vonHelmut Höge 16.10.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Vielleicht steht uns ein neuer Existentialismus – in Theorie und Praxis – bevor. Der JW-Autor Dr.Seltsam hat dem schon mal mit seinem “Club Existentialiste” vorgearbeitet. In den frühen Sechzigerjahren gehörte ich als Mittelschichts-Gymnasiast zu den “Exis” – uns feindlich gegenüber standen die Unterschichts-“Rocker”. Wir waren nach Frankreich orientiert, die Rocker nach Hollywood.

Der Existentialismus ist ein Nachkriegs-Resultat der Résistance und mit dem Namen Jean-Paul Sartre verknüpft, der noch in der Studentenbewegung und im französischen Maoismus eine wichtige Rolle spielte. “Sein”  Existentialismus war jedoch zuvor bereits durch die Sängerinnen Edith Piaf und Juliette Greco zu einer Mode geworden. Der Wiener Auschwitz-Häftling Jean Amery faßte diesen in drei Sätzen zusammen: 1. “Der Mensch ist nur das, was er aus sich macht. 2. Der Mensch ist frei. 3. Der Mensch ist sozial engagiert.” Er ist also nur das, was er tut. Im Grunde ist er überhaupt nichts, “sondern besteht nur im permanenten Prozeß der Selbst-Realisierung. Das ‘Sein’ ist nicht dem Menschen eigen, sondern nur den Dingen, der Mensch besteht aus der Summe seiner getanen Handlungen und aus seinen künftigen Möglichkeiten, seinem ‘Projekt’.” Amery schrieb dies 1961, inzwischen reden wir alle von (unseren kleinen oder großen) “Projekten”, was uns zum Neoexistentialismus noch fehlt, wäre demnach zu begreifen, dass wir keine Projekte machen oder haben, sondern dass wir sie sind, wobei es darum geht, “über sich selbst hinauszugehen – das ‘dépassement’ ist der wichtigste dialektische Vorgang der menschlichen Existenz.”

Für Sartre definiert sich vor allem der “Revolutionär” durch das Überschreiten (dépassement) der Situation, in der er sich befindet. Seine Freiheit ist dabei jedoch nicht vage und unbeschränkt, “sondern stets auf eine gegebene Wirklichkeit bezogen”. Er ist laut Améry nicht der “subjektive Faktor” des Marxismus, sondern ein Einsamer, der unwiderrufliche Entscheidungen trifft. Und das betraf im während des Krieges besetzten Frankreich vor allem die Entscheidung – für die Résistance oder für die Kollaboration. Améry schreibt: “Der ‘Chant des Partisans’ gab den Grundton, das Frankreich der ersten Nachkriegszeit lebte seelisch vom Mythos der Résistance. Durch ihre bloße Existenz wurde jeder Bürger zum potentiellen Helden wie zum potentiellen Sicherheits-Spießer und zum potentiellen Verräter. Sie hat dem Wort ‘engagement’ einen konkreten Sinn verliehen. Durch die Tatsache der Widerstandsbewegung stand der Mensch vor der Wahl.” Sartre konnte deswegen auch behaupten: “Nie waren wir freier als während der deutschen Besetzung.” Améry hörte 1946 einen Vortrag von Sartre in Paris, bei dem einige Leute vor hysterischer Ergriffenheit in Ohnmacht fielen. Es waren erwachsene junge Leute, keine Teenager, “und noch ihre Hysterie hatte eine gewisse geistige Würde”. Der ehemalige Kommunist Dominique Desanti erinnerte sich 1959: “Sartre repräsentierte für uns die vollkommene menschliche Wohlgelungenheit, das großzügige Verständnis ohne Albernheit, ein eigenartig schonungsloses Wohlwollen. Mehr noch als zu denken, hat er uns zu leben gelehrt.” Dieser hässliche , kleine, schielende Mensch – Sartre, der Theaterstücke und Romane schrieb, hatte weniger eine literarische als eine weltanschauliche Wirkung – und die war gewaltig, er war “für seine Epoche mehr Philosoph als Dichter”. Und die Solidarität war für ihn keine Forderung, denn für Sartre  gab es keine “ewigen” oder “absoluten” Werte, sondern, wie Améry es ausdrückt, “ein Schicksal, dem wir uns nicht entziehen können. Wir sollen nicht mit unseren Mitmenschen solidarisch sein, sondern wir sind es, ob wir wollen oder nicht.” Heißt das, das wir nur die Wahl haben, mit wem wir es sind – mit den Herrschenden oder mit denen, die unter ihnen leiden? Und dass das “Projekt”, das wir sind bzw. sein werden immer etwas Soziales ist, dass wir dabei entweder tendenziell zerstören oder festigen, d.h. ausweiten? Mit dieser letzten Frage gebe ich zurück an das Redaktionshaus in der Torstraße, wo gerade ein “neuer Kommunikationsort” situiert wird.

