vonHelmut Höge 23.02.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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1. aus “media reloaded” (12.1.07):

Siemens gewinnt gegen Süddeutsche Zeitung” – Der Technologiekonzern Siemens kann in einem Streit mit der Süddeutschen Zeitung über deren Kommentierung der Schwarzgeld-Affäre einen juristischen Erfolg verbuchen.

Das Blatt hatte in einem Kommentar zu den Schmiergeldvorwürfen gegen Siemens-Mitarbeiter geschrieben:

“Es war Teil der Siemens-Kultur. Wer beim Schmieren aufflog, wurde den Strafverfolgern geopfert und mit einer hohen Sonderzahlung ruhiggestellt. Es war ein zynisches Geschäft: Lebenslange Versorgung für die ganze Familie gegen Stillschweigen; die Mafia lässt grüßen.”

Das Landgericht München urteilte am Mittwoch, das Blatt dürfe die Behauptung nicht mehr wiederholen. Ein Verstoß gegen das Verbot werde mit einem Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro belegt, hieß es. Eine schriftliche Begründung liegt noch nicht vor.

2. “Kritische Loyalität” forderte das Handelsblatt – auch und gerade von Siemensianern:

“Wenn über Jahre hinweg beträchtliche Summen für schwarze Kassen abgezweigt werden, besteht das Problem nicht bei einzelnen Personen, sondern bei der Organisation. Korruption untergräbt das Systemvertrauen, und dies gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen lässt Korruption das Zutrauen der Bürger in die Marktwirtschaft erodieren. Zum anderen unterminiert sie das Vertrauen zwischen Vertragspartnern.

Wirtschaftsethisch betrachtet, ist Korruption also nicht Schmiermittel, sondern ganz im Gegenteil: Sand im Getriebe der Marktwirtschaft. Insofern ist es ein berechtigtes moralisches Anliegen, Korruption wirksam zu bekämpfen. Auf dem Weg dorthin hilft moralisierende Empörung freilich nur bedingt weiter.

Korruption kann nicht gedeihen, wenn das Unternehmen eine Kultur kritischer Loyalität pflegt.

Deutschland schöpft die Möglichkeiten einer wirksamen Korruptionsprävention nicht voll aus. Wir haben es hier folglich nicht mit einem Wissensproblem zu tun, sondern mit einem Anreizproblem.”

3. Wie sich diesbezüglich mehr Anreize schaffen lassen, das legt ein FAZ-Artikel von gestern nahe. Es geht um sechs Zementhersteller, die wegen Preisabsprachen zu einer hohen Geldbuße verurteilt wurden (dazu Näheres in einem blog von mir). Nun kommt aber noch ein weiterer – noch interessanterer Prozeß auf die Betonköpfe zu:

“Sechs führende deutsche Zementhersteller haben in einer millionenschweren Schadensersatzklage eine Niederlage hinnehmen müssen. Den Unternehmen Heidelberg Cement, Schwenk, Lafarge, Dyckerhoff, Cemex (früher Readymix) und Holcim wird vorgeworfen, sich mehr als zehn Jahre lang an einem deutschen Kartell beteiligt und so überhöhte Preis durchgesetzt zu haben. Das Düsseldorfer Landgericht hat am Mittwoch die – in prozessrechtlicher Hinsicht bisher einmalige – Klage der belgischen Aktiengesellschaft Cartel Damage Claims (CDC) für zulässig erklärt.

Mit dem Verfahren versucht das Unternehmen die Ansprüche von 29 von dem Kartell mutmaßlich geschädigten gewerblichen Kunden in Höhe von mindestens 114 Millionen Euro zuzüglich Zinsen durchzusetzen. Der Fall erregte bereits im Jahr 2003 Aufsehen, als das Bundeskartellamt Rekordstrafen in Höhe von insgesamt 660 Millionen Euro gegen die Firmen verhängte. Bis auf Readymix haben jedoch alle Unternehmen gegen die Bußgelder Beschwerden vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf eingelegt, über die noch verhandelt werden muss.  Das Landgericht Düsseldorf hat zwar noch nicht abschließend darüber entschieden, ob die sechs Zementhersteller tatsächlich Schadensersatz zahlen müssen. Trotzdem hat die Kammer mit diesem Zwischenurteil bereits juristisches Neuland betreten.

