vonHelmut Höge 25.11.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

Mehr über diesen Blog

Auf der Kochstraße lief eine Frau hin und her und sagte laut vor sich hin “Man hat mich beklaut”. Nun suchte sie den Dieb, der ihr die Handtasche im Restaurant gegenüber der taz gestohlen hatte. “Ich bin doch gar keine Touristin,” fügte sie traurig hinzu. Der Dieb war längst über alle Berge. Vielleicht war er ein Tourist, mutmaßte ich. Die Stadt wird geradezu heimgesucht von Touristen, und zwar meistens von solchen, die wenig Geld haben, denn Berlin ist noch ein relativ billiges Reiseziel.

Das Berlin-Marketing begann zudem mit den Kreuzberger Hausbesetzern, als diese ein Transparent raushingen: “Wir sind die Terroristen – und grüßen die Touristen. Aber Hallo!” Seitdem kommen immer mehr Urlauber nach Berlin. Die Stadt hat zwar seit dem Mauerabriss keine Sehenswürdigkeiten mehr zu bieten, aber es ist die einzige, in der die Einwohner nicht die Touristen, sondern umgekehrt diese die Einheimischen ausrauben. Darin sind sich jedenfalls die meisten Einwohner einig, vor allem solche, die im Dienstleistungsbereich arbeiten.

Bei mir wurde vor einiger Zeit eingebrochen. Erst als der Verbrecher die Tür von außen zuknallte, wachte ich auf – und sah noch, wie er über den Hof hastete: ein junger Mann mit strähnigem blondem Haar. Eine Bestandaufnahme ergab: Er hatte mir nur eine kaputte Kamera geklaut und aus meiner Brieftasche die letzten 10 Euro. So einen bescheidenen Dieb lob ich mir! Es war der Däne, der immer am Kotti rumhing, versicherte mein Nachbar mir später. Dort wurde dann umgekehrt auch mal ein (ostdeutscher) Tourist ausgeplündert. Als er zur Polizeiwache Friedrichstraße ging, nahmen die ihn dort gleich fest, denn er wurde mit Haftbefehl gesucht. Als ich Ende September nachts ausgeraubt wurde – von drei Touristen, die eine Sprache sprachen, die ich nicht identifizieren konnte, führte mir die Polizei wenig später auf der Wache einen jungen Araber in Handschellen als Verdächtigen vor, obwohl ich ihnen zuvor gesagt hatte, dass es ganz bestimmt keine einheimischen Türken oder Araber gewesen waren. Zwei Wochen später wurde die Suche, das Verfahren bereits von der Staatsanwalt schaft eingestellt: Schneller als meine innere Verarbeitung des brutalen Raubüberfalls.

Weitaus freundlicher waren da die Londoner Polizisten, als eine Touristin aus Berlin den Diebstahl ihres Laptops anzeigte, den sich ein älterer Mann an der Bushaltestelle vor dem Kensington Hilton geschnappt hatte, während sein jüngerer Komplize sie mit Fragen nach einer Adresse ablenkte. Zwar blieben die Trickdiebe unauffindbar, aber die Polizisten riefen die Touristin noch monatelang in Berlin an, jedes Mal um ihr mi tzu teilen: “Nichts Neues!”

In Tallinn sind die Opfer meist Finnen, die dort als Sex- und Alkoholtouristen in Scharen einfallen: In betrunkenem Zustand werden sie regelmäßig zusammengeschlagen und ausgeraubt. Und die Polizisten können hernach kaum ihre klammheimliche Freude darüber verbergen. Ganz ähnlich ist es in der Mongolei mit den Chinesen, die bei den meisten Mongolen keine guten Karten haben.