Es gibt sie noch heute – die “ruhelosen Exis(tentialisten)” – z.B. der Doktor Olav Münzberg. Er betreibt mit seiner Freundin ein polnisches Theater nebst einer Theaterschule. Und weil die taz nie darüber berichtete, bat ich die polnische Dichterin Anna Panek, sich dieses “Thema” einmal (in Form einer journalistischen Konfektionsware) vorzunehmen. Das wollte sie auch, allein, sie stand dann vor verschlossener Tür – und so wurde nichts daraus.  Zuvor hatte ich jedoch – anläßlich des sechzigsten Geburtstages von Olav Münzberg – mal ein langes Gespräch mit ihm geführt, in dem wir u.a. auch auf den “Existentialismus” zu sprechen kamen bzw. auf das, was daraus wurde:

Ich hatte seinerzeit, Ende der fünfziger Jahre, wie oben bereits angedeutet, schon durchaus einen Begriff von Existentialismus: Zu Ostern und im Herbst fuhren meine Künstlereltern regelmäßig mit mir und unserem Dackel auf dem Motorrad nach Paris. Geradezu eine Pilgerfahrt ins Herz des Existentialismus. Die Mutter blaß geschminkt, der Vater mit dem Zeigefinger rudernd. Tagelang standen sie vor irgendwelchen wichtigen Kunstwerken – und begeisterten sich. Für mich war es furchtbar! Zu Hause – in den Exi(stentialisten)kellern – war es nicht besser: Bärtige baskenbemützte Pfeifenraucher diskutierten bei schaurigem Rotwein die Bläsereinsätze irgendwelcher Jazzformationen.  Aber dann setzte sich zum Glück mit der Studentenrevolte die Rock- und Popmusik durch und fegte all die “Baskenmützen” hinweg. Mit dem Paradigmenwechsel von Paris nach New York fanden sich Jung-Exis und -Rocker wenigstens zum Teil im internationalen “Protest” wieder – auch gegen die alten “Kordhosen” und “Baskenmützen”, die ihre Avantgardeposition jedoch erhalten konnten, in dem sie ihren Existentialismus als individualistische Resistenzphilosophie an die Spitze der neuen “Bewegung” drillten. Hiergegen konnte nur eine kräftige Dosis Stalin-Mao (Stamo) kapieren helfen!

An dieser Stelle kommt nun Olav Münzberg ins Spiel: 1972 promovierte er beim Religionsphilosophen Klaus Heinrich an der Freien Universität (FU) – über Rezeptionsfragen in der Ästhetik: “Also Kant, Hegel, Heidegger, Sartre und Benjamin/Adorno!” Olav Münzberg wurde dann Assistent beim egalitären Klaus Heinrich. Beim elitären Hermeneutiker Dieter Henrich, der wegen der Linken an der FU die Stadt verlassen hatte, aber noch eine Vorlesung an der Technischen Universität (TU) hielt, lernte Münzberg Dietger Pforte kennen. Anschließend gingen sie in die Paris Bar, wo die Professoren der Hochschule der Künste (HdK-Profs) saßen. Pforte ebenso wie Münzberg, die diesseits von “Kommune und SDS” – ausgehend von der “antiautoritären Bewegung” – “die drei Stränge Philosophie, Literatur und Kunst” bearbeiteten, wie er das Anfang 1999 nannte, “in Wirklichkeit” waren sie jedoch vor allem kulturpolitisch tätig.  Olav Münzberg – inzwischen Honorarprofessor an der UdK (“für 50  Euro monatlich”) – meist in ehrenamtlichen Funktionen: “Ich habe keinen festen Verdienst, und lebe sehr bescheiden.” Seine 2-Zimmer-Wohnung in der Wilmersdorfer Straße ist Zeuge! An die UdK kam er als “Spezialist für mexikanische Kunst und Kultur”. Zusammen mit Michael Nungesser holte er die großen sozialistischen Wandmaler Orozco, Rivera und Tamayo nach Berlin. “Wir sind auf eigene Kosten nach Mexiko gejettet und durchs Land gefahren.” Über tausend Dias in seiner Wohnung beweisen es!  1972 gründete der Adorno- Doktorand Eberhard Knödler- Bunte in Frankfurt die Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation. Inzwischen wurde das 137. Heft ausgeliefert. Seit 1973 sitzt die Redaktion in Berlin. Bis zur Wende 1990 arbeitete auch Olav Münzberg darin mit – ebenfalls unentgeltlich: “Aber von den Mittwochsdiskussionen dort habe ich sehr profitiert”, sagt er, der nach eigener Einschätzung “ein gestörtes Verhältnis zum Geld” hat.

1973 wurde auch der staatlich alimentierte BRD-Schriftstellerverband (VS) in die IG Druck und Papier (nunmehr: IG Medien) integriert. Die scheinbar selbständige Industriegewerkschaft darf aber keine “Staatsknete” annehmen, weswegen der vom Schicksal besonders begünstigte VS West- Berlin noch schnell die “Neue Gesellschaft für Literatur” (NGL) ausgründete: “Als Geldwaschanlage, das darf man aber so nicht sagen.” Zu den Gründern zählte Ingeborg Drewitz. Olav Münzberg saß von 1985 bis 1990 im Vorstand der NGL. 1989 wurde er Vorsitzender des Landesschriftstellerverbandes Berlin. Als solcher war er dann vor allem für die “Integration” der Schriftstellerkollegen aus dem Osten verantwortlich. Während die Restgelder ihres DDR-Verbandes heute von einer Kulturstiftung verwaltet werden, die der 1995 aus dem Kultursenat ausgeschiedene Dietger Pforte leitet – aber das nur nebenbei.  Olav Münzberg gab 1995 einen dicken Rechenschaftsbericht der NLG heraus: “Literatur vor Ort”. Neben gesammelter Prosa und Poesie werden dort auf fast 100 Seiten sämtliche Veranstaltungen der NGL von 1974 bis 1994 aufgelistet. Vom Abend der “AG Lyrik” – mit Bodo Morshäuser, über die “Maison de France”-Lesung von Aras Ören bis zu den “Berliner Autorentagen” und den x-ten “Hörspieltagen” – im Podewil. Tausendmal geschwitzt und gebangt, wieviel Leute kommen diesmal? Dann beim Lesen genuschelt, geraschelt, gehüstelt – aber gleich anschließend in der Kneipe nebenan wurde es dann gemütlich. Das wäre wieder mal geschafft! Hoffentlich zahlt man das Honorar sofort aus: “Bargeld lacht!” (Goethe).  Beim “Literaturhaus Fasanenstraße”, das Olav Münzberg 1984 mitgründete, wurde das Restaurant – nebst Buchhandlung – gleich in die repräsentative Gartenvilla mit integriert.