Besonders die Rolle von CDC war in der mündlichen Verhandlung im Dezember umstritten. Die Gesellschaft hatte die Ansprüche von den 29 Kunden gekauft und vertritt sie nun im eigenen Namen vor Gericht. Die Firmen erhielten dafür einen Kaufpreis von 100 Euro und beteiligen sich mit einem Vorschuss an den Verfahrenskosten. Im Gegenzug erhalten sie rund 85 Prozent des vor Gericht erzielten Erlöses, sollte CDC mit seiner Klage erfolgreich sein. “Gegen die grundsätzliche Wirksamkeit der Abtretung ergeben sich keine Bedenken”, betonten die Richter nun.  Die Entscheidung bereite einem mit den amerikanischen Sammelklagen vergleichbaren Geschäftsmodell den Boden, sagte Frederik Wiemer, Kartellrechtler der Kanzlei Allen & Overy, der an dem Verfahren nicht beteiligt ist. “Dies ist ein klarer Schritt in Richtung der amerikanischen Prozesskultur, der eine ganze Lawine ähnlicher Verfahren lostreten könnte.”

In der mündlichen Verhandlung hatten Rechtsvertreter der beklagten Zementkonzerne eine Flut von “spekulativen und unseriösen Klagen” vorausgesagt, sollte es “so einfach sein”, eine Gesellschaft zur Bündelung von Forderungen zu gründen. CDC hingegen argumentiert, dass für die einzelnen Geschädigten eine so umfangreiche Klage anders nicht zu bestreiten wäre…”

4. Am gleichen Tag berichtete die FAZ, dass die wegen Preisabsprachen gegen vier große Aufzughersteller verhängten Brüssler Bußgelder einen neuen “Rekord” darstellen: Allein Thyssen-Krupp muß nun fast 500 Millionen Euro zahlen.

Nach Ansicht der EU-Wettbewerbskommission haben die Absprachen den Wettbewerb “für viele weitere Jahre verfälscht”. Kroes nannte es “empörend”, dass die Unternehmen die Installations- und Wartungskosten durch ihre Absprachen “künstlich aufgebläht” hätten. Der von ihnen verursachte Schaden werde sich noch in vielen Jahren auswirken. “Die Erinnerung an die festgesetzten Geldbußen sollte für die betreffenden Unternehmen ebenso lange dauern”, sagte die Kommissarin.

5. Vanity Fair berichtete, sich dabei auf eine andere Zeitung stützend:

Dem Zeitungsbericht zufolge reichen die Vorwürfe Kutschenreuters an die Spitze des Siemenskonzerns  aber noch viel weiter: Seine Zeugenaussage zeichne das Bild eines Unternehmens, in dem die Zahlung von Bestechungsgeldern gang und gäbe sowie durchorganisiert gewesen sei, berichtete das Blatt. Kutschenreuter habe schon in den 80er Jahren einen Geheimcode kennen gelernt, mit dem Siemens intern Korruptionszahlungen verbucht habe.

Außerdem zitierte die Zeitung aus der Zeugenaussage, wonach Kutschenreuter nach eigener Darstellung Mitte der 90er Jahren Bestechungszahlungen für Projekte in Russland und der Slowakei mitbekommen habe. Ende der 90er Jahre habe er von Zahlungen an argentinische Regierungsbeamte erfahren — damals sei Siemens an einem Auftrag für elektronisch lesbare Pässe interessiert gewesen. Siemens bestritt Korruptionszahlungen in den drei Ländern.

