vonHelmut Höge 20.04.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Ständig wird irgendwo in Berlin was gedreht – ich rede von TV- und Spielfilmen.

Neulich trat ich aus dem Haus – da standen sich auf einmal “Bullen” und “Autonome” gegenüber, die Wienerstraße war mit Polizeifahrzeugen abgeriegelt. Seltsam nur, dass die Polizisten ganz entspannt wirkten, obwohl die jungen Antifas mit Baseballschlägern bewaffnet waren: Das hatte es in Kreuzberg noch nicht gegeben, auch nicht, dass die Kontrahenten neun Tage lang “kämpften” – und zwar immer nebenan vor dem Fischrestaurant von Demirel: Hier sollte sich eine Gruppe von Neonazis verschanzt haben. Tatsächlich war dieses Gartenlokal einst eine SA-Kneipe, mit einem “wilden KZ” im Keller, wo sich eine Kegelbahn befand. Von hier aus stürmten die rechten Rollkommandos einst mehrmals das jüdische Kaufhaus gegenüber: Heute befindet sich dort eine Feuerwehrwache. Die Gefechte vor dem türkischen Restaurant waren inszeniert – für eine RTL-Produktion. Der Regisseur hatte das Lokal in “Spreeklause” umbenannt, der Wirt bekam für die Dauer der Dreharbeiten ein Ausfallhonorar.

Nicht nur leben immer mehr Ich-AGs davon, dass sie diesen Filmproduktionen in puncto Schminke, Catering, Kabel und Kostümen zuarbeiten, auch an den vielen Locations, die für diese Filme benötigt werden, bleibt immer mehr hängen: Der Tierpark in Friedrichsfelde verlangt zum Beispiel 200 Euro die Stunde fürs Drehen, das “Café Moskau” in der Karl-Marx-Allee nimmt 1.000 Euro pro Tag. Auch die Allianz-Versicherung als Besitzerin des einstigen Stasi-Versorgungstraktes in der Normannenstraße will für jede authentische filmische DDR-Vergangenheitsbewältigung 1.000 Euro täglich.

Low-Budget-Filmer müssen sich deswegen was einfallen lassen. Der Regisseur Andreas Goldstein wich für eine kleine Stasi-Szene in seinem Film “Detektive” in den Trauungssaal des Standesamtes von Mitte aus – der nur 50 Euro die Stunde kostete. Bei bestimmten Locations wollen aber darüber hinaus auch noch die normalen Nutzer pekuniär ruhig gestellt werden: Im Märkischen Viertel war das eine die Dreharbeiten störende Jugendgang, der der Regisseur nur mit einer Einladung ins nächste McDonald’s beikommen konnte; am Bahnhof Zoo wurden neulich die Fixer von einem Fernsehteam laufend mit Bier und Tabak versorgt, damit sie sich so gaben, wie sie dort immer am U-Bahnausgang rumlungern; und auch die Gäste des Lokals “Stiege”, wo man früher gerne “Liebling Kreuzberg”-Szenen drehte, wurden unlängst von einem Filmteam gebeten, sich “ganz normal, wie immer” zu verhalten, also zu reden, zu essen und zu trinken. Dafür spendierte die Regisseurin ihnen Rotwein und Grappa. In Dimitris Kreuzberger Kneipe “Markthalle”, die vor allem durch “Herr Lehmann” bekannt wurde und seitdem ein Schnitzel gleichen Namens auf der Speisekarte führt, scheinen viele Gäste nur darauf zu warten, dass sie dort mal wieder gefilmt werden – und dabei auch noch zu einer kostenlosen Mahlzeit kommen. Aber die Filmkarawanen sind weitergezogen.

Neuerdings bemühen sich immer mehr Location-Agenturen um sie. Sie vermitteln ihnen u.a. teure Lofts und Penthouses – über den Dächern von Berlin. Schon gibt es Hausbesitzer in Mitte, am Kudamm und am Liebnitzsee, die ausdrücklich in ihren Wohnungskauf- bzw. Mietverträgen festhalten: “Filmen ist im Haus nicht erlaubt!” Entweder aus Sicherheitsgründen oder weil der Bauherr nicht will, dass seine teuren “Kreationen” (in der Torstraße gibt es z.B. eine Wohnung für 4 Mio Euro) laufend im Fernsehen zu sehen sind – und dadurch zum “Massengeschmack” herunterkommen. Das war z.B. der Fall bei den englischen Teds, die – aus der Arbeiterklasse kommend – die Mode der Oberschicht imitierten, sie “entwendeten” – um mit den Situationisten zu reden, und sie dadurch gewissermaßen “in den Dreck zogen”.

