vonHelmut Höge 13.12.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Das Wohn- und Industriegebiet zwischen der Warschauer Brücke und der Stralauer Halbinsel bzw. den Gleisen der Niederschlesischen Eisenbahn und dem Osthafen an der Spree heißt “Oberbaum-City” – seitdem die letzten Produktionsstätten des Berliner Glühlampenwerks (erst Osram und dann Narva genannt) zu Bürozwecken umgebaut wurden und die Speicher am Osthafen zu Musikkonzern-Zentralen und Lofts. Zu DDR-Zeiten und auch noch danach artikulierte sich hier vor allem die Produktion, wobei es erst ständig um ihre Erweiterung und Modernisierung ging und am Ende um den Erhalt wenigstens der letzten Arbeitsplätze “im Licht”, wie die Narva-Arbeiter das nannten.

Nach ihrer endgültigen Abwicklung wurde der Narva-Lichtturm, in dem sich die Lampenprüf-Abteilung befand, zur Firmenzentrale von Pixelpark umgerüstet – und man sprach von einer schicken neuen “Oberbaum-City”. Von hier aus wurde jedoch nur noch kurz Betriebsgeschichte geschrieben: Als die Praktikanten in diesem New-Economy-Projekt aufgrund seiner überraschenden Liquidation plötzlich auf der Straße standen, verfaßten sie ein Buch über das  “Scheitern”, dessen Veröffentlichung die taz sponsorte. Kürzlich zog der Chemiekonzern BASF dort ein.

Dafür räumte die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft mit ihren Modeklassen ein anderes riesiges Gebäude, weil man sie gezwungen hatte, zusammen mit ihren anderen Fachbereichen in Karlshorst einige leerstehende Fabriken in Oberschöneweide zu nutzen. In der dortigen Wilhelminenhofstraße gibt es nun  also ein wenig mehr (studentisches) Leben, während Karlshorst und “Oberbaum City” diesbezüglich veröden. In den  Narva-Gebäuden hatten sich inzwischen etliche Designer angesiedelt – in der Hoffnung, dass dort eine Modezentrum entstehen würde – nun sieht es jedoch eher – mit BASF – nach einem Chemiezentrum aus. Aber welches Zentrum auch immer – der ganze Komplex lebt nicht mehr, mindestens noch nicht.

Wenn überhaupt, dann hört man höchstens was aus dem dortigen Wohnbezirk, wobei die Geschichten zumeist im Umkreis des “Stralauer Kiezladens RuDi” entstehen. Kiez kommt von chyzz oder chiza und bezeichnete einmal  eine “armselige, vorstädtische Fischersiedlung”. Seit einigen Jahren gibt es dort aber auch ein  Kiez-Onlinemagazin namens “Kultstral.de”. Diese beiden Einrichtungen übernahmen vor einiger Zeit die Herausgabe des letzten Werkes des letzten Pressesprechers von Narva. Es heißt “Das BGW” und sein Autor ist Horst Liewald: Er war zwanzig Jahre lang  wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Narva gewesen und zuletzt Pressesprecher. Jetzt ist er Rentner – und wohnt dort: im Kiez O17 (nach heutiger Postleitzahl: 10245). Sein Buch kann man in “RuDis Kiezladen” käuflich erwerben.

Gleiches gilt für eine neue “Biographie” dieses Stadtteils – mit dem Titel: “East Side Story”, die gerade im Verlag Antje Lange erschien (siehe dazu auch: www.east-side-story-de). Der ebenfalls pensionierte Autor, Martin Wiebel, war langjähriger WDR Fernsehdramaturg und Filmproduzent, zuletzt Filmprofessor in Ludwigsburg. Er hatte nach der Wende in der Rotherstrasse das Haus seines Großvaters wieder erworben – und wollte von dort aus eigentlich einen Film über dieses Quartier rund um den Rudolfplatz, den seine Vorfahren einst mitbegründeten, drehen. Daraus wurde  jedoch zunächst ein Buch, das er dann – als “Urenkel des Stadtteilvaters Maximilian Koch” – im Rahmen eines Hoffestes im “Koch’schen Erbkarree” vorstellte. Dort wurde gleichzeitig auch noch im Beisein von Ex-Bürgermeister Mendiburo eine Gedenktafel enthüllt. Wiebels üppig illustrierte “East Side Story” umfaßt aber auch die Geschichte des Berliner Glühlampenwerks – vom Anfang bis zum Ende, die einmalige Bombardierung des Viertels, den Wiederaufbau, den 17.Juni 1953 und etliche “Erinnerungsspaziergänge” mit Alteingesessenen.

Der Autor zog erst dorthin, als nicht nur das BGW, sondern auch die Schichtarbeiterkneipe “Zur Glühbirne” schon verschwunden waren, dafür gibt es nun in seinem Buch ein Kapitel über die an ihrer Stelle entstandene “Oberbaum City”, die er “Berlins Upper East Side” nennt – und “ein gesellschaftliches Modellquartier”. Wozu nicht nur bereits die Mustersiedlung seines Großvaters beitrug, sondern auch die heutigen Aktivitäten des Enkels rund um den Rudolfplatz, der dort seine Kindheit verbrachte. Jetzt  geht es ihm dabei um die “Rückeroberung eines Stadtteils”.

Dazu gründete Wiebel am 8.Mai 1999 eine “IG Eigentümer und Verwaltungen”, die z.B. gegen die Schließung der Grundschule und die Errichtung einer Sondermüll-Anlage der BSR kämpfte, zur postklerikalen Nutzung der dortigen Kirche einen Verein gründete und  die Rotherstrasse mit Rotdornbäumen bepflanzte. In gewisser Weise gehört auch noch seine Stadtteil-“Biographie” dazu, die er  “als geordnete Materialsammlung aus betroffener Sicht” zu lesen empfiehlt – in der Hoffnung, dabei “die wieder erwachte Liebe des Autors zum Wohnquartier seiner Vorfahren mitempfinden” zu können: “Diese kleine Welt” zwischen der Oberbaumbrücke und der Rummelsburg. Letzteres war laut Wiebel zuerst ein Waisenhaus und dann ein Stasi-Gefängnis  – und wurde schließlich abgewickelt zu einem Drehort des neuen gesamtdeutschen Films.

“Es ist sicher kein Zufall,” schreibt er, “daß inzwischen renommierte Maler wie Markus Lüppertz und Corinna Wasmuth hierher gezogen sind, wo die Szene (noch) nicht ist. Auch Jungfamilien entdecken die Gegend mit einem Kita-Angebot ohnegleichen und einem Rudolfplatz in der Mitte…” Eine, aus Westdeutschland zugezogene Mutter, läßt der Autor bereits zu Wort kommen: “Achtzehn eingetragene Baudenkmäler sind doch schon was besonderes rund um unseren Schmuckplatz,’ findet sie.” Die Veröffentlichung der “East Side Story” wurde im übrigen vom “Kleinen Urban-Fond” gesponsort, die Interviews darin führte Martin Wiebel zusammen mit Anne-Katrin Ebert – für ihre Arbeit: “Der Stralauer Kiez in der sprechenden Erinnerung seiner BewohnerInnen”. Nun gehört Wiebel selbst dazu – und sammelt bereits alte Erinnerungsstücke aus Kellern und Dachböden – die quasi für sich selbst sprechen.
Dem Narva-Chronisten Liewald kamen nach Veröffentlichung seines Buches noch jede Menge weiterer Erinnerungen an das BGW, außerdem wendeten sich Leser an ihn mit neuen Geschichten, so dass er nun laufend “Ergänzungen” zu seinem Buch veröffentlicht. Auch bei dem  Kiezchronisten Wiebel meldeten sich etliche Leser – alte Leute zumeist, die dieses oder jenes in seinem Buch erwähnte Ereignis (z.B. “den Moment, als die Russen kamen”) selbst erlebt hatten, die Tochter des letzten Schlachters am Rudolfplatz z.B.. Zusammen mit zwei Studenten der Potsdamer Hochschule für Film- und Fernsehen machte er Interviews mit ihnen – 25 Stunden insgesamt, aus denen er dann für den SFB einen 45 Minuten-Film zusammenstellte: “Steine können sich nicht erinnern”.