In Prag gibt es es für ausgeraubte Touristen eine spezielle Wache mit Dolmetschern: 4 mal 3 Meter groß. Dort kann man sehr schön die unterschiedlichen Reaktionen der betroffenen Landsmannschaften studieren: Die Engländer vertreiben sich die zweistündige Wartezeit mit Witzen, die Franzosen grämen sich über ihre mit entwendeten Opernkarten, die Deutschen schimpfen auf die diebischen Tschechen, und die Serben, die nun ohne Gepäck dastehen, werden ganz euphorisch, denn es handelt sich um ein TV-Team, dem dort die Idee zu einem neuen Film einfällt: “Der Tourist als Beutetier – ein internationaler Städtevergleich”. Touristen sind wandelnde Geldbörsen, dazu da, um auf die eine oder andere Weise ausgenommen zu werden – deswegen werben ja alle möglichen Urlaubsorte so um sie. Diese und ähnliche Gedanken steuerte der Künstler Andreas Seltzer zu unserer 1. Masse über Geldbeschaffungsmaßnahmen auf dem Pfefferberg bei. Daneben hatte er noch drei Videokabinen aufgebaut, in denen man – gegen Einwurf von mehrmals 5 DM – einen Videofilm der Polizei sehen konnte, in dem sie von einem Taschendieb praktisch darin geschult werden, zu erkennen, wie Taschendiebstähle begangen werden.

In Mailand nicht parkten vor einiger Zeit zwei Freunde ihren VW-Bus vor einem Café, wo sie auf die Schnelle ein Glas Wein tranken. Sie hatten die ganze Zeit ihr Auto im Blick – und paranoisch wie sie im diebischen Italien waren, schauten sie auch die ganze Zeit lauernd dorthin. Als sie weiterfahren wollten, sahen sie jedoch, dass ihnen zwei Räder fehlten – auf der dem Café abgewandten Seite des Wagens. Deprimiert ließen sie das Auto abschleppen und suchten sich ein natürlich viel zu teures Hotel. Die Gleichgültigkeit der Karabinieri, die den Diebstahl aufnahmen, gab ihnen dann den Rest. Abends schlenderten die beiden schlecht gelaunt an der Mailänder Scala vorbei. Vor den Eingängen stauten sich die reichen Freunde der italienischen Oper – in absolut edlen Garderoben. Aber alle hatten ihr Autoradio unterm Arm. Bei dem Anblick besserte sich die Laune meiner zwei Freunde schlagartig.

Überhaupt nicht lustig war dagegen das Erlebnis einer Gruppe westdeutscher Diskothekenbesitzer, die mit ihrem Schwarzgeld nach Rio gedüst waren. Dort kam ihnen irgendwann im Dschumm ihre Kölner Stimmungskanone abhanden. Erst zwei Tage später fanden sie den Mann wieder – vorm Hotel: Ihm fehlten nicht nur Geld und alle Papiere, sondern auch eine Niere. Der Kölner konnte sich an nichts erinnern, und die Polizei behauptete erst mal, er wäre bereits einnierig eingereist.

Ganz anders erging es meiner Freundin Ewa in Polen, die dort ein Bauernhaus hat – dazu acht Hühner. Eines morgens lagen sie alle tot im Stall. Sie vermutete einen nachbarlichen Racheakt – und fuhr wütend zur Polizei: “Das ist eine Riesensauerei und bestimmt nur wegen meines deutschen Freundes!”, schimpfte sie. Die Polizisten beruhigten sie: “Den Täter finden wir bald, es gibt da schon einen Verdacht!” Besänftigt kehrte Ewa zu ihrem Hof zurück – und schaute noch mal nach den toten Hühnern. Da entdeckte sie in einer Ecke des Stalls einen sibirischen Marderhund: Er war durchs Fenster gesprungen und kam nun nicht wieder raus. Sie fuhr daraufhin noch einmal zur Polizeiwache – und entschuldigte sich. Die Polizisten kuckten betreten: Sie waren inzwischen ihrem Verdacht nachgegangen und hatten den vermeintlichen Täter auch bereits abgestraft.

In der taz kam es lange Zeit immer mal wieder zu unangenehmen Diebstählen. Aber seit Henry am Empfang sitzt, kommen so gut wie keine Touristen mehr ins Haus. Ein Stockwerk höher erwartet sie sogar noch ein “Empfang” – der ehemalige, wo sich jetzt nur noch die Telefon- und Postzentrale befindet. Aber das wissen die Touristen natürlich nicht.

Touristen und Terroristen haben manches gemeinsam. Touristen treten allerdings meist offen und in Rudeln auf, Terroristen operieren dagegen eher verdeckt und nicht selten als Einzelne (wie z. B. der Hitlerattentäter vom 20. Juli, Stauffenberg). Der Tourismus legitimiert nahezu sämtliche Verschönerungsmaßnahmen einer Gegend, während der Terrorismus die staatlichen Verfolgungsorgane legitimiert: Wenn es ihn nicht gibt, müssen sie ihn sogar erfinden (so wie z. B. der KGB 1934 in Moskau die “Organisation Hitlerjugend”). Gemeinsam ist Touris und Terros, dass sie vorsichtig vorgehen, sich gerne an belebten Orten aufhalten und oft, scheinbar unmotiviert, Busse und U-Bahnen wechseln: erstere jedoch aus Unkenntnis, letztere als Vorsichtsmaßnahme.