Umgekehrt vermietet z.B. die taz ihr eher schlichtes “Rudi-Dutschke-Haus” sogar gerne für Dreharbeiten – übers Wochenende. Unter Location-Agenten gilt es jedoch noch als “etwas zu teuer”. Heute hat sie sich deswegen für Location-Werbung in eigener Sache entschieden – und zwar auf der Medienseite: “Doofer Film, schönes Setting” heißt der Artikel. Mit dem “Setting” ist der Drehort “Rudi-Dutschke-Haus” gemeint. Dazu heißt es peinlicherweise in der dazugehörigen Bild-Unterschrift: “Wo im Film der Chef (Peter Lerchbaumer) sitzt, sitzt in der Realität taz-Chefin Bascha Mika”.

Es gibt auch noch andere Film-Agenturen. Eine bietet für Partyveranstalter – nicht Locations, sondern TV-Teams an, die ihre Gäste während der Party bzw. des Events filmen – mit leerer Kamera, nur damit alle das Gefühl haben: “Hier is was los! Hier geht es tierisch ab!”

Und dann gibt es natürlich auch immer mehr Gelegenheiten für bezahlte Auftritte – u.a. als Statist oder Kleindarsteller. Auch die Nachmittags-Talkshows suchen laufend sowohl “Gäste” als auch drastische Fälle, die sich nicht scheuen, vor der Kamere ihre intimsten und peinlichsten Erlebnisse zu erzählen. Auch dafür gibt es spezielle Agenturen, die per Kleinanzeigen in den entsprechenden Printmedien solche Leute suchen oder  sonstwie hinter ihnen herrrecherchieren. Gelegentlich ruft so eine Agentur auch mal bei der taz an – und fragt z.B.: “Kennen Sie zufällig eine Lehrerin, die mit einem minderjährigen Schüler zusammenlebt? Es geht um ein Interview für die Sendung ‘Susi am Morgen’.” Einmal häuften sich solche Anfragen derart, dass ich anfing zu recherchieren – und zwar über diese komischen Nachmittags-Talkshows, die inzwischen zu den Highlights des Unterschicht-Fernsehens gehören. Siehe dazu den hier unten angehängten Text über “Vera am Mittag”.

Zurück zu den Agenturen. Dabei hat es mir insbesondere die Reinickendorfer “Agentur Rosemarie Fieting” angetan: Sie vermittelt vor allem  “Look-Alikes” – Leute, die so aussehen wie ein Prominenter und sich wohlmöglich auch so verhalten bzw. reden, singen oder tanzen können. Daneben vermittelt Frau Fieting auch noch Haustiere – für Werbeaufnahmen, TV- und Spielfilme. Auch Zoo und Tierpark sind inzwischen auf den Geschmack gekommen – allein der kleine verstoßene Eisbär Knut, der drei Bodyguards hat und seit einer Morddrohung auch noch Polizeischutz, spielte bereits Millionen ein.

In der Stadtzeitung “scheinschlag” hat gerade der Elendsreportagen-Vermittlungsagent Waldemar Olesch über einige seiner “Problemfälle” berichtet, die er verkaufte: Sein “Geschäft” begann mit einem befreundeten TV-Journalisten, der einen verwahrlosten Hartz-IV-Empfänger mit vielen Kindern in einer Platte suchte. Olesch fand ihn und bekam dafür fast ebenso viel wie der Arbeitslose: 250 Euro. Als nächstes war sein Nachbar, ein Afrikaner dran – für 150 Euro: “Wir räumten sein Bettgestell aus dem Zimmer und legten die Matratze auf den Boden. Die Fenster wurden verdunkelt und ein paar leere Bierflaschen in die Ecke gestellt. Dann munkelte er in gebrochenem Deutsch etwas von ständiger Angst, in der er lebe, in die Kamera… Sein Gesicht und seine Stimme wurden unkenntlich gemacht. Ein reißerisch klingender Untertitel sorgte für die richtige Dramatik.” Erste moralische “Bedenken” kamen Olesch beim Rummel um die Rütli-Schule: “Ein Fotograf fuchtelte so lange mit seiner Kamera direkt vor dem Gesicht eines Jugendlichen herum, bis dieser die Kamera wegschlug. Das waren dann auch die Skandalfotos, die wir am nächsten Tag in der Bild-Zeitung zu sehen bekamen. Fast alle Kamerateams boten Geld”: 50 Euro wollte RTL für ein Interview rausrücken. 150 Euro bot der Tagesspiegel-Fotograf einem Schüler für ein Foto mit einem Messer in der Hand. Das Gesicht des Jugendlichen wurde nicht, wie zuvor vereinbart, unkenntlich gemacht. Auch der Spiegel hielt sich nicht an eine solche Vereinbarung. “Ein Jugendlicher wurde für 500 Euro plus Spesen von Günter Jauch zu Stern-TV eingeladen. Reporter der Bild-Zeitung boten 350 Euro für gestellte Gewaltszenen und erfundene Äußerungen…Zur Zeit sucht ein Sender Jugendliche, die sich bei der Verübung von Straftaten filmen lassen”: Für eine “Autotür zerkratzen”, eine “Wand besprühen” oder einen “Reifen zerstechen” gibt es bis zu 300 Euro.

Olesch hat sich auch einmal selbst vermittelt: Als es darum ging, dass man allen für das Elend Verantwortlichen in den Hintern treten müsste, polsterte er seinen Hintern mit Schaumstoff aus und fragte Passanten auf der Straße, ob sie ihn nicht, quasi stellvertretend, in den Arsch treten wollten – für 1 Euro. Anschließend gab es für sie auch noch eine Urkunde. Ein Kamerateam filmte das Ganze – “und schon am nächsten Tag lief die Aktion im Fernsehen.”

Ich selbst sprang neulich für einen erkrankten Schauspieler ein und gab für 250 Euro einen Stasigeneral – was ja heute auch eine Art Watschenmann ist. Zuvor hatte ich den Frührentner Bernd Wilhelm interviewt, der viele Tiere hat, die fast alle eine “Leidensgeschichte” hinter sich haben. Er wohnt mit ihnen am Rande der Stadt und vermietet sie “für ihren Lebensunterhalt” oft und gerne an die Volksbühne: “Alles im erlaubten Rahmen des 300-Euro- Zugewinns”. Die Tiere müssen nicht auftreten, wenn sie nicht wollen: Die Perserkatze “Missy” zum Beispiel “wurde schlecht behandelt”: Jetzt liegt sie die meiste Zeit hinterm Ofen in einem Pappkarton. Benno, der kurzbeinige schwarze Hund, gehörte einer Fixerin, die jetzt in einem Haus der Treberhilfe wohnt: “Aus ihm könnte noch mal was werden.” “Fuchsy” wurde angefahren am Straßenrand gefunden. Der Kapuzineraffe “Kingkong” “arbeitet zwar nicht gerne, ist aber dafür nie böse”. Er mag am liebsten Limonade und Gummibärchen und liegt abends neben der für Kunststücke zu alt gewordenen Schäferhündin Sandra. Alle Tiere, auch die Waschbären, der Nasenbär, die Pferde, die Zwergschweine und die Hühner verstehen sich untereinander: “Das müssen sie auch, sonst geht das gar nicht.”

High-Noon bei Vera

Eine Talkshow ist eine sehr ernste Angelegenheit: »Um im Fernsehen zu bestehen, muß man eine gewisse Stärke haben. Die kann man sich antrainieren, aber es ist auch eine gehörige Portion Naturtalent nötig. Den Wolfgang Neuss schafft nicht jeder. Und wenn du frech wirst im Fernsehen, dann ziehen sie dir das Mikro runter und schalten die Kamera auf eine andere Grinsbacke, da kannst du rumfuchteln wie du willst. Dezente Herren führen dich notfalls nach hinten ab in die Kulissen. Ich hab’ es erlebt«, erklärte mir vor einiger Zeit der Künstler Thomas Kapielski.

