vonHelmut Höge 27.07.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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 Neue Formen von Arbeitskampf und Organisierung bei Siemens

von INKEN WANZEK

1. Zur wirtschaftlichen Lage von Siemens
Siemens hatte als führender Weltkonzern im Jahr 2002 das zweitbeste Firmener-
gebnis in seiner 156-jährigen Firmengeschichte erzielt. Ausgerechnet in diesem Jahr
erfolgten am Siemens-Standort München Hofmannstraße (Mch H), dem zentralen
Entwicklungsstandort der Festnetzsparte (Telefonie etc.), Massenkündigungen.
2600 Arbeitsplätze sollten in nur sechs Wochen abgebaut werden. Das entsprach
einem Drittel der Belegschaft. Die Festnetzsparte ICN (Information, Communicati-
ons, Network) befand sich aufgrund des Einbruchs in der IT-Branche tatsächlich in
den roten Zahlen. Einen entscheidenden Anteil an diesen roten Zahlen hatten auch
unrentable Firmenaufkäufe in den USA. ICN war jahrzehntelang die »Cash Cow«
von Siemens und hat heute rentable Bereiche wie die Medizintechnik viele Jahre
lang »mit durchgefüttert«. Wären all diese Quersubventionen als Rücklage für den
Bereich ICN verwendet worden, dann hätte ICN in einer Konjunkturflaute überwin-
tern können. Das Problem für die Mitarbeiter war nicht die Quersubventionierung
der Vergangenheit, sondern die Weigerung der Firmenleitung, die finanzielle Un-
terstützung nun auch dem Bereich, der jahrzehntelang diese Quersubventionierung
finanziert hat, zu gewähren. Geändert hatte sich die Firmenpolitik der Quersubven-
tionierungen 2001 mit dem Börsengang von Siemens in New York.
Wie auch die Richter in den später folgenden Gerichtsprozessen feststellten, ha-
ben die Mitarbeiter einen Arbeitsvertrag mit der Siemens AG und nicht mit dem Be-
reich ICN. Heute schreibt ICN1 ­ obwohl die meisten Mitarbeiter, deren Kündigung
als wirtschaftlich notwendig dargestellt wurde, noch bei ICN sind ­ bereits wieder
schwarze Zahlen. Dabei ist neben den Kosten des Stellenabbaus zu beachten, dass
Siemens seit November 2002 ca. 400 Mitarbeiter bei vollem Lohn (die überwiegende
Mehrheit davon in der höchsten Gehaltsstufe T7 und übertariflich) nicht produktiv
beschäftigt.
2. Ziele von Siemens
Bereits die Tatsache, dass der Bereich Com, vormals ICN, trotz misslungener Mas-
senentlassung und unproduktiver Beschäftigung von Mitarbeitern wieder um die
schwarze Null pendelt, zeigt, dass die wirtschaftliche Logik der Notwendigkeit sol-
cher Maßnahmen nicht zwingend ist. Wäre der Betriebsrat am Standort Hofmann-
straße der Logik des Arbeitgebers gefolgt und hätte ihn bei der schnellen Umsetzung
seiner Massenentlassungen durch Co-Management unterstützt, gäbe es in Deutsch-
land einige hundert Arbeitslose mehr, die aus Steuermitteln zu finanzieren wären.
Ziel von Siemens ­ und anderer Arbeitgeber ­ war, wie auf den einschlägigen Arbeit-
geberseiten nachzulesen ist, nicht primär die Sanierung eines Bereiches, sondern der
Umbau des Arbeitsmarkts, der jetzt deutlich im Zentrum aller Auseinandersetzun-
gen in Politik und Wirtschaft steht: Gehaltssenkung, Verjüngung der Belegschaften,
flexible Arbeitszeiten, Abbau der Arbeitnehmerrechte, Etablierung von Zeitarbeit,
betriebliche Lösungen, um den Flächentarifvertrag auszuhöhlen. Daraus machte
Siemens auch kein Geheimnis und stellte sein Modell auf der Betriebsversammlung
offen dar:
Die zu entlassenden Mitarbeiter, vornehmlich Ältere ab 40 Jahren, sollen in eine
auf zwölf Monate befristete externe Beschäftigungsgesellschaft überführt werden;
das Gehalt beträgt dort 85 Prozent des letzten Nettolohns ohne Zuschläge wie Ur-
laubs- und Weihnachtsgeld. Zu dieser Beschäftigungsgesellschaft, die nach Sozi-
algesetzbuch »beE« heißt (betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit), schießt
das Arbeitsamt »Kurzarbeitergeld 0« in Höhe von 60-65 Prozent zu, abhängig vom
Sozialstatus.
Ziel war es, die Mitarbeiter, bzw. die qualifiziertesten von ihnen, in eine Zeitar-
beitsfirma zu überführen. Dazu hat Siemens eine 100-prozentige Tochter gegründet,
die Zeitarbeitsfirma KomTime. Diese ist wiederum berechtigt, staatliche Zuschüsse
zu verlangen (»Vermittlung in Arbeit«). Es gibt heute tatsächlich Mitarbeiter, die
über KomTime fast an ihren alten Arbeitsplatz zurückvermittelt wurden. Mit diesem
»Mitarbeiter-Recycling-Modell«, wie die Siemensianer dies nannten, kann Siemens
