” (das ehemalige Nachrichtenmagazin Der Spiegel) – bis hin zu einer “Neuen Gewaltbereitschaft” (Joschka Fischer). Während Jelzin in Russland sich gleichzeitig fieberhaft um eine “Neue Staatsideologie” (das ehemalige Nachrichtenmagazin Der Spiegel) bemühte und Putin sich dann mit den “Neuen Russen” (Nürnberger Nachrichten) anlegte. Auch hier war man dem “Neuen Geist” (Nordsee-Zeitung) nicht immer gewachsen. Vergeblich versuchten Trendforscher wie Mathias Horx “Neue Visionen” (Frankfurter Rundschau) zu lancieren, indem sie z.B. den Managern rieten, sich pädagogisch auf “Neue Produkte” einzustellen  (Hamburger Abendblatt). Gleichzeitig wurden aber auch den Arbeitnehmern völlig “Neue Wege” (Hannoversche Allgemeine) aufgezeigt. Und ARD und ZDF erfanden unter dem Druck der Privaten hektisch “Neue Programmschema” (Hör zu). Siemens warf eine “Neue Handygeneration” (FAZ) auf den Markt. Das Bettenhaus Würmann pries seinen “Neuen Schlafkomfort” (BZ), die Münchner Schickeria kreierte ein “Ganz Neues Lebensgefühl” (Bunte), die Ost-Wohnungsverwaltungen ein “Neues Wohnen” – in alten Plattenbauten (Sächsische Zeitung) und die Fernsehhersteller eine “Neue TV-Intimität” (Focus).

All das ließ den Philosophen natürlich keine Ruhe: Sie verkündeten erstens die “Neue Unübersichlichkeit” (Jürgen Habermas), zweitens die  “Neue Moderne” (Ulrich Beck), ja sogar drittens ein  “New Millenium” (Tony Blair) bzw. einen  kompletten “New Lifestyle” (Schwarzenegger), verbunden mit  einer   “New Caballa” (Madonna), aber auch einer “Neuen Armut” (Richard Sennett) sowie einer komplett “Neuen Erfahrung” (Die Wallerts). Spätestens an dieser Stelle gab es für die Kreativen kein Halten mehr: Erst schufen sie eine “Neue Literatur” (Morgenpost) – im Verein mit der “Neuen Lust am Lesen” (Börsenblatt) und einer “Neuen Unduldsamkeit” (Die Zeit).

Darüberhinaus wurden auch noch ein ganz “Neues Körperfeeling” (Tip) und “Neue Freiräume” (Zitty) entdeckt, sowie jede Menge “Neuer Events” (scheinschlag), will sagen “Neuer Erlebnisqualitäten” (Essen & Trinken). Die Neunmalklugen ließen sich dazu “Rundumerneuern” (Max) und beispielsweise eine “Neue Nase” (Verona Feldbusch”), einen “Neuen Lover” (Sabine Christiansen) und eine “Neue Show” (Harald Schmidt) verpassen – mit “Neuen Gags” (wieder Harald Schmidt) und völlig “Neuen Gästen” (wie z.B. Harald von Norwegen) – oder sie bekamen einen “Neuen Anfall” (wie Harald Juhnke) bzw. nahmen tapfer einen “Neuen  Anlauf” (wie die Puhdys), womit sie quasi ein “Neues Leben” (superillu) einleiteten und wieder “Neuen Mut” (praline) faßten.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/10/01/neophilie-pah/

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kommentare

  • Wer dachte, damit hätte die Neophilie 2005 ihren Höhepunkt erreicht, irrte sich, zumal die einmal vorgehängte Silbe neo oder neu auch bei inzwischen veralteten Phänomenen beibehalten wurde.

    Es gibt nach wie vor die fünf Neuen Länder, die Neuen Russen, den Kampf zwischen Alten und Neuen Armeniern, den Neonomadismus, den Neoliberalismus (eng verbunden mit dem Neodarwinismus), den von Georg Seeßlen kreierten Neosex, die von der taz entdeckten Neospießer, einen messianischen “Matrix”-Filmhelden namens Neo, die Neue Armut, den Neumillionär Neo Rauch, eine neue Arbeitsmoral, die Neozapatistas, die Neue Weltmacht China, die Neocons, einen Neokonfuzianismus, jede Menge neudeutsche Anglizismen und andere Neologismen, Neofolk-Musik, den Neoplasticism, die Neoisten, Neoludditen, japanischen NeoPunk, Halstabletten namens “Neo-Angin”, die Platten der Düsseldorfer Krautrock-Pioniere Neu! werden wieder aufgelegt, und selbst in einem Magazin mit dem Markennamen Neon verbirgt es sich, kurzum: Es gibt inzwischen allein bei Google 71 Millionen Eintragungen für “neo” und 120 Millionen mit “neu”.

    Was ist passiert?

    Warum sehen wir plötzlich alle ganz alt aus?

    Die Antwort fand ich zu Ostern an der Fruchtbar einer westpolnischen “Wellnessfarm” (98.900 Eintragungen) namens “Afrodyta”. Da meinte eine flotte Fünfzigjährige aus Fulda, die gerade eine preisgünstige “Schönheitsoperation” (686.000 Eintragungen) in Tschechien über sich hatte ergehen lassen: “Bist du heute nicht mobil – biste morgen ein Fossil!” Es ging ihr dabei ums Ganze – sie meinte “Den neuen Kapitalismus”, wie auch der Titel eines neuen Campus-Buchs von Thomas Hanke lautet. Denn der bringt uns angeblich alle auf Trab, der Kapitalismus. Auf alle Fälle schaukelt er sich langsam hoch ins Hysterische.