Gute Kulturpolitiker sind die geborenen Integratoren, was müssen sie nicht alles heim ins Reich holen. Punkmusik, Pankower Literaturwerkstätten, Techno  Paraden… Noch die schrägste Volkstanzgruppe und die kleinste sexuelle Minderheit will etatmäßig bedacht sein. Und laufend gebiert diese häßliche Mittel-Metropole neue Kreativ-Scenes aus der schier grund-losen Unübersichtlichkeit heraus.  1979 war das z.B. die “AG Tucholsky”, die aus dem Moabiter Geburtshaus des Satirikers ein aktives Museum machen wollte. Auch hierbei war wieder Ingeborg Drewitz Rädelsführerin. Es gibt – durchaus gebildete – Leute, die können einfach nicht einer normalen anständigen Arbeit nachgehen – und Ruhe geben: “Die Schwierigkeit, ja zu sagen” – ist im Westen inzwischen epidemisch geworden, im Osten spricht man von: “Kraft durch Nörgeln!” Gerade das geteilte Berlin zog solche Leute lange Zeit wie magisch an. Hätte die Sowjetunion nicht schlappgemacht, gäbe es in der Frontstadt inzwischen kein einziges gewöhnlich – d.h. profitabel – genutztes Haus mehr.   Den Berliner VS zog es nach der Wende, als all das Feingefügte plötzlich in Fluß geriet, konsequent aufs Wasser. Inspiriert von den erfolgreichen Schriftsteller- Kreuzfahrten des gesamtdeutschen VS – auf der Ostsee und im Schwarzen Meer -, initiierte er den “deutsch-polnischen Poetendampfer” auf der Oder: “Ein kühnes Unternehmen – vor allem vom Finanziellen her”, so Olav Münzberg, der inzwischen auch der deutsch-polnischen Redaktion der Zeitschrift Wir (polnisch: Wirrwarr) angehört und sogar zum Vorsitzenden des “Wir e.V.” wiedergewählt wurde.  Er wurde 1938 in Gleiwitz geboren, als Flüchtlingskind wuchs er in Bayern auf, studierte Jura in München und kam nach dem Mauerbau 1962 – gegenströmig – als Rechtsreferendar nach West-Berlin, wo er tagsüber im Gericht saß und nachts in Philosophie-Übungen. Der existentialistische Pariser Freiheitsbegriff wurde ihm dabei zu einer Theorie der Verantwortung: “Jeder ist verantwortlich für den Begriff des Menschen!”

In seinem kulturpolitischen Engagement geht das bis zur “Citizen Diplomacy”.  Wenn er beispielsweise in Jugoslawien an einer Gedenkstätte für die Opfer des deutschen Faschismus das Wort ergreift – als deutsch delegierter Schriftsteller. Oder als offizieller Teilnehmer an deutsch-jüdischen Gesprächen (von Verband zu Verband quasi). Auch als Moderator bunter deutsch-polnischer Dichterabende in pommerschen Dom Kulturys. Vor allem aber als in die graue deutsch-deutsche Schriftsteller- Wiedervereinigung hineingeworfener Verbandsvorsitzender: “Diese ganze Zeit, das war eine absolute Überforderung. Wir hatten doch überhaupt keine Kenntnis von den Organisationsstrukturen da drüben. Uns hat das doch alles nie interessiert. Vielleicht, daß man ein- oder zweimal im Jahr rübergegangen ist. Und dann doch meistens auch nur ins Antiquariat der Karl-Marx-Buchhandlung – in der früheren Stalinallee. Ich war kein Antikommunist, das muß ich dazu sagen, aber die bürgerlichen Grundrechte waren mir eine Selbstverständlichkeit, und die vielen Sicherheitskräfte drüben – das war mir zu unangenehm. Ich habe dann einen Schnellkurs DDR gemacht…”

Und inzwischen hat er dabei die 60 überschritten. Es gibt dazu ein Gedicht von ihm über die “38er Generation”, womit er ironisch auf die “68er” anspielt. 1968 gründete Olav Münzberg zusammen mit Kostas Papanastasiou, Peter Schneider und Michael Schneider sowie Barbara Schneider, die aus “Berkeley” kam, das “Berliner Straßentheater”. Als erstes führten sie “spontan” ein Stück zur Aufklärung über die griechische Militärdiktatur auf, zwei Tage nachdem in der TU ein “Hearing” zum selben Thema stattgefunden hatte. Dann kam ein Stück gegen die “Notstandsgesetze”, mit dem sie in Westdeutschland auftraten. Im Wedding wurden sie von antikommunistisch-“verblendeten” Rentnern bedroht: “Es war ein Versuch, abstrakte Begriffe – wie repressive Entsublimierung – verstehbar zu machen. Eines unserer Transparente kann das vielleicht verdeutlichen: die Köpfe von Marx, Lenin, Mao und Mozart. Solche gesellschaftlich-reflexiven Stücke haben nachher auch Eingang in die Schaubühne gefunden, überwogen dort sogar eine Zeitlang den Spielplan. Später wurde daraus Feinästhetik und jetzt eine Kulturkritik von rechts.” Olav Münzberg war und ist dagegen ein Bühnen-Existentialist – “mit Respekt vor der Gewerkschaftsarbeit” inzwischen.

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