So wie sich die Touristen vermehren, tun es aber auch die Terroristen. Und so wie erstere immer mehr knausern bzw. sich “was einfallen lassen” müssen, sind auch die Terroristen, nach Ansicht des Krisenforschers Herfried Münkler, mehr und mehr zu wirtschaftskriminellen Handlungen gezwungen – was sie ihrerseits ebenfalls immer misstrauischer macht, da sie sich so nurmehr scheinbar wie Fische im Wasser bewegen. All das nähert sie ebenfalls den Touristen an.

Da die Touristen gerne von ihrer eigenen Reisegepäckversicherung zehren und sich zu diesem Zweck selbst beklauen, steigen zum einen die Reisegepäckversicherungen ständig im Preis und zum anderen ermittelt die Polizei die Touristendiebstähle immer lustloser. In Lissabon, so erfuhr Wladimir Kaminer, auf der Polizeiwache für Touristen, die beklaut wurden – sie befand sich merkwürdigerweise im Hinterzimmer einer Apotheke: “Bei uns gibt es keine Touristendiebstähle. Und die wenigen klären wir fast zu 100 % auf.” Wie groß denn seine Chance wäre, den Koffer wieder zu bekommen, den man ihm im Café gestohlen hatte, wollte Wladimir daraufhin wissen. “Über 90%!” antwortete ihm einer der Polizisten, der perfekt Deutsch sprach. Und tatsächlich konnte er schon am nächsten Tag seine Tasche auf der Apotheken-Wache abholen – nur das Geld sicher. Wladimir ist sich sicher, dass die Diebe und Polizisten in Lissabon ein und die selbe Bande bilden – also zusammen arbeiten. Was sie sicher mit dem Kampf zur Abwehr von Terror legitimieren, den sie sich damit zugleich auch finanzieren.

In der Tat terroristisch wird der Tourist umgekehrt da, wo er durch seine schiere Anwesenheit Kneipen-Soziotope zerstört und ganze Viertel zum Umkippen bringt, die er danach gemeinerweise meidet wie die Pest. Das gilt für komplette “Urlaubsparadiese” wo jetzt ähnlich wie in vielen Kurorten riesige Hotelareale die Landschaft verschandeln – und leer stehen.

In manchen Gegenden nehmen deswegen die Terroristen besonders gerne Touristen (wie die Wallerts z. B.) als Geiseln. Und so wie es Reisegruppen gibt, die jahrzehntelang immer zusammen Urlaub machen, gibt es auch Terrorgruppen, die weder Verluste (Abgänge) haben noch neue Mitglieder aufnehmen – lange Zeit galt dies z. B. für die laut Spiegel “dienstälteste Guerilla Europas”: die kleine griechische “Revolutionäre Organisation 17. November”. Diese Gruppe wurde jedoch auch immer paranoischer – und erschoss zuletzt ausgerechnet den Junta-Widerständler Bakoyannis.

Übrigens haben diese Terroristen die langjährigen Fahndungsmisserfolge der staatlichen Organe auch und vor allem den Touristen zu verdanken, die man mit Rasterfahndungen, Straßensperren und Razzien nicht grob griechenlandmüde machen wollte. Ähnliche Verhältnisse haben wir jetzt im Urlaubsland Mecklenburg-Vorpommern, wo man nicht nur die bundesweit intelligentesten Polizisten beschäftigt. Sie sind inzwischen auch noch so höflich-weltgewandt, dass sie selbst betrunken Auto fahrenden Touristen den Weg zeigen, weil sie es vor allem auf deren Feinde – terroristische Neonazis und ähnliche Fischköppe – abgesehen haben, sich also eher als Touristenschützer und Terroristenjäger begreifen denn als StVOrdnungshüter. Vielleicht kann man es so sagen: Bei den Touristen und den Terroristen berühren sich nicht oft, aber immer öfter die Extreme.


Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/11/25/unter-tourismusverdacht/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert