vonHelmut Höge 17.09.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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1.

“Sie werden doch nicht sagen wollen, daß wir in Bälde eine Welt nach dem Muster der amerikanischen Plutokraten einrichten wollen: Overalls, alles aus dem gleichen Stück, aus dem gleichen Stoff, Hüte dazu mit Krempen so breit wie die Schutzschirme von Jahrmarktshändlern und Jeans für alle?” Fragte der Besitzer eines Obstgutes, Höhler, seinen Erntehelfer Erwin Strittmatter 1945. Doch, doch, genau das wollte er. Und später in seinen Romanen (u.a. in “Der Laden” Band 2 und 3) hat Strittmatter darauf bestanden, dass auch der Osten, schier die ganze Welt, sich nach dem Krieg amerikanisiert hat – bis unter die Haarwurzeln sozusagen. Wir erinnern uns: die erste Jeans – Made in the GDR – wurde sogar stolz im Ostberliner Museum unter den Blinden ausgestellt: in einer Glasvitrine. Neben dem letzten Zollstock des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck, ein gelernter Tischler. Als in den Achtzigerjahren die amerikanisch-russischen Beziehungen einfroren, gingen einige US-Aktivisten von “Citizen Diplomacy” empirisch der Frage nach: “Wo auf der Welt ist der ‘Amerikanische Traum’ noch lebendig?” Antwort: “Nur noch in der UDSSR!” Da wünschte sich z.B. ein Arbeiter aus den Togliattiwerken einmal neben den Kollegen in den Fordwerken am Band zu stehen; ein anderer, einmal einen Amijeep zu fahren. Seit dem “Zusammenbruch des Sozialismus” sind selbst beinharte Trotzkisten zu den Plutokraten übergelaufen: die ganzen US-Präsidentenberater z.B. – Wolfowitz et al.. So wie sie früher für den “Internationalismus” waren, kämpfen sie nun für die “Globalisierung”. Und im Café Einstein Unter den Blinden hockt der Ex-US-Botschafter für Deutschland Kornblum mit dem Goethe-Schriftsteller Peter Schneider zusammen – sie reden darüber, “what Europe has to do”: “We!” Schneider erzählt stolz, dass er nunmehr das fünfte Mal in den Super-Gehirnwaschsalon “Harvard” eingeladen wurde, wo auch die französischen Linksintellektuellen, wo Joschka Fischer und zuletzt der georgische Präsident schon auf CIA-Linie getrimmt wurden. “We!” Das ist das selbe globale Schweine-Wir, das auch “unser” Deutschlandpräsident Köhler, ein vormaliger IWF-Manager, stets gebraucht – in seinen Reden: Einmal meint er damit “Uns alle” (das “Volk”), und im selben Atemzug “Wir” – die “Elite”, d.h. die US-Plutokraten, die Siemens-, die Mercedes-, die McKinsey-Manager und Er, die sich alle mehr Mühe geben (sollen/müssen), um “uns” das alles zu verklickern, was sie mit dieser Welt vorhaben – mit uns, damit wir auch richtig spuren, d.h. endlich “begreifen”. In dieser ganzen ekelhaften Restaurationszeit, in der sich die miesesten Säcke als “Elite” nach oben mendelt, setzen viele linke Intellektuelle in der Dritten Welt ihre Hoffnungen auf China – als eine Art dritte Kraft, aufstrebend zu einer neuen Großmacht. Aber vergeblich – wie Strittmatter sagen würde, bereits im 1.Band seines “Ladens”: “zu spät!”

Die heutigen Arbeitssklaven in China heißen “Dagongmei” bzw. “Dagongzai”. “Mei” stand schon immer für “kleine Schwester”, “zai” für “Sohn”. Aber “dagong” ist quasi brandneu: es heißt arbeiten im Sinne von “jobben”. Die Dagongmei bzw. -zai sind “Jobber”, und zwar von der elendsten Sorte, die in rechtsfreien “Work-Zones” ihr junges Leben für den Profit ausländischer alter Säcke (Investoren) hingeben. “Dagong” heißt so viel wie “für den Boss arbeiten”, der dann auch gerne wie unser aus “kleinsten Verhältnissen” stammender SPD-Reform-Kanzler Schröder “Boss-Anzüge” trägt.