Außerdem setzte er sich zwecks Fortsetzung seiner Kiezforschung mit dem Leiter des  Kreuzberg-Museums in Verbindung, in dessen Institution das Friedrichshainer Museum nach der Bezirksfusion aufgegangen ist. Im letzteren fand schon einmal nach der Wende eine Ausstellung über das Rudolfplatz-Quartier statt, wobei man sich jedoch auf die Geschichte des Berliner Glühlampenwerks konzentriert hatte. Damals arbeitete man dabei noch mit den Resten  der Narva-Belegschaft zusammen. Diese gibt es nun nicht mehr. Der erste und letzte Betriebsratsvorsitzende Michael Müller ist zwar noch vor Ort: als Hausmeister der “Oberbaum City” – wie das Werksgelände heute heißt, aber der leidenschaftliche Wanderer und Angler hat andere Probleme: z.B. dass der Stausee an seinem Dauercamperareal in Niesky trotz  Rückgang der Schadstoffeinleitungen infolge der Stillegung nahezu sämtlicher  Fabriken ringsum immer mehr veralgt, so dass sogar schon der Fischbesatz davon betroffen ist.

Darüber sprachen wir gestern, als ich ihn besuchte – von Kollege zu Kollege quasi. Weil in den Büros des Gebäudemanagements nicht geraucht werden durfte, unterhielten wir uns draußen auf einem der Innenhöfe an einem extra zu diesem Zweck an die Wand gedübelten Achenbecher. Uns wurde es dort jedoch schnell zu kalt. Immerhin erfuhr ich dabei, dass der bayrische Großbauer und Investor Härtl, der Narva nach der Wende zusammen mit der Bayernhypo übernahm, von seiner Bank bald ausgebootet wurde. Müller war als Betriebsratsvorsitzender immer gut mit Härtl klar gekommen, nun ist er Hausmeister bei der üblen Bayernhypo.

Zur Erinnerung:

In zähem öffentlichen Ringen war es 1992 dem Narva-Betriebsrat gelungen, den schon genehmigten Verkauf ihrer überaus lukrativen Immobilie durch die Treuhand an das sogenannte Klingbeil-Konsortium wieder rückgängig zu machen. Zum Zuge kam statt dessen Erhard Härtl. Das Klingbeil-Konsortium hatte für 300.000 Quadratmeter 30 Millionen DM geboten und wollte außerdem “etwa 220 Mitarbeiter” übernehmen. Härtl zahlte dann für die auf 50.000 Quadratmetern reduzierte Immobilie 242 Millionen DM, außerdem übernahm er eine dreijährige Beschäftigungsgarantie für sämtliche damals noch verbliebenen 1.080 Narva-Mitarbeiter. Von Senat und Treuhand bekam er dafür ein Ausweichgelände in Johannisthal sowie einen Lohnkostenzuschuß in Höhe von 42 Millionen DM.

Das Ganze wurde als “Narva- Modell” bezeichnet und vielfach gepriesen. Dem Betriebsrat gelang es darüber hinaus, einen der für diesen Deal verantwortlichen Frankfurter Bankmanager, Jesus Comesana, als Geschäftsführer der neuen Firma “Priamos GmbH” zu verpflichten. Die Probleme begannen schnell und hatten nicht nur mit der damals schnell erlahmenden Berlin-Konjunktur zu tun:

Die Baugenehmigung für den Johannisthaler Gewerbepark  wurde vom Treptower Bezirksamt lange nicht erteilt. Härtls Konzept sah eine sofortige Umschulung der Narva-Belegschaft im Hinblick auf die in Johannisthal anzusiedelnden Drittfirmen vor. Als erstes verweigerte hierbei das Arbeitsamt seine finanzielle Mitwirkung, weil – paradoxe Argumentation – der “allzu hieb- und stichfeste Vertrag” zwischen Betriebsrat und Gesellschafter eine Gefährdung der Arbeitsplätze auf drei Jahre quasi ausschloß – und also kein akuter Umschulungsbedarf bestand! Auch eine schweren Herzens vom Betriebsrat unterschriebene “Öffnungsklausel” konnte an der Arbeitsamt-Blockade nichts ändern, und also auch nichts Wesentliches an der Tatsache, daß seit der Privatisierung über die Hälfte der Narva-Belegschaft “zu Hause saß – bei vollem Lohnausgleich, und mit sinkender Arbeitsmotivation”, wie der Vorsitzende im “Priamos- Beirat”, Peter-Martin Bock, vormals Arbeitnehmervertreter im Narva-Aufsichtsrat, meinte.

Bald kamen jedoch noch mehr Hindernisse bei der Umsetzung des Härtl-Konzepts hinzu: Erst waren es sechs Pappeln, die bei der Neubebauung des Johannisthal- Geländes im Weg standen und die plötzlich unter Naturschutz gestellt wurden, dann war es ein zimmergroßes Feuchtbiotop, das für erhaltenswert erklärt wurde, und schließlich ein Bunker aus dem Zweitem Weltkrieg, der – als Trockenbiotop – zur neuen Heimat für einige vom Aussterben bedrohte Fledermäuse werden sollte. Derweil ließen sich auch die Denkmalschützer beim Umbau der Narva- Gebäude in Friedrichshain etwas einfallen: Sie verlangten kategorisch eine Ersetzung der bereits bestellten Metallfenster durch ebensolche aus Holz. Und zuletzt geriet auch noch die Baugenehmigung für das gesamte Johannisthal-Vorhaben ins Wanken, und die dort mit der Ansiedlung liebäugelnden Firmen sprangen eine nach der anderen ab.

In dieser Situation – anderthalb Jahre nach der Privatisierung – trennten sich Betriebsrat und Gesellschafter von ihrem entnervten Geschäftsführer Comesana, der zuletzt nur noch enttäuscht vor sich hinmurmelte: “Die Leute hier haben einfach keine Cochones!”. Der Betriebsrat hatte schon Mitte 93 angefangen, Härtl und die Treuhand zu warnen: Wenn nicht bald etwas geschieht, geht das gesamte “Modell” den Bach runter. Auch intern häuften sich die Schwierigkeiten: Wegen Patentproblemen, die Osram/Philips der Narva- Lichtproduktion bereiteten, gerieten in diesem Bereich die Verluste erheblich höher als von Comesana veranschlagt, ferner erwiesen sich die in der Priamos GmbH vorbereiteten Gründungen neuer Betriebe als nicht sofort erfolgreich.