Folgendes erreichen: Verjüngung der verbleibenden Belegschaft, niedrigere Löhne,
Flexibilität. Es war klar, dass ältere Mitarbeiter, die in die beE verschoben werden
sollten, sich angesichts der existentiellen Alternativen Arbeitslosigkeit oder Zeitar-
beit in der Regel für letztere entscheiden würden. Erhöhung des Zeitarbeiteranteils,
Absenkung des Gehaltsniveaus und Verlängerung von Arbeitszeiten üben natürlich
auch Druck auf die festangestellte Belegschaft und die Tarifvertragsparteien aus.
Man droht mit Verlagerung der Arbeitsplätze ins Ausland, und schon geraten die
Tarifparteien unter Druck, vor allem, wenn vor den Toren ein Heer von Zeitarbei-
tern, Scheinselbständigen und Ich-AGs steht.
3. Situation vor der Krise
Siemens beschäftigte in der Hofmannstraße vor dem Stellenabbau ca. 9000 Mitarbei-
ter. Die Hofmannstraße ist ein reiner Entwicklungsstandort. Die Beschäftigten sind
überwiegend Ingenieure oder fachlich hochqualifizierte Assistenzkräfte. Die meisten
waren in der Gehaltsstufe T7 oder übertariflich eingestuft.
Die Mitarbeiter identifizierten sich durchweg mit den Unternehmenszielen, arbei-
teten gerne bei Siemens. Wer einmal bei Siemens war, blieb in der Regel bei Siemens,
denn das Unternehmen selbst bot die verschiedensten technischen Sparten (von Me-
dizintechnik bis Mobile Phones) und die verschiedensten Tätigkeiten (von Vertrieb bis
Kundenservice). Es bestand schlicht und einfach kein Grund zu wechseln. Stellenab-
bau war bei Siemens kein Thema. Bereichsumstrukturierungen wurden in der Vergan-
genheit durch Versetzung auf andere Arbeitsplätze oder Aufgabenwechsel gelöst.
Daher glaubten im Juli 2002 die meisten Mitarbeiter den Gerüchten um einen
drohenden Stellenabbau nicht. Anzeichen für die reale Bedrohung war jedoch, dass
Siemens die komplette Führungsriege ausgetauscht hatte.
Das Verhältnis der Belegschaft zum Betriebsrat war neutral. Es gab ihn, manch-
mal war er ganz nützlich, aber eine wirkliche Bedeutung hatte er in den Köpfen
der Belegschaft nicht. Man löste seine Probleme selbst. Gewerkschaften im Betrieb
nahm man nicht wahr. Sie verhandelten die Gehälter, ansonsten hatten sie keine
Bedeutung. Man wusste in der Belegschaft nichts über Arbeitnehmerrechte. Der
gewerkschaftliche Organisationsgrad lag bei weniger als zwei Prozent. Einen akti-
ven Vertrauenskörper, also ein Gremium der aktiven IG Metaller im Betrieb gab es
nicht. Der Betriebsrat war und ist IG Metall-geführt, hatte aber nicht die absolute
Mehrheit. Größere Betriebsratsgruppen neben der IG Metall waren ver.di, AUB
(»Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Betriebsräte«, eine arbeitgeberfreundliche BR-
Liste) und etliche kleinere Gruppen.
4. Arbeitgeber- versus Arbeitnehmerbewusstsein
Die Siemens-Belegschaft hatte in überwiegender Zahl die wirtschaftliche Denkweise
eines Arbeitgebers verinnerlicht. Diese Einstellung überdeckte fast vollständig die Tat-
sache der abhängigen Beschäftigung. In einer Betriebsversammlung, in der der dama-
lige Konzernchef Heinrich von Pierer anwesend war, erklärte dieser der Belegschaft,
für das Überleben des Bereiches ICN (Festnetzsparte) seien Kapazitätsanpassungen
unvermeidlich. Vom größten Teil der Belegschaft erhielt er Applaus. Die Beschäftigten
begriffen damals nicht, dass sich hinter dem Begriff »Kapazitätsanpassung« Stellenab-
bau und damit eventuell die Vernichtung des eigenen Arbeitsplatzes verbarg.
Der Betriebsrat stand vor dem Problem, diese starke Arbeitgeber-Denkweise in
der Belegschaft durchbrechen zu müssen, um den erforderlichen Widerstandswillen
zu wecken. Im Laufe des Konflikts wandte er unter Leitung des damaligen Betriebs-
ratsvorsitzenden Heribert Fieber folgende Methoden an:
Klares Bekennen zur Belegschaft; dies beinhaltete eine offene BR-Arbeit: keine
wochenlangen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, regelmäßige Berichter-
stattung über Verhandlungszwischenstände in Betriebsversammlungen und auf der
Betriebsratshomepage (elektronisches Schwarzes Brett).
Der Betriebsrat ließ den Arbeitgeber selbst berichten, was dieser vorhatte. Nicht
er als BR verkündete die Hiobsbotschaft des Stellenabbaus, sondern er ließ dies die
Betriebsleitung tun.
Übersetzung der von der Betriebsleitung verwendeten Kunstworte, wie z.B. »Ka-
pazitätsanpassungen« in Entlassung, Arbeitsplatzvernichtung, Existenzvernichtung.