Zwei feministisch inspirierte Untersucher des neuen Job-Phänomens in Hongkong – Pun Ngai und Li Wanwei – schreiben in ihrem soeben im Kollektivverlag “Association A” erschienenen Buch “Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen – Dagongmei”: “Dieses neue Wort steht in deutlichem Gegensatz zu den Begriffen ‘gongren’ – Arbeiterinnen und Arbeiter, und ‘wuchan jieji’, Proletariat, die zu Zeiten Mao Tse Tungs benutzt wurden. Die ‘gongren’ waren privilegiert, die Propaganda nannte sie Herren des Landes.” Während die neuen “Jobber”, ob männlich oder weiblich, nicht einmal als Erwachsene gelten, sondern bloß Spielmaterial der “neuen Bosse” sind, auch in sexueller Hinsicht. Und alle tragen sie Jeans. Amijeans! To cut a long us-story short: Bis China sich zu einer dritten Kraft aufgeschwungen hat, sind die Chinesen längst solche Amiheloten wie Schröder, Fischer, Schneider, Köhler etc. geworden. Also vergesst die Chinesen! Nicht umsonst haben die Plutokratenmedien von FAZ bis NYT sofort ihre “besten” Leute nach dort in Marsch gesetzt: “Da geht es jetzt nämlich ab!” (taz) Und bestenfalls kommen dabei einige weitere hundert Millionen Überamis bei raus.

2.

In dem Roman “Homo faber” läßt Max Frisch seinen Protagonisten, den Maschinenbauingenieur Walter Faber, an der Wahrscheinlichkeit scheitern, weil sie das Unwahrscheinliche nicht in Rechnung stellt. Umgekehrt scheitern alle Leute, die sich nicht mehr auf die Straße trauen, weil sie ständig von den unwahrscheinlichsten Verbrechen hören, die da draußen passieren. Sie rechnen diese derart hoch, dass ihre Chance, ungeschoren davon zu kommen, täglich sinkt. Der Homo faber (der schaffende Mensch) lehnt sich entspannt im Flugzeug zurück: Die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes ist bei 40.000 Flügen täglich und höchstens einem Absturz in der Woche gering. Anders die Menschen mit Flugangst, die von grauenhaften Abstürzen nur allzu genau wissen. Zwischen der Statistik/der Welt und der Lebenserfahrung klafft ein Abgrund. Der bayrische Filmemacher Herbert Achternbusch meinte: “Da wo früher Pasing und Weilheim waren – ist nun Welt. Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen.”

Die Welt läßt nur eine Gesellschaft zu, in der der Warenverkehr den “nexus rerum” bildet – ein rein abstrakter Zusammenhang. So wie Margret Thatcher die Welt sah: “Ich kenne keine Gesellschaft, nur Individuen”. Je atomisierter die Individuen, desto geringer zählt die Singularität. Eine Welt als Ansammlung des Homo statisticus. Dieser tritt nicht wirklich in Erscheinung, aber man kann mit ihm rechnen, manchmal muß man angeblich sogar mit ihm rechnen. Die Medien überschütten uns geradezu mit Zahlen über ihn. Wenn gerade keine vorliegen, tut es auch ein “zunehmend” oder “immer mehr”, um einem Phänomen das nötige Gewicht, also Wichtigkeit, zu geben. Wenn ich z.B. am Müggelsee jemanden sehe, der sich ein Hakenkreuz auf den Arsch tätowiert hat, dann interessiert das kein Schwein, aber wenn ich in einer Zeitung behaupte, immer mehr Ostberliner lassen sich Hakenkreuze auf ihre Ärsche tätowieren, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die internationale Presse an den FKK-Stränden dort aufkreuzt. Am schlimmsten treiben es diesbezüglich aber nicht die Journalisten, sondern die Mediziner, wenn sie z.B. nach einer pränatalen Untersuchung der Mutter zu Bedenken geben: “Die Chance, dass Ihr Kind später depressiv wird, ist Fifty-Fifty!” Damit wird der “Weltschmerz” geradezu injiziert. Kommt noch hinzu, dass dieses (gentechnische) Denken als Neodarwinismus nicht nur “zunehmend” zur Leitwissenschaft, sondern “immer mehr” auch herrschende Ideologie wird. “Über die Statistik hat die Wahrscheinlichkeitsrechnung inzwischen Eingang in alle quantitativ operierenden Wissenschaften gefunden,” heißt es in einem Lehrbuch. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung verdanken wir der Glücksspiel-Leidenschaft der Griechen und Römer, die zur Entwicklung von Rechenmodellen führte, die man dann auch für das Versicherungs- und Regierungsgeschäft, die Physik, die Hygiene, die Gentechnik und die Finanzwissenschaft fruchtbar machte.