Härtl mußte deshalb monatlich Millionen-Summen zuschustern. Und dem Betriebsratskollektiv waren, auf der Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes agierend, zumeist die Hände gebunden. “Wenn man die Zahlen kennt, dann wäre es schon ein Riesenerfolg, es mit nunmehr 500 Beschäftigten zu schaffen”, erklärte ein Betriebsrat, “die Aussetzung der Beschäftigungsgarantie war die einzige Chance, daß wir überhaupt noch weitermachen können.” Ein anderer ergänzt, leicht verbittert und ähnlich wie Comesana denkend: “Das Problem sind nicht die Gegner, sondern das Unverständnis derer, die ich vertrete. Ich will es mal so sagen: die Mitläufer von vor 89 sind das Problem in den neuen Bundesländern. Also jene, die das Wort Solidarität im Schlaf vorwärts und rückwärts buchstabieren konnten. Das ist eine ganz schlimme Erfahrung, dagegen war die Auseinandersetzung mit Klingbeil geradezu ein Kinderspiel.” Zwei Jahre hätte die Mehrheit der Mitarbeiter “nicht den Arsch hochgekriegt” und sich in keinster Weise am “Projekt Priamos” beteiligt. Die jetzigen Entlassungen seien das Ergebnis ihrer Untätigkeit. Nachdem es “in letzter Minute” gelungen war, die Treuhand zur Stornierung der Härtlschen Arbeitsplatzgarantie zu bewegen, wurde sofort 480 Mitarbeitern gekündigt. Der Betriebsrat legte einen Sozialplan für sie vor. Weitere 260 Mitarbeiter, die wie die entlassenen voll entlohnt zu Hause gesessen hatten, gingen in “Kurzarbeit Null”. Das Arbeitsamt übernahm damit einen Großteil der Lohnkosten, und auch schließlich doch die Übernahme von Umschulungskosten.

Von den in Vollbeschäftigung verbleibenden 260 Belegschaftsmitgliedern arbeitete nur ein kleiner Teil in der Verwaltung der Priamos GmbH auf dem Narva-Gelände weiter. Über zweihundert Mitarbeiter wurden in der Lampenproduktion, im “Blitz- Service” (Glas- und Gebäudereinigung, Kurierdienst, Wach- und Schließdienste, Büro-Versorgung und -Verpflegung) und im “Corpus-Projektbau” (diverse Handwerker-Dienste und ein Büromöbel-Vertrieb). All diese Bereiche verstanden sich als in Ausgründung begriffen.

Zehn Jahre später, Mitte 2004 wurde einer aus diesen ausgegründeten Narve-Bereichen, Matthias Pfau, von Burga Kalinowski für den “Freitag” interviewt (ich hoffe, die Übernahme dieses Textes hier in den blog nimmt mir die Autorin nicht übel):

Er sagt “Arbeit”, nie “Job”. Arbeit sei mehr als Geldverdienen. Manchmal fährt er doch über die Rusche-Straße in Berlin-Lichtenberg, vorbei am Arbeitsamt. Sieht Leute auf dem Weg zur Nummerierung. Sieht die Müdigkeit in ihrem Gang und sieht in diesen Augen-Blicken auch sich. Hätte ihm ebenso passieren können. Glück gehabt? Mut? Im richtigen Moment gehandelt? Vielleicht alles zusammen.  Ja, sagt Matthias Pfau, ich muss nicht zum Arbeitsamt. Ich war da noch nie. Sein Weg laufe anders, und das habe natürlich mit der Vergangenheit zu tun. Mit der seines 37-jährigen Lebens bis 1989 und mit der seitdem. Wie war der Sommer 89 eigentlich? Verdammt lange her.  Pfau holt einen Stoß Zeitungen aus dem Schrank  Wir sind im Sitzungsraum der Gesellschaft für Lichttechnische Erzeugnisse (G.L.E.), die unter dem Markenzeichen Narva mit zwei weiteren Firmen die Abwicklung des einstigen (Ost-)Berliner Glühlampenwerkes VEB Narva “Rosa Luxemburg” überlebt hat.

Wie es dazu kam? – Dr. Matthias Pfau (52), einer der drei Geschäftsführer der G.L.E., erklärt den durchaus unüblichen Fall, der Treuhandpolitik entkommen zu sein, mit einem Bild aus dem Tierreich: Wir waren die Spatzen, die sich die Krümel vom Boden pickten. Das störte die großen Raubvögel nicht. Man könnte es auch so sagen: Rest-Narva ist für die drei Großen des Weltlichtmarktes Philips, General Electric und Osram (Siemens) alles andere als ein Konkurrent. Das sah zu DDR-Zeiten ein bisschen anders aus.  So ist das. Matthias Pfau grient, zündet sich eine Zigarette an, ruckelt den Stuhl zurecht und guckt dem Rauch hinterher. Pause. “Ich zeig Ihnen was.” Er holt einen Stoß Zeitungsbände aus dem Schrank, einige Jahrgänge der Betriebszeitung Die Lichtquelle, auch ein Stück Geschichte. Die habe er vor dem Schredder gerettet. Aber das kam später. Bleiben wir erst einmal im Sommer 1989.