Damit gelang es, die starke Bedrohung emotional bewusst zu machen.
Verwendung einer Sprache, die Gleichnisse und Bilder zuließ, z.B.: Zu einem Ange-
bot der Personalabteilung darf man »Nein« sagen wie zu einem Staubsaugervertre-
ter, der einem an der Haustür einen Staubsauger verkaufen will.
Kommunikation mit der Belegschaft in Einzelgesprächen und Emails, offene Tü-
ren im BR. Gruppenberatung statt Einzelberatung, um die Menschen in gleicher
Situation zusammenzubringen. Kein Akzeptieren von Erpressungsversuchen wie
Standortschließung.

5. Daten zum Stellenabbau
Mitte August 2002 (d.h. zur Ferienzeit in Bayern) gab die Firmenleitung bekannt,
dass innerhalb von sechs Wochen ein Drittel der Belegschaft am Standort München
Hofmannstraße abgebaut werden sollte. Dies betraf 2300 MitarbeiterInnen in der
Festnetz- und 300 in der Mobilnetz-Sparte.
Durch Maßnahmen wie Arbeitszeitverkürzung, Vorruhestandsregelungen und In-
sourcing gelang es dem Betriebsrat, die Anzahl der abzubauenden Arbeitsplätze auf
1100 (in der Festnetzsparte) bzw. 150 (in der Mobilnetzsparte) zu reduzieren. Den
1100 bzw. 150 Mitarbeitern wurde eine Siemens-interne Beschäftigungsgesellschaft,
begrenzt auf 14 Monate mit der Option einer Verlängerung, und der klassische Auf-
hebungsvertrag angeboten. Bei Nicht-Annahme eines dieser Angebote sollte die be-
triebsbedingte Kündigung erfolgen. Im Rahmen eines Sozialplans waren die finanzi-
ellen Dinge geregelt. Zu betonen ist, dass jeder ­ egal, ob er den Aufhebungsvertrag
angenommen hätte, in die Beschäftigungsgesellschaft gegangen oder gekündigt wor-
den wäre ­ eine Abfindung in der Höhe von ein bis zwei Jahresgehältern (abhängig
von Alter und Dienstzugehörigkeit) erhalten sollte. Die Abfindung in der Beschäfti-
gungsgesellschaft war niedriger als die über Aufhebungsvertrag und Kündigung.
Von den genannten 1250 Mitarbeitern bekamen in der ersten Kündigungswelle
(insgesamt gab es drei) ca. 850-900 Mitarbeiter dieses Angebot. Davon sind ca. 350
in die beE gegangen, ca. 400 haben sich auf die Kündigung eingelassen, und der Rest
ist über Vorruhestandsregelungen oder Aufhebungsvertrag ausgeschieden. Von die-
sen Mitarbeitern sind alle diejenigen, die sich auf die Kündigung eingelassen haben,
heute noch im Betrieb und mittlerweile wieder reintegriert: ca. 200 Beschäftigten
(Schwerbehinderte, Jubilare mit besonderem Kündigungsschutz, Ältere) wurde An-
fang 2003 aufgrund erfolgreicher BR-Widersprüche nicht gekündigt, ca. 200 wurde
gekündigt.2 Von diesen Gekündigten wurden in der ersten Instanz alle Prozesse von
den Mitarbeitern gewonnen; in der zweiten Instanz, die bis auf wenige Prozesse
abgeschlossen ist, sieht es ähnlich aus. Das Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht
München hat Siemens mehrmals aufgefordert, die Kündigungen zurückzuziehen, sie
seien rettungslos verloren.
Fazit: An diesem Beispiel sieht man deutlich, dass die sogenannten sozialverträg-
lichen Lösungen wie Aufhebungsvertrag und Beschäftigungsgesellschaft für viele
heute Arbeitslosigkeit bedeutet hätten: Ein Drittel der Mitarbeiter in der Beschäf-
tigungsgesellschaft wurde im August 2004 arbeitslos. Die Kündigung muss nicht
immer die schlechteste Lösung sein. Für 200 Siemens-Mitarbeiter war es der Weg
der Kündigung und die daran anschließende Gegenwehr, die dazu führten, dass sie
den Arbeitsplatz letztlich behalten konnten.

6. Meinungsführerschaft
Der Betriebsrat München Hofmannstraße praktizierte von Anfang an eine offene In-
formationspolitik. Er informierte die Belegschaft kontinuierlich und diskutierte mit
ihr die Situation. Sein Ziel war herauszufinden, was die Belegschaft wollte und sie mit
einzubinden in den schwierigen Prozess gegen den Stellenabbau. Der BR diskutierte
einzeln mit Mitarbeitern, um ihre Meinung zu bestimmten Verhandlungspunkten zu
erfahren. Zusätzlich fanden in dieser Zeit insgesamt zehn Betriebsversammlungen
statt. Der BR stellte sich eindeutig hinter die Belegschaft und sprach offen mit ihr:
»Wir können den Arbeitgeber nicht daran hindern, dass er kündigt, aber wir tun
alles, was möglich ist, um es zu verhindern.« So ließ der BR z.B. die Betriebsleitung
selbst die Kündigungsabsicht verkünden. Sie musste selbst ihr Beschäftigungsmo-
dell vorstellen. Der BR ließ sich nicht vor den Karren der Betriebsleitung spannen
und entgegnete dem wirtschaftlichen Argument, ICN sei in roten Zahlen, und wenn
der Stellenabbau nicht vollzogen werde, dann gehe ICN pleite, mit dem Argument:
»Wird der Stellenabbau vollzogen, gehen zunächst einmal die Mitarbeiter pleite,
ihre Existenz ist ruiniert, und es ist daher legitim, dass sie um die Erhaltung ihres
Arbeitsplatzes kämpfen.« Außerdem wies der BR darauf hin, dass der Arbeitsvertrag
mit der Siemens AG und nicht mit ICN bestehe, und dass es der Siemens AG besser
gehe denn je. Zusätzlich legte der Betriebsrat ein Modell (à la VW) vor, das mittels
Arbeitszeitverkürzung und weiterer Maßnahmen alle Arbeitsplätze hätte sichern
können. Die Betriebsleitung war zur Diskussion über diese Alternative nicht bereit
und lehnte es ungeprüft ab. Spätestens hier erkannte die Belegschaft, dass es dem
Arbeitgeber nicht um die Sanierung von ICN (heute COM) und die Rettung der
Arbeitsplätze ging, sondern nur darum, ihren Willen mit Macht durchzusetzen. Dies
führte dazu, dass 3000 Siemens-Mitarbeiter vor der Firmenzentrale in München de-
monstrierten. Für viele war es die erste, aber nicht die letzte Demonstration in ihrem
Leben. Der Siemens-Vorstand war nach Erlangen geflohen. Diese Demo brachte
den Durchbruch bei der Betriebsvereinbarung, die es nun umzusetzen galt.
Der Betriebsleitung gelang es während des ganzen Stellenabbaus nicht mehr, die
Meinungsführerschaft im Betrieb zurückzuerobern.