    Den Eindruck machte jedenfalls das ganze brandneue Ambiente dort am Osnoer See auf mich. Und auch die geföhnte Fuldaerin. Dabei wird die Mobilität gerade von den Deutschen als etwas extrem Ungemütliches begriffen, besonders von den Ostdeutschen, von denen laut einer Umfrage 70 Prozent selbst im Falle einer drohenden Arbeitslosigkeit nicht ihren Wohnort wechseln würden. Da macht sich noch die sozialistische Errungenschaft Planwirtschaft bemerkbar, die überall da, wo sich DDR-Bürger immobilisierten, prompt ein oder mehrere VEB für sie hinstellte.

    Nun geht es aber umgekehrt weiter: Das Kapital knallt irgendwo seine Fertigungsstätten hin – und die Menschen müssen ihnen folgen, notfalls in Wohnwagen. Das ist neu! Wie ebenso auch, dass die letzten (staatlichen) Planer langsam in eine ähnliche Position wie die Adligen am Ende des Feudalismus geraten: Sie werden parasitär und überflüssig. Die Parteien und die Politik sind nur noch gut für die darin/damit ihr Geld verdienenden – auf Kosten der Gesellschaft.

    Über kurz oder lang werden wir uns diesen ganzen professionellen Politikscheiß einfach nicht mehr leisten können! Allein für den jährlichen Blumen-Etat des Auswärtigen Amts müsste ich fast tausend Jahre lang Steuern (75 Euro im Monat) zahlen! Und ein einziger dummer Besuch von Merkel in Washington oder von Bush in Stralsund lässt bereits ganze Landkreise verarmen.

    Zu schweigen von den Sachbearbeiter-Heerscharen in den Arbeitsämtern, die gerade jene Millionen von Hartz-IV-Empfänger quälen, bespitzeln und demütigen, von denen allein sie leben. Das ist Neofeudalismus! Denn das Kapital hat sich transnational verflüchtigt, übrig bleiben die immobilen Alimentierten, die mit immer wahnwitzigeren “Projekten” die Dialektik von Bleiben und Weichen zu ihren Gunsten auszuhebeln trachten – zunehmend verzweifelter. Auch das ist neu!

    Aber dann schaltete sich an der Bar der greise, jedoch ebenfalls frisch geföhnte Ehemann der Fuldaerin ein: “Wo hast du denn den Spruch her?”, fragte er seine Frau. Das wusste sie nicht mehr. “Aber ich”, erwiderte er, “das war mal die alte Volkswagenwerbung – unter Adolf noch: ,Wirst du heute nicht mobil – biste morgen ein Fossil!’ Sie wurde dann zurückgenommen, weil VW erst mal für den Krieg produzieren musste.”

    “War damals nicht auch alles neo? Ich meine, das Wort ,neu’ in aller Munde?” fragte ich ihn.

    “Und ob!”, bekam ich zur Antwort, “alles war plötzlich neu. Angefangen mit einer neuen Generation, einer neuen Zukunft, neue Werte, eine neue Arbeitsmoral usw. … das ist immer so vor einem neuen Weltkrieg.”

    “Wollen Sie damit sagen, dass wir jetzt auch wieder vor einem neuen Weltkrieg stehen?”

    “Wir befinden uns doch schon fast mittendrin”, meinte der Fuldaer beinahe fröhlich.

    “Na dann, auf ein Neues”, sagte seine Frau und prostete uns mit ihrem Fruchtsaftgetränk zu.

    “Wir werden es aber wohl nicht mehr erleben”, fügte der Ehemann nachdenklich hinzu.

    “Du vielleicht nicht, aber ich habe durchaus noch Hoffnung”, erwiderte seine Frau, “wo man mich doch grad wieder neu in Schuss gebracht hat.”

  • ja, ganz richtig. furchtbar, das. selbst aus einem verrückten atelier am letzten rande der kopenhagener hörte ich sowas neulich eh altlich. NIÒpression sei der neue alte renner in der kunst, angeblich. dabei haben die das nur geklaut da: ich hab das jahre früher in der acudgalerie schon gehört, 2002, versuppte dann aber genauso schnell wie dieser chaotenladen, in dem sie immer so tun, als würde donnerstags da irgendwelche leute literatur lesen. für mich sieht das nach einer abgekaterten mausefallenveranstaltung aus, wenn Sie mich fragen. scheint was nicht geklappt zu haben mit dem ersten käfig, nun soll ein rollmops mit viel lustig außentapete angelockt werden. aber rollende möpse sind zu schlau für sowas, nie im leben, sollen die noch so tröten mit RAM51 oder todesfugen-themen. ich glaub nicht dran. und Sie so? jedenfalls NIÒpression, hab schon dmals gegrübelt, was das wieder sein soll. die – die im acud da ausstellten – die meinten, na wegen weder ex- noch im- sondern eben zwar pressiv, aber eben doch NIÒ, nur weil die zu faul sind, gipsige antika zu pauszeichenkopieren, wie´s sich für einen echten meister gehört. außerdem soll sich im titel eine anspielung auf ein polnisches TITANIC-pendant handeln, aber davon versteh ich nur die hälfte. bin froh, daß ich nur schmu heiße und mein kollektiv roter stern wandert jetzt mit cassiopeia richtung großer wagen. nach meiner riesenausstellung derzeit jedenfalls schlepp ich endlich die versprochenen portrais in das gehäusel, sonst läßt die olle luderfurie da mir keine ruhe.

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