Die Normalität des Hinnehmens wird löchrig. Nicht vergessen ist der Januar 1988, als Demonstranten die SED-Führung mit dem Luxemburg-Zitat “Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden” konfrontieren. In schlechter Erinnerung ist auch das Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik im gleichen Jahr, als Glasnost und Perestroika viele DDR-Bürger nun tatsächlich zu Freunden des Großen Bruders werden lassen. Im Frühsommer 89 weisen Bürgerrechtler Fälschungen bei den kurz zuvor abgehaltenen Kommunalwahlen nach. Namen wie Wolfgang Ullmann, Carlo Jordan, Wolfgang Rüddenklau werden genannt, Orte des Widerstandes wie Sophien-Kirche und Samariterkirche im Berliner Friedrichshain bekannt, Tatsachen nicht mehr getuschelt. Das beipflichtende Nicken der DDR-Führung zum 4. Juni 1989 in Peking, als die Armee den Protest von Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewaltsam beendet, wird als Warnung nach innen verstanden.  “Ich war” – erzählt Pfau – “vor einem Jahr in Peking, war auf dem Tiananmen-Platz und habe gedacht: Ungarn 56, CSSR 68 oder Polen in den Achtzigern. Diese Linie, eine Gesellschaft mit Gewalt zusammen zu halten, hat keine Zukunft. Das gilt für alle Gesellschaften.”

Ein Bericht der Abteilung Sicherheitsfragen im Zentralkomitee der SED stellt im Juli 1989 “Resignation als Massenphänomen” fest und spricht von sich anbahnenden “Massenprotesten”. Mit dem Sommer kommt ein Grummeln übers Land, das lauter wird. Die Leute wehren sich oder gehen einfach.  “Unsere Pausen in der Kantine wurden länger und länger, die Diskussionen deutlicher und heftiger. Alle hatten das Gefühl, hier passiert jetzt was. Das ging ja so schnell. Erst die Flüchtlinge über Ungarn, dann über Prag. Ganze Familien, die in den Botschaften saßen. Auch bei Narva fehlten plötzlich Leute, die täglichen Mitteilungen der Betriebsleitung klangen sehr nach Durchhalten. Es war Endzeitstimmung im Bauch, ohne dass man im Kopf schon begriffen hatte, was da passierte.”

Der Gaul Geschichte galoppiert. Wohin? – fragt sich auch Matthias Pfau und denkt nicht im Traum daran, dass sich gewiefte Jockeys aus einem anderen Stall in den Sattel werfen und die Zügel an sich reißen könnten. Er hat “unheimlich viel Hoffnung” und stellt sich eine solidarische Gesellschaft vor. Naiv nennt er das heute, eine Tarnung für Enttäuschung.  Am Tag nach der Maueröffnung ist das Glühlampenwerk so gut wie leer. Dann wird wieder gearbeitet. Leben zwischen Moral und Moneten. Arbeiter aus dem Drahtwerk des Werkes wünschen sich das Soziale vom Osten und das Bunte vom Westen.

Matthias Pfau fährt im Frühjahr 1990 zum ersten Mal rüber. Den Hunderter holt er sich nicht, aber lernt die andere Seite der Stadt kennen und hat das Gefühl, an historischen Vorgängen sehr direkt beteiligt zu sein. “Es war eine verrückte Zeit. Soviel Offenheit, so herrlich chaotisch – soviel schien machbar.” Er denkt über die SED, inzwischen die PDS, nach, in der er seit zwölf Jahren ist, und von der er immer hoffte, “dass Idioten und Ignoranten die Minderheit sind.” Er ist ehrlich mit sich selbst und fragt nach Schuld und Schaden für andere, kann getrost nein sagen, kann und will aber Verantwortung nicht abgeben: Zu wenig nachgefragt, nicht reagiert und gehandelt, als klar war, es läuft etwas schief. Es bleibt als Lebensfrage: Warum hat man es nicht wenigstens versucht? “Da habe ich mir gesagt, so funktionierst du nie wieder.”  Pfau wird hellhörig, als aus “Wir sind das Volk!” “Wir sind ein Volk!” wird. Als er Ende 89 Kohls Rede in Dresden hört, als Osram Narva-Arbeiter mit Kusshand einstellt und die CDU bei den Wahlen im März 1990 als klarer Sieger durchs Ziel geht. Gaul Geschichte, du hinkst. Die Währungsunion am 1. Juli 1990 setzt den Endpunkt hinter seine Hoffnungen. Pfau schnappt sich Frau und Kinder. Sie fahren zelten “irgendwo im Wald” und gehen Beeren sammeln.

Freundlich aber bestimmt beendet Matthias Pfau an dieser Stelle seinen Rückblick. Er ist in der G.L.E. verantwortlich für Marketing und Vertrieb, hat enge Termine. Wir vereinbaren unser nächstes Gespräch für den 1. Juli 2004. Das passt gut. Da gibt er nämlich ein Essen für die Kollegen seines Bereiches aus. Das tut er immer, wenn der vergangene Monat gut lief. Das Heute hängt mit dem Damals zusammen.  Stationen der Erinnerung: Die Modrow-Regierung versucht noch, volkseigene Betriebe in GmbH zu überführen, um einen sanften Übergang in marktwirtschaftliche Verhältnisse zu ermöglichen. Der Runde Tisch fordert die Bildung einer Treuhandanstalt – “zur Sicherung der Rechte und des Eigentums der Bürger” am DDR-Vermögen, damit “das in Volksbesitz befindliche Eigentum (…) in der DDR nicht herrenlos wird und einfach verschwindet.” Die Sorge ist berechtigt, wie sich zeigen wird. Im Februar 1990 spricht Ministerpräsident Modrow von 1,4 Billionen DM Wirtschaftsvermögen, Christa Luft wenig später von 900 Milliarden, Treuhandchef Rohwedder von mindestens 600 Milliarden. Ein Ost-SPD-Papier aus dieser Zeit stellt hellsichtig fest, dass “unser aller Ersparnisse vielleicht für den Erwerb von zehn Prozent allen Eigentums im Lande” reichen würden, doch “wäre (es) pervers, noch einmal zu bezahlen, was uns de facto bereits gehört …”

Das sieht Matthias Pfau bis heute nicht anders. “Wir haben ja dann unser Volkseigentum partiell für die G.L.E. kaufen müssen.” Das passiert 1994. Bis dahin erlebt Pfau die Abwicklung des Berliner Glühlampenwerkes aus nächster Nähe: die halbherzigen Rettungsversuche und das absehbare Scheitern des Privatisierungskonzeptes der Treuhand – kurz die Abschaffung eines Traditionsbetriebes, in dem 5.000 Menschen arbeiten.

“Mir war klar, was mit der Währungsunion kommt: Massenkündigungen, sämtliche Märkte brechen weg, alle Werte werden zu Schrott. Werten Sie mal eine x-beliebige Volkswirtschaft um 400 bis 500 Prozent auf. Die geht unter, wie bei uns.”  Das Glühlampenwerk geht 1992 für 254 Millionen DM an den bayrischen Firmensanierer und Immobilienentwickler Härtl, der als Priamos firmiert. Die Immobilie – heute die “Oberbaum City” – geht an Sirius, gleichfalls ein Unternehmen von Härtl. Priamos übernimmt 1.080 Beschäftigte mit einer dreijährigen Arbeitsplatzgarantie und Umschulungsangeboten – aus beidem wird nichts. Das Privatisierungsmodell schließt die traditionelle Nutzung des Narva-Geländes so gut wie aus. Gerüchteweise soll Härtl dem Osram-Konzern die schnellstmögliche Beendigung der bisherigen Produktion zugesagt haben. Das Berliner Glühlampenwerk wird schließlich zu Schleuderpreisen verscherbelt.