6. Auf der Suche in meiner Text-Halde – nach dem Siemens-Hauptstadtbüro, d.h. wann es eröffnet und wann es wieder geschlossen wurde, fand ich zwar keine befriedigende Antwort – stieß dabei jedoch auf eine Reihe anderer Siemensia:

Auf einer Konferenz des Westberliner Wirtschaftssenators über die Perspektiven des Wirtschaftsstandorts führte der Berliner Siemens-Vertreter im neuen Siemens-Hauptstadtbüro Erich Gérard aus: “Die Nachkommen unseres Unternehmensgründers sind in Bayern, am Starnberger See, groß geworden und fühlen sich heute dort sehr wohl.” Deswegen müsse “das Havelland auch so werden wie das Münchner Umland”, erst dann könne über eine Rückverlagerung der Konzernzentrale nach Berlin nachgedacht werden. In diesem Zusammenhang beschwerte sich der Gérard sogleich über die Potsdamer Regierung, die ihm angeblich signalisiert hatte: “Wir wollen hier keine Schickimicki-Siedlungen.”

7. “Starlight” am Stutgarter Platz, 23.9. 95, 110 Mark: drei Piccolo mit Däng, einer thailändischen “Lady-Man” – wie alle anderen “Frauen” im “Starlight” auch, sie ist jedoch die kleinste dort. Die anderen Transvestiten waren mit ihren dicken Silikonbrüsten sofort über mich hergefallen und hatten erst abgelassen, als ich sagte, ich suche “Oy-Siemens”. Das Wort wirkte wahre Wunder: Sie spritzten geradezu auseinander – und statt mir die Brieftasche zu klauen, boten sie mir einen Joint an.

“Oy-Siemens” hatte vor langer Zeit im “Starlight” gearbeitet. Sie meinte: “Ich hatte es dort als einzige Frau nicht leicht, glaub mir, einmal habe ich mir sogar mit dem Messer Respekt verschaffen müssen.” Oy lernte dort einen gutaussehenden arbeitslosen Textilarbeiter kennen, den sie erst heiratete und mit dem sie dann ein und wenig später noch ein weiteres Thai-Bordell in der Moabiter Siemensstraße eröffnete. Seitdem heißt sie “Oy-Siemens” bei den Thailändern in Berlin. Ihre Geschäfte gingen gut – zu gut sogar. Ihr Mann kam nicht mit den Steuern und den sonstigen Zahlungen an Behörden klar – und die beiden verloren ihre Geschäfte. Oy-Siemens erwarb in dieser kritischen Konkursphase drei große Buddhastatuen, die sie erst ins Weddinger Wat-Thai-Kloster stellte und dann ins buddhistische Kloster in Frohnau, vor ihnen betete sie fortan fast täglich. Es nützte jedoch alles nichts.

Schließlich nahm ich sie und ihre zwei Kinder in meiner Wohnung auf – und ihren Mann dann auch noch. Als sie dann einen Job in einem Kassler Bordell fand – und es ihr langsam wieder besser ging,  veröffentlichte ich eine Photogeschichte im Zeit-Magazin über sie, die ihr sehr gut gefiel. Ich mußte Oy-Siemens ein Dutzend Exemplare besorgen, die sie an ihre Stammkunden und potentiellen Geschäftspartner verteilte. Oy-Siemens wird von vielen ihrer Kolleginnen in Berlin wegen ihrer Arbeit im “Starlight” und ihres Silikonbusens für eine “Lady-Man” gehalten, ist es aber mitnichten: sie hat vier Kinder, wovon der Älteste Polizist in Bangkok ist, eine Tochter wohnt in einer Mädchen-WG.

8. 1863 veröffentlichte Nikolai Tschernyschewski die Erzählung “Was tun?”. Der Philosoph und Dichter schrieb sie in der Peter- und-Paul-Festung, er wurde dann 19 Jahre nach Sibirien verbannt. In “Was tun?” skizzierte er für die kommende Intelligenzija den “Neuen Menschen” – den Revolutionär als “Beweger”. “Wir lasen es mit gebeugten Knien”, erinnerte sich ein ebenfalls nach Sibirien Verbannter, der sich davon mit vielen anderen zusammen zum Terrorismus inspirieren ließ.