Neuerdings wird versucht, aus der Atomisierungs-Not eine politische Tugend zu machen, indem die Individuen als Endverbraucher auf dem globalen Markt zur kollektiven Tat zurückfinden. Man spricht hierbei auch von einer “Politik im Supermarkt”. Wenn der kritische Konsument z.B. Coca Cola boykottiert und stattdessen massenhaft Pepsi Cola kauft. Ab einer bestimmten Kaufkraft zeigt dies Wirkung. Selbst eine neue Gewerkschaft von mexikanischen Erntehelfern in Florida wandte sich, um ihre Forderung “Ein Cent mehr für jeden Eimer Tomaten!” durchzusetzen nicht mehr gegen bzw. an das ausbeuterische Agrarunternehmen, sondern an den kritischen Konsumenten, konkret: an die Kunden der Fastfoodkette “Taco Bell”. Und deren Boykott hatte schließlich Erfolg. Diese Art von statistisch signifikantem Konsumententerror war erstmals 1995 beim “weltweiten” Boykott von Shell-Tankstellen spürbar (?) geworden – als Protest gegen die Absicht des Ölkonzerns, seinen ausrangierten Öltank “Brent Spar” in der Nordsee zu versenken.

Der Soziologe Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen medial sich inszenierenden Konsumentenmacht: “Warum der einzelne Konsument ein bestimmtes Produkt nicht kauft, ist nicht so wichtig. Was zählt, sind gerade massenhafte Mit-Nichtkäufer.” Was zählt ist also ihre Anzahl – mit der zumindestens der boykottierte Konzern rechnen muß. So wie er sich umgekehrt auch die positiven Verkaufszahlen aufs Geschäftsquartal hochrechnet.

In einem demnächst erscheinenden Buch über individuell hergestellte Produkte – als “Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion” – wird dieses aus den USA kommende Phänomen von den Autoren als eine neue “Bewegung” beschrieben, als ein Trend, der (deswegen?) todsicher demnächst auch über uns kommen wird, indem “immer mehr” Frauen, aber auch Männer, “Handmade”-Gegenstände über Ebay und andere Internet-Märkte verkaufen. Die Ironie oder Tragik besteht darin, dass es sich hierbei um eine Rückwendung zum Individuellen handelt, die in dem Bericht der zwei “Trendforscher” als eine Massenbewegung dargestellt wird, deren Bedeutung nicht aus der Tätigkeit selbst erwächst, sondern aus ihrer zunehmenden Häufigkeit (clicks).

Eine Erwerbsidee wird hier wie eine Mutation behandelt. Auch diese ist nur von Bedeutung – insofern sie sich durchsetzt: statistisch relevant in der Population wird, in der Art. “Unterhalb der Schafsart kann man nur noch die Schafe zählen,” meinte Foucault. Der Wissenschafts- , Biologie-, -Gentechnik-Historiker Hans-Jörg Rheinberger hat zu diesem Statistikstreich neulich eine erhellende Anekdote beigetragen: Über zehn Jahre arbeitete er in einem Genlabor, in dem mit Bakterien gearbeitet wurde. In dieser ganzen Zeit hat er sich die Lebewesen nicht ein einziges Mal etwas genauer durch das Mikroskop angesehen. Der Witz daran ist, dass ein derartiger Blick ihm wahrscheinlich weniger etwas erhellt hätte als dieses Eingeständnis nach so vielen Jahren.

3.

“Eine Transen-Formation zieht an uns vorbei.” (Der RBB über die Loveparade 2008 in Dortmund)

Im Osten ist man geschichtsbewußter als im Westen: Dort hat man nicht nur die fortschrittlichen Aspekte im Preußentum immer hochgehalten, eine bessere Philologie entwickelt und sogar ganze Stadtteile, wie den Prenzlauer Berg, mit Traditionskabinetten ausgestattet. Was hier zwecks Verehrung verdienter Kämpfer der Arbeiterklasse im Wohnbezirk ausgestellt wurde, diente in den Betrieben, Bildungseinrichtungen und Behörden dem Ruhm all jener Mitarbeiter, die sich  im proletarischen Kampf  gegen das internationale Kapital und seine Schergen (vulgo: Büttel)  mehr oder weniger heldenhaft geopfert hatten.