In dieser Zeit rettet Matthias Pfau nicht nur die Bände mit der Betriebszeitung vor dem Schredder, auch technische Dokumentationen, Entwicklungsberichte und Betriebsbilanzen. Dabei findet er das historische Gründungsdokument der Berliner Glühlampenproduktion von 1893. Das steht nun neben den Betriebszeitungen und Hyperion im Büroschrank.  Hölderlin? Pfau zuckt mit den Schultern. Er liebt auch Puschkin, Fontane, Aitmatow. Eigentlich wollte er Dramaturgie studieren. Hat aber nicht geklappt. Gelegentlich trage er westlichen Besuchern vor, was Hyperion an Bellarmin schreibt: “… ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen. Herren und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinanderliegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sand zerrinnt?”  Mancher Gast käme hernach ins Nachdenken.

So ging es Pfau mit Priamos. “Ein interessanter Name. So hieß der letzte König von Troja, bevor es unterging.” Bei Priamos kommt Dr. Ing.oec. Pfau in die Unternehmensplanung und soll 1.080 Leute in Brot und Arbeit bringen, tatsächlich aber ein Stück Absurdistan der Marktwirtschaft aufführen: er soll Schuhgeschäfte ansiedeln und Kollegen zu Verkäufern umschulen.  “Dann wurden 500 Leute entlassen – trotz Beschäftigungsgarantie. Das war das Schlimmste. Ich sollte einem Kollegen die Papiere geben, mit dem ich jahrelang zusammen gearbeitet hatte … Wissen Sie, wie man sich da fühlt? Es war nur zum Kotzen. Ich habe mich danach gefragt, warum hast du nicht nein gesagt? Das war es eben: Ich hatte doch wieder funktioniert.”

Vielleicht war das der letzte Anstoß. Jedenfalls laufen Pfaus Überlegungen von da an auf einen Punkt zu: Eine eigene Firma gründen. Mit Kollegen entwickelt er das Konzept der Gesellschaft für Lichttechnische Erzeugnisse. “Hätten wir damals über die Dimension der Entscheidung nachgedacht, vielleicht wären wir dann das Risiko nicht eingegangen. Aber man lernt mit dem Druck zu leben und nach dem Prinzip Hoffnung zu handeln.”

Vera Müller, Matthias Pfau und Dietmar Schubert schmeißen 1994 ihr gesamtes Vermögen in einen Topf, melden Förderungen an, verhandeln den ganzen Sommer mit Priamos über den Rauskauf von Narva-Technik. “Kaufen hieß Kohle, die wir nicht hatten. Schwache Eigenkapitaldecke – das geht fast jedem Ostdeutschen so. Banken sind in diesem Fall sehr zurückhaltend. Wir saßen beim Notar und hatten selbstschuldnerische Bürgschaften am Hals. Ich habe nächtelang nicht geschlafen.”  Seit dem 1. November 1994 gibt es die G.L.E, und das Konzept funktioniert. Narva bleibt ein solides Markenzeichen. “In dieser Firma wird man nicht reich, aber wir kommen gut miteinander hin”, meint Pfau. 87 Kollegen haben Arbeit.

Eine Erfolgsgeschichte also? Pfau weiß nicht so recht. Eher eine über Veränderung und Erfahrung. “Das haben wir doch voraus; Was gottgegeben schien, zerbrach in Wochen. Manchmal kommt mir der Gedanke, vielleicht erlebe ich noch ne Wende…”

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/12/13/diese-kleine-welt-an-der-warschauer-bruecke/

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