Die zweite Beantwortung der russischen Frage “Was tun?” stammt aus dem Jahr 1902 von Lenin und befaßte sich mit dem bolschewistischen Parteiaufbau, der Avantgarde. Lenin entwickelte darin die Konzeption des Berufsrevolutionärs, den die objektiven Interessen der Arbeiterklasse bewegen.

1997 erschien   ein drittes Werk mit dem Titel “Was tun?”: eine Beantwortung der “russischen Frage” auf einem Kolloquium der Deutschen Bank mit Siemens, Daimler-Benz und anderen wichtigtuerischen  “Verantwortlichen” in Rußland. Der Titel ist Hilmar Koppers Referat entnommen, der darin ein Bewegungs-“Programm” entwirft, “das Macht, Geist und Geld zusammenführt”. Es ist die Fortsetzung dessen, was Gorbatschow “umzusetzen” versucht hatte, nämlich eines der Szenarien, die bereits unter seinem Vorgänger Andropow von verschiedenen ZK-“Braintrusts” ausgearbeitet worden waren, um den Machterhalt der Parteielite in einer vom “Neuen Denken” bestimmten sozialistischen “Transformationsperiode” zu gewährleisten: “durch Umwandlung des Kollektivbesitzes der Nomenklatura in Privatbesitz ihrer einzelnen Mitglieder” – so der ehemalige ZK-Mitarbeiter Jewgeni Nowikow 1994 in New York.

9. Neuerdings macht der komische US-Investor Ronald S. Lauder (Erbe eines Kosmetikkonzerns) wieder via BILD und BZ Druck auf den Senat, damit er das einst größte Haus der Welt – das Nazi-Abfertigungsgebäude des Flughafens Tempelhof kaufen kann, zusammen mit dem DB-Chef Mehdorn und noch irgendeinem Investor: Sie wollen aus dem Riesenklotz eine Klinik für Reiche machen – die mit ihrem Privatjet dann quasi bis in die Aufnahme rollen können. Dazu müßte der Senat jedoch erst einmal seinen Schließungsbeschluß für den Flughafen rückgängig machen. Und das kann er nicht: Weil die Schließung von Tempelhof und Tegel Voraussetzung dafür war, dass die Investoren für den neuen Großflughafen Schönefeld anfingen zu bauen. Sie argumentierten dabei stets mit “10.000 Arbeitsplätzen”. Der Ex-US-Botschafter Lauder kontert jetzt mit “mindestens 1000 Arbeitsplätzen” laut Springerpresse.

Zuvor hatte er schon mit seiner Baufirma CEDC am Check-Point-Charly vis á vis von der taz den Mund zu voll genommen: Sie bauten nur die Hälfte aller Bürogebäude dort – und der Senat kürzte ihnen bei einem Haus dann auch noch die Etagen von 50 auf 20 oder so runter.  Zu den CEDC-Hauptgesellschaftern zählten neben Lauder noch der Ex-US-BotschafterMark Palmer sowie die zwei Westberliner Developer Henryk Berler und Abraham Rosenthal. Das Portfolio der CEDC ist seit dem Zusammenbruch des Ostblocks diversifiziert. Eine Zementfabrik in Estland, eine Bank in Ungarn und Fernsehsender in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn sowie in Berlin und Nürnberg: “We invest American money in the former communist countries, that’s our Geschichte”, erklärte Mark Palmer, der frühere Chef-Kremlinologe der US-Regierung.

Zwar standen bereits 1997 einige Millionen Quadratmeter “hochwertige Bürofläche” in der Stadt leer, vor dem “German-American-Businessclub” verbreitet Palmer jedoch Optimismus: “Berlin will be the style-idea-capital of Germany.”  Der Wohnanlage “Checkpoint Plaza” komme dabei die Funktion eines “Trump Towers” von Berlin zu. Ihre vier Eingangsbereiche wurden nach den Vornamen von US-Präsidenten benannt, jeder hat eigenen Wachdienst und Concierge-Service rund um die Uhr, und in einigen Wohnungen sind Türen und Fenster mit schusssicherem Panzerglas ausgestattet.

Bei der Beschreibung des Objekts kamen die Texter des SBB-Prospekts ins Schwärmen: “Checkpoint Plaza ist Ausdruck von Persönlichkeit, Zeitgeist und Erfolg …” Fast delirant geriet ihnen am Ende die Aufforderung an die Anleger: “Kommen Sie jetzt an den Punkt. Dem bekanntesten Punkt auf dem ,i’ der deutschen Geschichte: Checkpoint Charlie. Bauen Sie auf Zukunft: im Mittelpunkt deutscher Geschichte …! Lassen Sie Ihr Kapital in Berlin punkten: Checkpoint Charlie wird Checkpoint Plaza!”  Um das Superambiente noch mehr zu forcieren, gründete Mark Palmer mit 37 anderen Firmen, darunter Siemens, Daimler-Benz, Sony und IBM, die Initiative “Investors for the Hauptstadt”, um Berlin nach dem Regierungsumzug endgültig zum Zentrum der Schwerkraft zu machen, wörtlich zum “center of gravity”.

Die fünf Blöcke des Businesscenter Checkpoint Charlie wurden von den teuersten Architekten entworfen: das “Quartier 106” von Philip Johnson, das “Quartier 105” von David Childs aus dem Chicagoer Architekturbüro Skidmore, Owings und Merill (2.600 Angestellte).  Für die New Yorker Architekturkritikerin Mary Pepchinski gehören diese sowie einige andere ebenfalls in Berlin tätig gewordene amerikanische Architekten zur Elite: “Wird Berlin durch diese neuen Gastarbeiter gewinnen?”, fragte sie sich: “Wahrscheinlich nicht. Trotz ihres Renommees wäre es unwahrscheinlich, wenn die Architektur dieser elitären Gruppe eine Stadt verbessert. Ihre Bauten sind eher zynisch als demokratisch.”

Architekt Philip Johnson beklagte sich in einem Interview über die vom Berliner Senat auch am Checkpoint Charlie verfügte Traufhöhe: “Ich stimme mit der Berliner Haltung zum Problem der Stadtplanung nicht überein, ich finde sie völlig überholt und altmodisch. Mein Gebäude befindet sich am sensibelsten Standort überhaupt: in der Friedrichstraße. Dort soll genau nach den alten Baubestimmungen gebaut werden … Wenn ein Gebäude das höchste am Ort ist, schreiben die Zeitungen darüber. Im Denken vieler Leute steht das größte Gebäude auch für das beste.”  Verschiedenen Tageszeitungen wurden später Prospekte der SBB für das Checkpoint Plaza beigelegt, in denen es hieß: “Ihr Sprung in die Steuerfreiheit”. Darunter befand sich das berühmte Foto vom NVA-Soldaten, der 1961 beim Bau der Mauer in voller Uniform über den Stacheldraht gesprungen war – und der vor drei Jahren Selbstmord verübte, weil ihm der damalige Sprung in den Westen kein Glück gebracht hatte.

Jetzt soll der Jump in die andere Richtung gehen: “Im Westen Steuerlast – im Osten Steuerlust! Bestimmen Sie heute selbst Ihre monatlichen Zusatzeinnahmen, die Sie für eine komplette Altersversorgung brauchen.”  Der von Mark Palmer geprägte Begriff vom “center of gravity” ist Wirklichkeit geworden. Der halbe Checkpoint-Charlie-Komplex steht heute leer, obwohl die Investoren vorerst nur die Hälfte bebaut haben – und Mark Palmer ist von Berlin wieder nach New York gezogen. Die Berliner Schwerkraft war stärker: Die Gegend zwischen Checkpoint Charlie und Mauermuseum kann man getrost wieder als einen der trostlosesten Orte in der Stadt bezeichnen.

10. In Berlin gibt es traditionell viele Fuhrunternehmen, die sich erst in Speditionsbetriebe und dann in Logistikunternehmen umbenannten. Der Grund war im Osten der demokratische Zentralismus, wobei nur der VEB Deutrans übrig blieb, und im Westen die Berlinförderung, die besonders den Fuhrknechten viel Arbeit verschaffte – z. B. wurden Schweine nach Westberlin gekarrt, wo ihnen die Ohren abgeschnitten wurden, um die Zulage zu kassieren, und dann fuhren sie wieder zurück zu einem westdeutschen Schlachthof.  Seitdem die Berlinförderung abgeschafft ist, werden immer mehr Fuhrleute arbeitslos. Neulich saß ich in der Moabiter Arbeitsamtskneipe “Bei Anni”.

Am Nebentisch saßen vier Arbeitslose. Sie kamen aus ein und der selben Branche, aus Fuhrunternehmen. Aber drei trugen Sportswear und waren augenscheinlich Hand- bzw. Lagerarbeiter, während der dritte in einer Jeans mit Anzugjacke und Schlips steckte, wahrscheinlich ein Kopfarbeiter – also ein Speditionskaufmann. Nachdem sie vier Bier bestellt hatten, kamen sie auf komische Aufträge während ihres früheren Berufslebens zu sprechen.  Der mit dem Schlips erzählte: “Ich arbeitete mal bei einem Fuhrunternehmer, der exklusiv für Siemens tätig war und z. B. Transporte mit Radioaktivität durchführen durfte. D. h., wir fuhren medizinische Geräte und so was aus. In der Wende haben wir auch viel Telekom-Zeugs, Black Boxes und so, an Stasi-Objekte in Ostberlin geliefert, die haben damals noch schnell nachgerüstet. Unsere Fahrer wurden aber schon verfolgt damals – von der Volkspolizei, die folgten denen bis nach Kreuzberg rein.

Einmal rief der Chef aller DDR-Wetterwarten bei uns an: Er hätte gerade aus allen die plutoniumgefüllten “Herzen” rausgenommen. Wo bitte schön könne er nun diesen radioaktiven Abfall loswerden? Ich fragte ihn, wo die Kapseln denn lagern würden und wie. Bei mir zu Hause sagte er, in einer Plastiktüte. Bleiben Sie, wo Sie sind, sagte ich ihm, und benachrichtigte sofort den Strahlenschutz, die haben das dann mit Tatütata abgeholt. Die im Osten sind nicht so hysterisch mit Radioaktivität – die haben das mit der strahlenden Zukunft noch ernst genommen.  Danach gab’s noch einen bemerkenswerten Auftrag – von der Verwertungsgesellschaft für die Berliner Mauer, die haben ihr Kernstück, das vorm Brandenburger Tor, nach New York verkauft – und wir mussten es nach Rostock transportieren, wo es auf ein Kriegsschiff verladen wurde. Ja, die Logistik, das ist schon eine interessante Arbeit …”

11. Der Wiener OSZE-Medienbeauftragte Freimut Duve veranstaltete in Berlin eine Diskussion über die Situation der Schriftsteller in arabischen Ländern – zusammen mit den drei im Exil lebenden Autoren Aftab Husain (Pakistan), Nasr Abu-Zayd (Ägypten) und Bahman Nirumand (Iran). Das Haus der Kulturen der Welt befürchtete eine Anti-Amerikanismus-Veranstaltung, sodass Duve in den Saal der Heinrich-Böll-Stiftung ausweichen musste. Bei einer dreitätigen Pro-Israel-Tagung hegten dagegen die Veranstalter selbst Befürchtungen, sodass sie Ordner mit Metalldetektoren anheuerten und sogar zwei Einsatzwagen mit Polizisten draußen parkten. Diese wollten sich dann aber nicht dazu äußern, ob sie die linken “Antideutschen” im Audimax der Humboldt-Uni schützten oder die Tagungsvilla der rechten Siemens-Stiftung schräg gegenüber.

12. Eine Frau, die in einer Wagenburg hinterm Georg-von-Rauchhaus wohnte erzählte einmal: “Das scheußlichste Erlebnis, das Lia und ich bisher hatten, war die gewaltsame Räumung der Wagenburg am Engelbecken. Aber dabei lernten wir Christian kennen, einen Jesuitenpriester, der in einer Wohngemeinschaft mit ehemals Obdachlosen in der Naunynstraße lebt und als Schweißer bei Siemens arbeitet. Sein Freund, ebenfalls ein Jesuit, arbeitet in einem Taxikollektiv. Die beiden organisierten den Widerstand gegen die Räumung mit. Das war wiederum eine sehr schöne Erfahrung. Obwohl ich später fand, dass die beiden schon fast zu vorbildlich leben und arbeiten. Auf dem darauf folgenden Autonomen-Kongress im Mathematikinstitut der TU schälten sie für alle Teilnehmer Kartoffeln, damit die zwischendurch eine warme Mahlzeit bekamen. Die asketische Einstellung der beiden Jesuiten, hat man mir mal erzählt, hat etwas damit zu tun, dass sie ihre ganze, ungeteilte Liebe den Sakramenten widmen sollen. Das finde ich aber auch übertrieben – männlich, ich weiß nicht …”

13. Einmal hielt ich eine Reihe von Diavorträgen in Altersheimen. Es handelte sich dabei um Dias von toten Ehepaaren, die ich in Trödelläden gekauft  – und dann neu sortiert hatte. Der Vortrag hieß “Frauen am Geländer”. Besonders deprimierend waren die Altersheime in den Arbeiterbezirken, wo die meisten Insassen schon so hinfällig waren, dass sie nur noch vor sich hindämmerten – und wahrscheinlich mit Psychopharmaka noch zusätzlich ruhig gestellt wurden. Große Ausnahme war ein Heim am Lietzensee, wo die Leitung meinen Vortrag schwachsinnigerweise als “Dias über neue Bademoden” angekündigt hatte. Dort lebten jedoch zwei pensionierte Siemens-Justiziarinnen, die sich die ganze Zeit aufs Lebhafteste mit mir über “Persönlichkeitsrechte am Bild” stritten.

14. Am 15.11. 2000 erhielt das 7. Gymnasium an der Maratstraße (Marzahn) den Namen “Wilhelm-von-Siemens-Oberschule“. Das Gymnasium mit naturwissenschaftlich-technischem Profil hatte zum Schuljahresbeginn ein modernes Gebäude in Biesdorf bezogen. “Man müßte mal ein Flugie   machen, um die Lehrer darüber aufzuklären, nach welchem Fitti sie unsere  Schule benannt haben,” meint einer der Gymnasiasten, nachdem ich ihm fast alles, was ich über Siemens wußte, erzählt hatte. Weder er noch ich wußten im übrigen, um welchen Wilhelm es sich dabei handelte:

Vielleicht Georg Wilhelm (Willy) Siemens, ab 1888 von Siemens ( 30. Juli 1855 in Berlin; + 14. Oktober 1919 in Arosa, Kanton Graubünden, Schweiz), Dr. phil. h.c. und Dr.-Ing. e.h., war ein deutscher Industrieller, Gutsbesitzer und königlich preußischer Geheimer Regierungsrat?

Oder Carl Wilhelm Siemens ( 4. April 1823 in Lenthe bei Hannover; + 19. November 1883 in London) war ein deutscher Industrieller und Bruder von Werner von Siemens?

Wie wir dann der neuen Webpage des Gymnasiums entnahmen “vereinen sich im Charakter Wilhelm von Siemens sowohl traditionelles als auch neues – er war ein großer Erfinder, internationaler Unternehmer und einstiger Bürger Biesdorfs. 1888: Wilhelm von Siemens zieht mit seiner Familie in die Villa im Park Biesdorf. Werner von Siemens überträgt das Gut, die Villa (Schloss) und den Park Biesdorf seinem Sohn Wilhelm im Jahre 1889. 1890: Werner von Siemens übergibt die Firmenleitung an den Bruder Carl und die Söhne Arnold und Wilhelm. 1898: Wilhelm von Siemens, Kirchenpatron der evangelischen Kirche in Biesdorf, spendete für den Umbau der Kirche eine Orgel und eine elektrische Beleuchtung.” Er starb 1919 in Arosa.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/02/23/weitere-siemensia/

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