Ich hatte dagegen mehr Glück: bei »Vera am Mittag«, wo ich mich ein paar Tage lang als Journalist hinter den Kulissen herumdrücken durfte. Das ist dort die beste Position: Als Zuschauer im Studio muß man laufend applaudieren und als Gast der Moderatorin darf man höchstens eine Minute seine Meinung äußern – so schlagfertig bin ich nicht. Außerdem sind mir die meisten Themen zu persönlich, um nicht zu sagen intim – für eine öffentliche Erörterung. Wenn nicht gerade Prominente eingeladen werden, die über ihre Erfolge berichten, sind es eher Freaks oder subproletarische Randexistenzen – mit ihren Mißerfolgen und Macken. Bei der Sendung »Ich gerate immer an den Falschen« zum Beispiel: Zwei ebenso vollschlanke wie lebenslustige Frauen, ein stämmiger tätowierter Gerüstbauer auf Hafturlaub, seine Noch-Ehefrau, die auf der Reeperbahn Anschaffen geht, eine Arbeiterin mit strähnigen Haaren sowie ein junger Mann mit Schnurrbart und Ohrringen. Bis auf ihn – der als »Eye-Catcher« eingeladen wurde – sind alle mehr oder weniger vom Leben gezeichnet und schon etliche Male verheiratet gewesen – eine Frau sogar neunmal: »Die wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen«, erklärte mir der Redakteur.

Die rund 120 Zuschauer sind Jungen und Mädchen – mehrheitlich aus der Umgebung, aber auch ganze Schulklassen aus Dresden und Leipzig. Bei fast jeder Sendung ist eine kleine, aber harte Fan-Schar dabei, bestehend aus einigen nicht mehr arbeitenden Frauen sowie der Vera-am- Mittag-Fanclubleiterin Elke Nix (29), Krankenpflegerin aus Groß-Glienicke. Dann gibt es da auch noch die Vorort-Frau einer Kölner Zuschaueragentur, die eigentlich Eintrittskarten verkauft, aber es so genau dann doch nicht nimmt, das heißt, die meisten läßt sie umsonst rein. Sie sagt: »Für >Vera am MittagTalkshows noch relativ neu und die Zuschauer manchmal Mangelware.

Vor Beginn der Sendung findet ein regelrechtes Zuschauer- Verhaltenstraining statt – durch einen nebenberuflich tätigen Warm-upper, der bei Vera am Mittag Jürgen oder Andy heißt. Vera selbst begann ihre Karriere als Warm-upperin – bei Rudi Carell und Gottschalk. Ihr Vorbild ist heute, und dies gilt auch für die Chefredakteurin ihrer Talkshow, Sabine Sebald, Harald Schmidt. Er ist für die beiden »Kult«, das heißt, daß er nur eine kleine – dafür aber feine – Zuschauerzahl wirklich erreicht. Vera schaute sich Harald Schmidts Sendung sogar einmal als Studiozuschauerin an, und irgendwann wird sie wohl auch als Gast bei ihm auftauchen. Ihre Sendung hat einen sehr viel größeren Marktanteil als seine: Sie erreicht täglich 24,8 Prozent der gesamten mittags vor der Glotze hängenden Bevölkerung zwischen 14 und 49, der Zielgruppe (Schüler, Schichtarbeiter, Hausfrauen, Arbeitslose, Rentner). Damit liegt sie auf dem zweiten Platz hinter »Sonja«, eine Talkshow, die gleich im Anschluß an Vera täglich auf SAT.1 gesendet wird.

Vera ist eine Firma mit etwa 50 Beschäftigten: Redakteure, die Themen recherchieren, um neue Sendungen vorzubereiten und – manchmal mühsame – Castinggespräche führen müssen; Gästebetreuer, denen dafür mehrere »Green-Rooms« zur Verfügung stehen; ferner Praktikanten, Assistenten und Techniker. In mehreren Großstädten sind zudem Guesthunter – auf Provisionsbasis – unterwegs, und ein Pressebüro in Berlin brieft die Journaille mit Vera-Fakten, arrangiert außerdem Fototermine im Babelsberger Studio. Und da diese Produktionsmaschinerie mit einer Lizenz der amerikanischen Firma Universal arbeitet, gibt es auch noch eine ältere dauergewellte Amerikanerin, die das »Know-how« hat, aber natürlich kein Deutsch versteht und deswegen über Funk mit einer Dolmetscherin verbunden ist, die eine schwarze Lederjacke trägt. Sie sieht als einzige auf dem ganzen Set wie eine Intellektuelle aus.