7. Zur Entstehung des NCI
Am 11. November 2002 erhielten die Mitarbeiter die Blauen Briefe: »Ihr Arbeits-
platz entfällt. Wir bieten Ihnen einen Aufhebungsvertrag an oder die Möglichkeit, in
die Beschäftigungsgesellschaft zu gehen. Ansonsten müssen Sie mit einer betriebsbe-
dingten Kündigung rechnen«. Der Betrieb war an diesem Tag lahmgelegt. Es war, als
ob ein Meteor eingeschlagen hätte. Einige liefen herum wie aufgescheuchte Hühner,
andere saßen erstarrt vor ihrem PC, ganze Abteilungen legten die Arbeit nieder.
Sprach man jemanden auf den Gang an, erzählte er seine Lebensgeschichte und
offenbarte seine Lebensverhältnisse.
Der Beginn des Mitarbeiter-Netzwerks NCI war eine schlichte Email, die die
Kolleginnen und Kollegen von benachbarten Abteilungen zusammenrief und dazu
aufrief, alle Interessierten mitzubringen. Zwischen 30 und 40 Leuten folgten diesem
ersten Aufruf. Während der Vorstellungsrunde erzählte jeder Mitarbeiter, wie es ihm
ging, was er fühlte und wie hilflos er sich dieser existenzbedrohenden Situation ge-
genüber sah. Dieses Sprechen über Gefühle war ein sehr wichtiger Moment; er half
den KollegInnen, aus der emotionalen Isolation herauszutreten. Das Sprechen über
Emotionen ist heute noch ein zentrales Element im NCI. Ohne den Aufbruch des
Tabus »Gefühle« wäre der Zusammenhalt im NCI nicht gelungen.
Die Information über diese erste Gruppe des NCI verbreitete sich in Windeseile.
Mitarbeiter, die zur Beratung beim BR kamen, wurden vor den Türen angesprochen
und gefragt, ob sie im NCI, das zu diesem Zeitpunkt noch keinen Namen hatte,
mitmachen wollten. Auch hier das Gleiche: Jeder erzählte seine Geschichte, jeder
schloss sich an.
Die zweite Phase war die Aufklärung über betriebsbedingte Kündigung, über
Kündigungsschutz, soziale Auswahl, Weiterbeschäftigung nach § 102 BetrVG und
das Geschehen vor Gericht. In den verschiedensten Abteilungen hielt die Autorin
dann ­ als Mitarbeiterin von Siemens ­ den gleichen Vortrag über das Thema Kün-
digungsschutzklage. Es sprach sich in Windeseile herum, dass es jemand gab, der
wusste, welche rechtlichen Folge eine Kündigung hat und welche Mittel es gibt, sich
dagegen zu wehren. Bei jedem Treffen wurden die Email-Adressen der Mitarbeiter
eingesammelt. So entstand der erste NCI-Verteiler.
Dann folgte das erste NCI-Treffen mit dem Ziel, die Mitarbeiter zu bewegen, ihre
Sache selbst in die Hand zu nehmen. Es kamen ca. 200 Beschäftigte zu diesem Tref-
fen. Der große Saal im Gewerkschaftshaus platzte aus allen Nähten. An den Wänden
waren Wandzeitungen mit Themenvorschlägen angebracht, angefangen von Emoti-
onen bis hin zu rechtlichen Fragen. Zunächst drohte die Veranstaltung, eine ganz
normale Betriebsversammlung zu werden. Dann aber folgten die Mitarbeiter dem
Aufruf: »Organisiert Euch selbst, gründet Gruppen, tragt Euch in den Email-Ver-
teiler ein, redet miteinander, lernt Euch kennen.« Die Veranstaltung war ein voller
Erfolg. Ein ehemaliger Abteilungsleiter sagte: »So, jetzt kämpfe ich!« Er tut es bis
heute, wie viele andere auch. Damit war ein weiteres zentrales Element von NCI
geboren: die solidarische Eigeninitiative und Eigenverantwortung. Die Situation
­ auf der einen Seite die Wissenden (BR), auf der anderen Seite die Hilflosen (Beleg-
schaft) ­ war durchbrochen. Die Hilflosen wurden selbst zu Wissenden. Es gelang,
die MitarbeiterInnen aus ihrer Abhängigkeit von BR und anderen »Wissenden« he-
rauszuholen ­ und damit auch eine klare Abkehr von der Stellvertreterpolitik zu
praktizieren. Dieses Element ist nach wie vor ein zentrales Element im NCI und war
auch stets ein Anliegen des damaligen Betriebsratsvorsitzenden Heribert Fieber. Die
betroffenen Kolleginnen und Kollegen fühlten sich in der Gemeinschaft und im ge-
meinsamen Erleben dieses Treffens plötzlich nicht mehr isoliert und schwach. Dies
ist im NCI bis heute so.
Nachdem das NCI-Mitarbeiternetz im November 2002 seine Tätigkeit mit 30 Mit-
gliedern aufnahm, wuchs und gedieh es im Laufe der Jahre und umfasst heute 900
Mitglieder. Die meisten von ihnen kommen aus dem Betrieb Hofmannstraße, aber
auch MitarbeiterInnen von anderen Siemens-Standorten und anderen Firmen in an-
deren Städten haben sich NCI angeschlossen. Zur Zeit ist das NCI für Siemens-Mit-
arbeiterInnen eine der wichtigsten Anlauf- und Informationsstellen. Festzuhalten ist
auch: Das NCI wurde aus der Belegschaft heraus gegründet, und es entstand eine
optimale Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat, Belegschaft, Kirchen und Gewerk-
schaft.3
8. Zur Arbeitsweise des NCI
NCI hat einige Elemente eingeführt, die es bis dahin bei Siemens so nicht gab und
auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll.
Gruppenbildung im NCI
Die Basisgruppen »beE«, »Gekündigte«, »Schwerbehinderte«, »Jubilare« wurden
in einer großen NCI-Veranstaltung vorgeschlagen und bestehen bis heute. Neue
Gruppen entstehen nach Bedarf und folgen einem bestimmten Procedere: Wenn ein
Kollege eine Idee hat, die er umsetzen möchte, teilt er diese dem Netzwerk NCI mit.
Diese Idee wird ohne Vordiskussion und Vorfilterung 1:1 an alle 900 NCI-Mitglieder
weitergeschickt mit dem Hinweis, dass ein Koordinator und Mitstreiter gesucht wer-
den. Aus Sicherheitsgründen (der Arbeitgeber soll nicht erfahren, wer im NCI aktiv
ist), werden in einer solchen Rundmail keine Namen genannt. Die bei NCI eingegan-
genen Antworten werden an den Ideengeber und den Koordinator (falls dieser sich
gemeldet hat) geschickt. Danach organisiert sich das Team völlig unabhängig von
NCI. Die Gruppe selbst ist jedoch offen für jeden, der Interesse an dem Thema hat.
Geschlossene Zirkel gibt es nicht. Interessiert sich niemand oder niemand mehr für
das Thema, entsteht die Gruppe nicht oder zerfällt wieder. Es wird nichts künstlich
am Leben erhalten.

Rolle der Rundmail

Die Rundmail hat eine Doppelfunktion. Über die Rundmail werden alle NCI-Mit-
glieder informiert, sei es über rechtliche Fragen, über Tipps bei Personalgesprächen,
über empfohlenes Vorgehen, wobei bei uns ein Grundsatz ist, dass jeder selbst ent-
scheidet, was er tut und was nicht. Es ist völlig in Ordnung, wenn jemand anders
entscheidet, als die Mehrheit von NCI es für richtig hält. Dies führt nicht zum Aus-
schluss oder dazu, dass jemand schräg angeschaut wird. Neben der Wahrnehmung
der emotionalen Aspekte und der Aufforderung zur Eigenaktivität ist dies der dritte
zentrale Grundsatz im NCI. Durch die Rundmail als Newsletter ist es möglich, in
kürzester Zeit alle NCI-Mitglieder auf den gleichen Wissensstand zu bringen.
Zum anderen wird diese Rundmail dazu verwendet, strategische Vorgehenswei-
sen der Betriebsleitung, die in der Regel individuell gegenüber einzelnen Mitarbei-
terInnen erfolgen, aufzudecken und die Mitarbeiter aus der Isolierung zu holen.
Unterstützt wird dies durch die Gruppentreffen. Zwei Beispiele zur Erklärung: Ein
Mitarbeiter meldet, dass er eine Abmahnung wegen einer Nichtigkeit bekommen
habe. Diese Tatsache wird an alle 900 Mitglieder weitergegeben, verbunden mit der
Frage, ob noch jemand im Netz eine Abmahnung bekommen hat. Wenn die Ant-
worten eintreffen, erkennt man sofort, ob es sich bei dieser Abmahnung um einen
Einzelfall oder um ein strategisches Vorgehen handelt. Im Falle eines strategischen
Vorgehens wird dieses als solches auf der NCI-Homepage veröffentlicht (ebenfalls
ohne Namen). Zu bemerken ist, dass öffentlich natürlich weder die Namen noch
die Abteilung oder der Abmahngrund mitgeteilt werden, der Mitarbeiter also nicht
identifiziert werden kann ­ eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber dem Mitarbeiter,
damit der Arbeitgeber keine weiteren nachteiligen Maßnahmen einleiten kann. In
allen Fällen wird der BR informiert.
Das zweite Beispiel ist Mobbing. Tritt ein Mobbingfall auf, wird ähnlich verfahren
wie gerade geschildert. Hinzu kommt, dass Kollegen, die in der Nähe des Mob-
bingopfers arbeiten, dieses zu betreuen beginnen. So werden z.B. isoliert sitzende
Kollegen, die in einem großen Raum ohne Arbeit und Ansprache sind, regelmäßig
von Kollegen besucht; der Raum wird zum Pizza-Feier-Raum u.ä. Damit läuft Mob-
bing durch Isolation ins Leere. Strategisches Mobbing veröffentlicht NCI auch auf
der Homepage. Insbesondere die Nicht-Gekündigten (Jubilare, Schwerbehinderte,
Ältere) waren vermehrt Mobbing ausgesetzt. Die Gekündigten am wenigsten. Sie
standen quasi unter dem Schutz des Gerichts.
Begleitung zu Gerichtsprozessen
Niemand muss im NCI allein seinen Gerichtsprozess durchstehen. Die KollegInnen
organisieren sich selbst, damit jeder genügend Zuschauer im Gerichtssaal hat. Die
Richter sprachen irgendwann von den »Siemens-Prozessreisenden«. »Der Gerichts-
saal ist voll; wir können anfangen«, lautete einmal ein Ausspruch einer Gerichts-
schreiberin. Er drückt die Solidarität im NCI aus. Über die Prozesse wird auf der
NCI-Homepage berichtet. Die Richter sind treue Leser dieser Berichte geworden.
Oft wird das NCI auch im Gerichtssaal zitiert.
Die Homepage
Die Homepage www.nci-net.de4 dient zum einen dazu, die verteilte Information in
Rundmails einigermaßen systematisch geordnet zum Nachschlagen anzubieten. Ihre
wesentliche Funktion ist aber die Öffentlichkeitsarbeit, d.h. der Internet-Welt auf-
zuzeigen, was an Siemens-Standorten passiert.
9. Öffentlichkeitsarbeit
Ohne Öffentlichkeit lässt sich kein wirksamer Arbeitskampf führen. NCI hat daher
begonnen, bei Ereignissen, die für die Presse interessant sein können, eine Presse-
erklärung des NCI herauszugeben. Auch diese wurde aus Sicherheitsgründen lan-
ge Zeit nicht mit Namen unterschrieben, sondern nur mit Siemens-Mitarbeiternetz
NCI. Heute, wo Inken Wanzek nicht mehr Mitarbeiterin der Siemens AG ist, kann
sie es sich erlauben, solche Pressemitteilungen im Namen des NCI zu unterzeichnen.
NCI hat darüber hinaus auch Politiker auf die Situation bei Siemens aufmerksam
gemacht.
Diese Öffentlichkeitsarbeit hat verhindert, dass die Schwerbehinderten, Jubilare
und Älteren aus dem Standort München Hofmannstraße ausgegliedert wurden. Die
MitarbeiterInnen befürchteten eine Teilbetriebsschließung, mit der jeglicher Kündi-
gungsschutz hinfällig gewesen wäre. Aufgrund einer gemeinsam erarbeiteten Strate-
gie stimmte auch kaum jemand dieser Versetzung zu: Es wurden Pressemitteilungen
an alle Print-Medien im Münchner Raum, Fernsehen, Hörfunk versendet, Politiker,
Bischöfe, Bundeskanzler und Bundespräsident wurden informiert. Die Ausgliede-
rung dieses Personenkreises fand nicht statt. Ohne Öffentlichkeitsarbeit wäre das
nicht gelungen.
10. Unterschiede zwischen Gewerkschaft und NCI
Gewerkschaften sind streng hierarchisch organisiert. NCI dagegen hat keine klas-
sische Organisationsform. Der Grad des Einflusses eines NCI-Mitglieds auf das
Netzwerk wird bestimmt durch den Grad seiner Aktivität. Je aktiver ein Mitglied
ist, desto mehr Einfluss hat es auf die Handlungsweise des NCI. NCI ist im Gegen-
satz zu Gewerkschaften dezentral organisiert. Daher existieren im NCI verschiedene
Gruppen, die sich in der Regel selbständig herausbilden, gleichberechtigt neben-
einander. Diese Gruppen organisieren sich selbst und handeln autonom. Dadurch
entsteht ein asynchrones Handeln, das eine starke Dynamik und Kreativität in sich
birgt. Außenstehende bezeichnen diese Handlungsweise oft als chaotisch, weil es bei
uns keinen Ansprechpartner gibt, der stellvertretend für NCI sprechen kann. Wür-
de es einen bestimmten Ansprechpartner geben, würde Siemens alles daran setzen,
diesen zu eliminieren. Das Beispiel von Inken Wanzek, die durch die Gründung
des NCI bekannt geworden war, zeigt dies mehr als deutlich.5 Stattdessen gibt es
themenbezogene Ansprechpartner: Im Grunde kann jedes NCI-Mitglied angespro-
chen werden, das dann den Gedanken im NCI zu Diskussion stellt und dadurch
Interessierte um sich schart, die in dieser Frage Ansprechpartner sind. Wahlen gibt
es im NCI keine, Abstimmungen erfolgen innerhalb von Gruppen. Im NCI gibt es
zwar auch eine Kerngruppe, Koordinationsteam genannt. Diese hat aber nicht die
Aufgabe, die Ziele und Handlungen des NCI zu bestimmen, sondern sie zu koordi-
nieren, Impulse zu geben, die dann im Netz diskutiert, angenommen oder abgelehnt
werden. Das Annehmen und Ablehnen erfolgt durch das Umsetzen in Handlungen
oder Nicht-Handlungen, in wichtigen Fragen durch demokratische Abstimmung.
Das Koordinationsteam wirkt wie ein Takt- oder Impulsgeber, vergleichbar mit dem
Grundthema in einem Musikstück, das in der Komposition variiert wird. Dieses
Grundthema hält NCI zusammen, Variationen sind, ähnlich wie im Jazz, beliebig
zugelassen und werden nicht zurückgedrängt, solange sie in Beziehung zu diesem
Grundthema stehen. Grundthema im NCI ist der Mensch, und Aufgabe des NCI ist
es, diesen darin zu unterstützen, für seine spezielle Situation (Kündigung, Mobbing,
Arbeitsüberlastung) eine für ihn persönlich lebbare Lösung zu finden. Dies schließt
emotionale Aspekte genauso mit ein wie sachliche und rechtliche Aspekte sowie
gesellschaftspolitische Stellungnahmen. Würde sich im NCI eine Gruppe heraus-
bilden, deren Ziel die Einführung von hierarchischen Strukturen mit Führungsan-
spruch hat, würde diese keine ausreichende Basis finden und aus dem NCI über
kurz oder lang herausdiffundieren und sich andere Verbündete suchen. Diesen Fall
hatten wir jedoch noch nicht.
Ein weiterer Unterschied zu Gewerkschaften besteht darin, dass das NCI einen
kontinuierlichen Prozess lebt. In der Praxis treten Gewerkschaften bei ihren Mit-
gliedern nur in Erscheinung, wenn es um den Abschluss von Tarifverträgen oder um
Aktionen in Betrieben geht. Diese Aktionen, z.B. Demonstrationen, sind punktuell
und zeitlich eng begrenzt. Danach verschwinden Gewerkschaften wieder aus dem
täglichen Bewusstsein ihrer Mitglieder (auch wenn die Theorie in den Gewerkschaf-
ten anders lauten mag). Das NCI ist auch in Zeiten, in denen kein Arbeitskampf
ansteht oder dieser situationsbedingt abgeflaut ist, aktiv. Ziel ist es, auch in diesen
Phasen den Zusammenhalt und die Solidarität zu erhalten. Dies äußert sich z.B.
darin, dass NCI-Feiern veranstaltet werden oder Diskussionen über allgemeinere
gesellschaftspolitische Themen ohne unmittelbaren Handlungsdruck laufen.

11. Konflikt mit der IG Metall
Am 10. Februar 2004 gab es die letzte Betriebsvereinbarung im Rahmen des Stel-
lenabbaus, mit der die Situation für die Jubilare, Schwerbehinderten und Älteren
geregelt wurde. Die Betroffenen sollten in interne Projekte (Project Assignment,
PRA) vermittelt werden ­ eine Form interner Leiharbeit. Der Preis für die Vermitt-
lung der Jubilare, Schwerbehinderten und Älteren an neue Arbeitsplätze war: Der
Betriebsratsvorsitzende Heribert Fieber musste gehen, sein Stellvertreter Leo Mayer
wollte gehen. Die IG Metall beschloss Be-friedung ­ obwohl die Situation der Ge-
kündigten und PRA-ler bis heute nicht gelöst ist. Das NCI machte die befohlene
Befriedung nicht mit. In der Folge trat der Betriebsrat München Hofmannstraße
zurück, und Neuwahlen fanden statt. Die IG Metall-Fraktion gewann bei den Wah-
len fast die absolute Mehrheit6 ­ die Belegschaft honorierte damit die bis dahin gute
Betriebsratsarbeit. Das NCI zog unterdessen mit einem Sitz in den BR ein.
Der neue BR schlug jedoch einen anderen Kurs ein, folgte der Befriedungspolitik
der IG Metall. »Man muss mit dem Arbeitgeber reden können«, hieß das neue Mot-
to. Seitdem herrschen zwischen IG Metall und NCI ständig Konflikte. Einer der
letzten gipfelte in der Formulierung von zwei IG Metall-Funktionären: »Zweitens
haben wir die Aussperrung aus dem Siemens-Intranet wesentlich einem Beitrag auf
der NCI-Homepage zu verdanken, der nach der Devise: `Erst schreiben, dann den-
ken!` gegen Siemens polemisierte.« Inzwischen stellte sich aber heraus, dass Siemens
die IG Metall aus dem Internet verbannte, weil sie sich nach Meinung von Siemens
in einem Bericht geschäftsschädigend verhalten hat. Der Vorwurf gegen NCI war
damals also frei erfunden.
Das NCI ist aber schon lange stark genug, alleine weiter zu kämpfen. Eines ist
sicher: Aufgeben wird es nicht: »Wir bleiben unserem Ziel treu, solange weiter-
zukämpfen, bis jeder für sich eine Lösung gefunden hat«. An diesem Grundsatz
hat sich angesichts des fortgesetzten Stellenabbaus, weiterer Ausgliederungen usw.
nichts geändert, auch wenn der damalige Konflikt durch Reintegration der Mitar-
beiter gelöst ist. Bemerkenswert ist, dass die damaligen Kämpfer sich aber nicht in
ihre neue alte heile Welt zurückgezogen haben, sondern weiter aktiv geblieben sind.
Das ist der zweite große Erfolg des NCI: eine Bewusstseinsänderung mit der Bereit-
schaft, nun weiter für andere solidarisch zu kämpfen ­ über den Erhalt des eigenen
Arbeitsplatzes hinaus.
12. Andere Bewegungen
Das NCI ist keine isolierte Insel, sondern sucht aktiv Verbindungen zu anderen ge-
werkschaftlichen, betrieblichen und sozialen Bewegungen. Der Schwerpunkt liegt
­ entsprechend den Grundstrukturen des NCI ­ auch hier auf der menschlichen
Begegnung, der Vernetzung und der damit möglichen schnellen Kommunikation,
auf Erfahrungsaustausch, um selbst neue Anregungen zu bekommen und welche

zu geben. Auch hier ist es NCI wichtig, dass alle Beteiligten ihre Eigenständigkeit
und Selbstbestimmung entwickeln bzw. erhalten und keine Übernahmetendenzen
entstehen. In der Praxis zeigt sich, dass diese Einbettung für NCI auch für seine
Stärke und politische Schlagkraft nach außen wichtig ist. So z.B. bei Angriffen durch
Siemens oder auch durch die Gewerkschaft. Diese würden sicher auf fruchtbareren
Boden fallen, wenn das NCI sich nicht ­ auch durch die Zusammenarbeit mit ande-
ren ­ diesen Bekanntheitsgrad erarbeitet hätte. Auch dies ist wichtig.
FUSSNOTEN
1  Der Bereich ICN wurde mit dem Bereich ICM (Mobile Netze) zusammengelegt und nennt sich
nun Com (Communications). Com erzielt immer noch nicht die von der Firmenleitung gefor-
derte Rendite von 8 bis 11 Prozent. Com verzeichnet einen Verlust von 70 Mio. Euro (3. Quartal
2005) nach einem Gewinn von 209 Mio. Euro im Vorjahr.
2  Auch bei den Gekündigten waren die BR-Widersprüche insofern erfolgreich, als sie mit diesen
die Weiterbeschäftigung bis Prozessende vor Gericht erkämpfen konnten.
3  Siehe auch: www.netzwerkkit.de/projekte/siemens/
4  Das Netzwerk ist nach Auseinandersetzungen mit der IG Metall auf diesen IGM-unabhängigen
Server umgezogen; s. dazu unten »Konflikt mit der IGM«.
5  Am 27. Oktober 2003 erfolgte die fristlose Kündigung von Inken Wanzek aufgrund einer Soli-
darmail im privaten Mitarbeiternetz NCI. Die erste Instanz wurde gewonnen, die zweite endete
im Januar 2005 mit einem Vergleich, da Siemens einen Zerrüttungsantrag gestellt hatte. Die
NCI-ler sagten bei der gemeinsamen Übergabe ihrer Kündigungsschutzklage: »Inken wurde
stellvertretend für uns gekündigt.« Hintergründe zum Verfahren unter: www.ncinet.de
6  Eine Stimme im BR fehlte ihr dazu. In den Wahlen zuvor hatte sie knapp die Mehrheit gegen die
AUB errungen ­ damals zu Recht ein großer Wahlerfolg für die IGM.