Im Glühlampenwerk Narva waren das z.B. die Konterfeis einiger Genossen aus der Osram-Betriebsgruppe. Sie arbeiteten in der “Drahtzieherei” und waren Anfang der Dreißigerjahre in die Sowjetunion geflüchtet – unter Mitnahme von Patenten und Materialien, die der Moskauer Betrieb “Elektrosawod” dringend benötigte. Die Errichtung dieses Werks ging auf Verträge zwischen der Sowjetunion und Rathenau zurück,  es war quasi ein “Milchbruder der Berliner AEG-Werke”, wie russische Historiker das nannten. Bevor die Produktion dort aber so richtig anlaufen konnte, verhängte das internationale Elektrokartell, in dem Siemens und Osram führend waren, ein Wolfram-Embargo gegen die Sowjetunion. 1963 verfolgte die deutsch-amerikanische Politik diese Strategie noch einmal mit einem “Röhrenembargo”, um den Bau der Gaspipeline von Sibirien in die DDR zu verhindern. Die FAZ schrieb: “An der Leitung kleben das Blut, der Schweiß und die Tränen von Heeren sowjetischer Arbeitssklaven,” deswegen kein menschenmörderisches Sowjetgas – niemals!

Auf das Wolfram-Embargo der jungen Sowjetrepublik, die gerade mit der Formel “Elektrifizierung + Sowjets = Kommunismus” angetreten war, antwortete die Komintern-Zentrale mit einem partisanischen Akt: Sie mobilisierte die KP-Genossen in der Berliner Elektroindustrie. In den Dreißigerjahren  herrschte ein reges Kommen und Gehen zwischen den kapitalistischen Ländern und der Sowjetunion. Das sich damals stürmisch industrialisierende Land war zum Haupteinwanderungsland geworden, auch für viele Amerikaner – ohne Arbeit. In Deutschland kam bald die Verfolgung durch die Nazis dazu. Die Berliner Drahtzieher aus den Osram-Werken gelangten auf diese Weise über den Umweg Moskau schließlich in das Traditionskabinett von Narva. Der kommunistische Andachtsraum mit den vergilbten Märtyrer-Photos hinter Glas diente der Mythifizierung des “Antifaschismus” von Staats wegen, meinte rückblickend ein Referent im Ostberliner Kulturverein “Helle Panke”. Die Einrichtungen dieser Kabinette waren jedenfalls das erste, was nach der Wende auf den Müll geworfen wurde, als nächstes folgten die Büromöbel der Parteisekretäre. Im Batteriewerk BAE in Oberschöneweide machte man aus dessen Büro sofort ein vornehm gekacheltes “Investorenscheißhaus” – mit Palmen neben den Waschbecken. Auf die Wende folgte die “Transformationszeit”. Die “Man-in-Sportswear”-Banden vermehrten sich schneller als das Bruttosozialprodukt. Die den Wilden Osten überlebten, gehen heute längst in grauen oder blauen Anzügen. Und seit einiger Zeit richten sie in ihren Betrieben und Behörden  sowie auch auf Friedhöfen “Transformationskabinette” ein: für all die Märtyrer, die als Personenschützer, Leibwächter, Kuriere oder Beauftragte auf der Strecke blieben. 1200 starben allein in den drei sibirischen “Aluminiumkriegen” – bis der weltgrößte Alukonzern stand.

Und wieder hängen da nun Porträts an den Wänden, zusammen mit den Insignien der “Transformation”: Autoschlüssel, Handy, Adidasschuhe, Mauser. Auch diese ursprüngliche Akkumulation war kein Honigschlecken. Die Transformationsgewinnler schicken ihre Kinder deswegen heute  auf teure Eliteschulen, sie sollen es mal besser haben – und sich nie die Hände schmutzig machen müssen – sondern gleich mit Kopfarbeit anfangen. Eigentlich sind die Transformationskabinette für sie da, damit sie nicht vergessen, wo sie herkommen – und wem sie das alles zu verdanken haben. Hier geht es um die Mythifizierung des “Antikommunismus” deswegen trägt auch der Staat in vielen Ostblockländern gerne zur Pflege dieser Transformationskabinette sein Scherflein bei.

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