Alle anderen Mitarbeiter an der Sendung bevorzugen geschmackvolle leichte Juvenil-Kleidung, die gerne auch mal etwas sexy sein darf. Sie arbeiten nämlich in einem modernen Dienstleistungsbetrieb – Babelsberg 2000 sozusagen. Er wird atmosphärisch von amerikanisierten Karrierefrauen dominiert. Ich würde ihn als ökologisch-feministisch bezeichnen. »Und für Multikultur sind wir sowieso«, ergänzt Chefredakteurin Sabine Sebald, die vom SAT.1- Frühstücksfernsehen kommt, wo sie einmal die Mobbing- Attacke einer Kollegin gekonnt ausbremste. Bei »Vera« geht es zwar permanent locker und gutgelaunt zu, aber dieses Serviceunternehmen, zu dem noch einige andere Firmen gehören, die Reportagen und Serien fürs Fernsehen produzieren, ist dabei streng konservativ und hierarchisch gegliedert. Mehrmals werde ich von der Pressefrau Christine Presler, einer ehemaligen Arzthelferin, und der Chefredakteurin, die »zum Ausgleich« Anthroposophin ist, ermahnt, nicht einfach aufs Geratewohl eine Sekretärin und eine Redakteurin um Auskunft zu bitten, sondern mich stets an sie – als meine alleinigen »Ansprechpartner« – zu halten.

Verwundert bin ich auch über die rigide Moral, die dort herrscht. Als ich der Chefredakteurin erzähle, daß der ehemalige Kaufhauserpresser Dagobert, Arno Funke, gerade ein Buch im Knast geschrieben habe und demnächst Freigänger sei, ist sie erst ganz begeistert, gibt dann aber streng zu bedenken, man dürfe nicht vergessen, daß er ein Krimineller sei. Die gleiche gesellschaftliche Einstellung sehe ich am Werk, wenn Sabine Sebald und ihre Mitarbeiter während der Vera-Produktion hinter der Kulisse dem Publikum frenetisch etwas vorklatschen. Überhaupt scheint mir der Applaus das Wichtigste – aber auch das Allermerkwürdigste – an den Talkshows zu sein. Zu Zeiten von Wolfgang Neuss, den ich einmal als Sympathisant in eine – öffentlich-rechtliche – Talkshow begleitete, gab es so etwas noch nicht. Da haben wir uns noch darüber lustig gemacht, daß die infantilen Amis sogar Leuchtschilder in den Studios anbringen, die den Zuschauern signalisieren, wann sie zu klatschen haben. Überhaupt finde ich Klatschen entwürdigend, ich kann mich nur an wenige Male in meinem Leben erinnern, wo ich wirklich herzlich applaudiert habe, jedoch an unendlich viele Male, wo es schierer Opportunismus bzw. bloß Höflichkeit war.

Opportunismus ist aber garantiert ein Fremdwort im Vera- Team, das aus lauter »Hochprofessionellen« besteht, wie sich die jungen Leute heute gerne selbst nennen, die einen Fuß im Showgeschäft haben. Dieses Business reicht nun von einer staatstragenden Hetzsendung im Privatfernsehen bis hin zur alternativen Tageszeitung (taz). Und die Personage darin, beginnend mit den hübschen Praktikantinnen, deren Eltern zumeist aus dem Journalismus kommen, wechselt easy oder cool von einem Pol zum anderen – ohne Probleme, Hauptsache, es geht persönlich voran. Es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen SAT.1-Sendungen und ehemals kritischem Journalismus: das Engagement für allerlei sozial Benachteiligte, das aus Karrieregründen stets zum Sozialkitsch tendiert. Sabine Sebald kann sich immer wieder an »diesen puren Menschen, die da unverfälscht auf der Bühne sitzen«, begeistern und ist echt gerührt, wenn so einer mal wieder was ganz »Emotionales« von sich gegeben hat. Sofort gibt es Applaus, der fast immer eine Übereinstimmung in dem, was man allgemein für richtig oder falsch halten soll, bedeutet. Damit ist die Talkshow eine hochmoralische, aber desto dümmere Veranstaltung, in der postmoderne Meinungsbildung wie reichsdeutsche Traditionspflege betrieben wird. – Kein Wunder, daß immer mehr Lehrer mit ihren Schulklassen »Vera am Mittag« aufsuchen.