Die Autorin dieses Textes – Inken Wanzek – ist inzwischen, nach ihrem Arbeitsgerichsprozeß, nicht mehr Siemensianerin, was von den zurückgebliebenen Mitarbeitern sehr bedauert wird. Ihr Text erschien kürzlich in einem Sammelband über sozialen Widerstand im Postfordismus, der in der Zeitung “Neues Deutschland” von Peter Nowak wie folgt rezensiert wurde:

ND 25

Obwohl einige der letzten Tarifrunden wegen der günstigen Konjunktur aus Gewerkschaftssicht sehr gut gelaufen sind, ist die Defensive der Arbeitnehmerseite längst nicht überwunden. Abschlüsse wie der für Gewerkschaft wie Mitarbeiter nicht besonders erfolgreiche Tarifkompromiss bei der Deutschen Telekom halten die Diskussion über Einfluss und Möglichkeiten der Arbeitnehmerorganisationen auch weiter aktuell. Schließlich ist es längst keine Ausnahme mehr, wenn die Arbeitnehmerseite in Tarifauseinandersetzungen schmerzhafte Zugeständnisse machen muss. Das ist ein Ausdruck »der Krise gewerkschaftlicher und vergleichbarer sozialer Organisationen, die sich als Durchsetzungsorgane für die Bestimmung und Verwaltung von Mitgliederinteressen verstanden haben«, schreiben die Herausgeber eines kürzlich im Verlag »Die Buchmacherei« erschienen Bandes.

Neun Autoren widmen sich der immer aktuellen Frage, wie Arbeitnehmer im »Postfordismus« für ihre Interessen kämpfen können. Was bedeutet es für eine gewerkschaftliche Interessenvertretung, wenn sich die Mitglieder nicht mehr über ihre soziale Situation austauschen können, weil die Arbeitszeitgestaltung und räumliche Trennung einen Kontakt kaum mehr möglich macht? Wie haben Gewerkschaften in anderen Ländern auf vergleichbare Veränderungen im Arbeitsprozess reagiert – und was können wir davon lernen? Kann die Konzentration auf das Thema »Prekarität« wieder neue Impulse für soziale Bewegungen schaffen?

Die im Band versammelten Beiträge wurden im Rahmen von Arbeitsgruppen und Diskussionsrunden im Bremer Verein SEARI (»Social Economic Action Research Institute«) gehalten. SEARI war bis 2004 der Bremer Universität angegliedert und forscht jetzt als unabhängiger Verein über die gegenwärtigen Veränderungen des globalen Kapitalismus und Ansatzpunkte für sozialen Widerstand unter diesen neuen Bedingungen.

Willi Hajek kommt bei seinem Vergleich von Erwerbslosenprotesten in Frankreich und Deutschland zu durchaus interessanten Ergebnissen. Während die wohl größte deutsche Gewerkschaftszeitung »ver.di-Publik« jüngst eine ellenlange Reportage über den Arbeitsalltag einer eifrigen Beamtin abdruckte, die berufsmäßig Erwerbslosen auf der Jagd nach »Sozialbetrügern« bis in die Badezimmer nachspioniert und sich über die Anspruchsmentalität von Hartz-IV-Empfängern aufregte, verfassten gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter von Arbeits-ämtern in Frankreich eine Erklärung, in der sie sich selbst verpflichteten, auf keinen Fall Menschen zu schaden, die durch den Verlust von Beschäftigung und Einkommen ohnehin benachteiligt sind.

Die Software-Entwicklerin Inken Wanzek beschreibt die Entstehung eines Mitarbeiter-Netzwerkes, das lange dem Druck von Siemens standgehalten hat, obwohl es wegen seiner kämpferischen Haltung erst mit dem Unternehmen und später mit der IG Metall in Konflikt geraten ist. Dirk Hauer und Martin Dieckmann beschäftigen sich in ihren Beiträgen kritisch mit der aktuellen Debatte um das »Prekariat«, die mittlerweile längst das Mainstream-Bewusstsein erreicht hat. »Es sollte zu denken geben, dass zwar die Kämpfe (…) der Prekären beschworen werden (…), gleichzeitig aber auf die Kämpfe gegen den Prekarisierungsangriff etwa bei Daimler oder Opel kaum Bezug genommen wird.«

Das Buch zeigt an einigen Beispielen, dass Widerstand auch im »Postfordismus« in den verschiedenen Bereichen möglich ist. In diesem Zusammenhang liefert der Band auch Bausteine für eine Theorie sozialer Bewegungen.

Holger Heide, Sergio Bologna u.a. (Hg.): Selbstorganisation. Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus, Berlin 2007, 13 Seiten, 12 Euro.

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