Im Zusammenhang einer Kritik der Nachmittags- Talkshows – insbesondere von Arabella Kiesbauer – , an denen die zunehmende Zahl von Sex-Themen bemängelt wurde, schrieb neulich der Babelsberger Medienforscher Lothar Mikos: »Themen und Gesprächsstil mögen nicht jedermanns Sache sein. Aber Sendungen wie >Ilona ChristensenVera am MittagTalkshows viele Aspekte der Lebenswirklichkeit aus der Sicht der betroffenen Menschen ab. Wer genau hinsieht, bemerkt, daß in diesen Shows der moralische Konsens beschworen wird – möglichen Abtrünnigen wird dieser vor allem von den Moderatoren und dem Publikum vor Augen geführt.«

Vera geht dabei so weit, daß sie z. B. einen Gast, der sich allzu lax zum Thema »Fremdgehen« äußert, anherrscht: »Hast du denn nicht für 20 Cent ein Gewissen?!« Der Gast bekommt für seine halbminütige Äußerung zwischen 500 und 1 000 DM, plus Spesen und Fahrtkosten. Und der Rüffel scheint ihm nicht allzu nahe zu gehen. Für solche Fälle beschäftigt Vera im übrigen auch noch einen Psychologen.

Inzwischen gibt es sogar schon Psychologen, die sich freiberuflich auf die Beratung von Talkshow-Gästen professionalisiert haben. Einer davon, Colin Goldner, wurde unlängst vom Hauptstadtmedium »Berliner Zeitung« interviewt: »Der einzelne Talkgast hat nicht den Hauch einer Chance«, meinte er. Die Menschen, die sich anschließend an ihn wenden, würden »in erster Linie unter Scham- und Schuldgefühlen leiden«, weil sie sich und andere in aller Öffentlichkeit »entblößt, beschimpft und zum Idioten gemacht« hätten. So wurde z. B. ein 75jähriger Talkgast als »alter geiler Bock« vorgeführt; er war anschließend nahe daran, Selbstmord zu begehen. Ein anderer Gast, der mit einer 40 Jahre jüngeren Frau verheiratet war, wurde vom Publikum als »Kinderficker« beschimpft. Solchen Talkshow-Opfern bietet der Psychologe »telefonische Krisenberatung« an – und hat damit selber einen Fuß in der Tür zu diesem seiner Meinung nach miesen und menschenverachtenden Geschäft.

Auf etwas andere Weise gehen zwei Berliner Kulturwissenschaftler, André Meier und Jürgen Kuttner, das Talkshow-Phänomen an: Sie veranstalten einmal im Monat eine »Show« in der Volksbühne – »Von Mainz bis an die Memel« genannt, in der sie Fernsehschnipsel aus Ost und West vorführen, die Kuttner mit einer Art Vortrag kommentiert. Ihre Veranstaltung ist »Kult« und schon lange vorher ausverkauft. Übrigens gibt es auch immer mehr Zuschauer, die »Vera am Mittag« »Kult« finden, wie mir die Frau von der Zuschaueragentur verriet: »Die freuen sich um so mehr, je blöder sie ein Thema finden«. In der Volksbühne bei Kuttner/Meyer   amüsieren sich die Leute u. a. über einen Ausschnitt aus einer 1972er SFB-Modenschau, moderiert von Lea Rosh – mit demselben penetrant-aufklärerischen Ton bereits, mit dem sie heute eine Talkshow zum Thema »Holocaust« moderiert.

Meier und Kuttner geht es dabei um den Nachweis, daß wir alle erst mühsam lernen mußten, mit dem neuen  »Medium« umzugehen – sowohl vor der Kamera als auch vor dem Fernseher. Sie vergleichen uns dabei mit den Bauern, die man einst erbarmungslos zur Industriearbeit umerzog. Bei Vera am Mittag erfahre ich jedoch, daß man genau das nicht will – im Gegenteil: Man führt dort sogar eine »Schwarze Liste« mit solchen Talkshow-Gästen, die partout ihre Performance verbessern wollen, »die Blut gerochen haben«, wie Chefredakteurin Sebald sich ausdrückt. In der Zuschauerzeitung (auch das gibt es: eine eigene »Vera am Mittag«-Zeitung) wird erklärt, was an diesen »gemeinen Talkshow-Touristen« so verwerflich ist: Während die Redakteure und Guesthunter mühsam versuchen, immer wieder an neues, absolut authentisches »Menschenmaterial« heranzukommen, gibt es auf der anderen Seite »eine Spezies Mensch«, die nichts unversucht läßt (d. h. sich verkleidet, Telefonnummern von Nachbarn angibt etc.), um immer wieder in Talkshows zu kommen: Sie sind »abwechselnd schwul oder heterosexuell, prügeln ihr Kind oder sind konspiratives Mitglied der Russenmafia«. Damit solche Leute nicht zur »Gefahr für die fersehschauende Menschheit« werden, kommen sie bei »Vera am Mittag« kurzerhand auf die »Schwarze Liste«.

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