vonHelmut Höge 07.03.2012

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Mehringhof (1)

Im Babylon Mitte fand am 17.2., am Tag der lybischen Befreiungsfeier, eine ungewöhnliche  Veranstaltung statt: Gezeigt wurde ein Film der Fernsehjournalistin Nicole Nagel: “Win or Die: Voices Of The Libyan Revolution”. Die Regisseurin war auf eigene Rechnung während der Kämpfe gegen das Gaddafi-Regime nach Benghasi geflogen, hatte dort etliche Rebellen interviewt und war dann mit ihnen gen Tripoli gezogen, wobei sie mitunter der Front sehr nahe gekommen war. In der Diskussion nach dem Film bezeichnete sie sich als Adrenalin-Junkie. Der Kinosaal war fast zur Hälfte mit Exil-Libyern gefüllt, von denen nicht wenige in den Kämpfen verwundet worden waren. Sie kamen in Rollstühlen und auf Krücken. Ob des erfolgten Sieges der Rebellen waren sie jedoch ausgesprochen guter Laune, zumal der Film von Nicole Nagel die Siegesstimmung bereits zeigte. Eins ums andere Mal wiederholte das libysche Publikum im Kinosaal die im Film geäußerten Parolen und Forderungen, was aus der Filmvorführung ein kleines Fest machte, das anschließend in der Volksbühne seine Fortsetzung fand. All das war ebenso wie der Film sehr unkritisch euphorisch. Auch auf die Frage “Wie geht es nach dem Sieg der Rebellen nun weiter?” wurden in der anschließenden Diskussion eigentlich nur  Wünsche geäußert.

Glaubt  man dem in Berlin als Arzt tätigen Lybier Muhamed Ben Dala, der am Aufstand gegen das Gaddafi-Regime teilnahm und von der “Jungle World” interviewt wurde, dann hält die Euphorie ob des Sieges noch an: “Die Leute protestieren jetzt gegen alle möglichen Dinge. Sie demonstrieren gegen Korruption, für Frauenrechte, gegen die unkontrolliert im Umlauf befindlichen Waffen, gegen den Nationalen Libyschen Übergangsrat. Sie wollen, dass ihre Stimmen gehört werden. Das ist etwas völlig Neues. Oft gibt es auch Beschwerden, weil die Löhne nicht gezahlt werden. Die Leute fragen sich, warum es kein Geld gibt, obwohl ja weiter Öl exportiert wird. Es gab aber sogar schon Proteste, weil das Internet zu langsam war. Die Jungen wollten, dass Facebook wieder schneller läuft. Darüber haben sich andere lustig gemacht und dagegen protestiert, dass so viel protestiert wird. Es bilden sich überall neue Initiativen für alles Mögliche: für Arme, für Bäume oder für Tiere. Wir haben früher nie etwas für unser Land getan. Man hatte das Gefühl, dass es uns gestohlen worden war und man als eine Art Exilant im eigenen Land lebte. Dieses Gefühl ist weg. Die Leute engagieren sich und die Zivilgesellschaft wächst schnell – ohne den Staat.”

Ähnliches erfuhr man auch auf der nächsten Veranstaltung – am 24. 2. im Mehringhof, wo drei junge Ägypter und eine Deutsche, die sich in Kairo am Aufstand beteiligt hatten, über die derzeitige Situation im Land Auskunft gaben. Die von der Kölner Projektgruppe “Horreya” (Freiheit auf arabisch) organisierte Diskussionsreihe, die am 28.2. in Bremen und am 1.3. in Köln fortgesetzt wird, hatte den Titel: “Die Revolution hat erst begonnen”. Die Veranstalter hofften, “damit das Feuer der Revolution auch ein bißchen in dieses Land zu tragen.” Begeistert genug waren die vier Redner, sie hatten die Besetzung des Tahrirplatzes mitgemacht, aber ihr Engagement hatte gleichzeitig verhindert, dass sie sich über die neuen Kräfteverhältnisse, wie sie dadurch nun in Ägypten entstanden waren, Klarheit verschaffen konnten. Zumal die Kluft zwischen ihrer individuellen Erfahrung und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nur mit einem Zuviel an Interpretation von zu wenig Fakten geleistet werden konnte, wie die über die Frauen-Perspektive referierende Henriette Heise meinte. Aus dem Publikum kamen dennoch immer wieder Fragen nach der Macht der Militärs, der Muslimbruderschaft, der Einmischung des Auslands und den Unterschieden  z.B. zu den Aufständen in Libyen und Syrien. Die Zusammensetzung des Podiums gestattete immerhin unterschiedliche Erzählperspektiven: Neben der deutschen Feministin war das Hammo Moghazy, der sagte, er käme aus der Unterschicht, während der Architekt Mostafa al Gamal aus der Mittelschicht komme und der “Streetart”-Künstler Ganzeer Fahmy aus der Oberschicht.

Als  die Demonstrationen begannen,  mündeten sie regelmässig auf dem Tahir-Platz, wo sie sich vereinigten. Das ging laut Hammo Moghazy wochenlang so. “Die Regierung ließ alle Gefängnisse öffnen und versuchte ein Chaos anzurichten, um die Massen dazu zu bringen, nach der Polizei zu rufen, aber das Gegenteil passierte. In jeder Strasse schlossen sich Leute zusammen um die Nachbarschaft mit Waffen selbst zu schützen.” Gruppen wurden gebildet und staatlich gelenkte Gegendemonstrationen abgewehrt. “Ab dem 25.Januar begannen wir die Freiheit zu schmecken und es war uns egal, was passieren würde, wir gingen einfach los, entwickelten neue Wege der Kommunikation, z.B. indem wir die Taxifahrer als Multiplikatoren zur Verbreitung von Neuigkeiten und Treffpunkten nutzten. Wo immer viele Leute waren, inszenierten wir Gespräche und Diskussionen. Auf Plätzen, vor Supermärkten und Moscheen. In meiner Gruppe waren wir zu fünft. Eine Frau war dabei, die aus ihrer Familie vertrieben worden war und auf der Strasse lebte. Wir haben dann erst draußen gebetet und danach haben wir sofort Parolen gerufen und sind losmarschiert. Es war uns egal was passierte wir sahen uns nicht um. Nach fünf Kilometern waren wir schon siebentausend Leute. Unsere Demonstrationen begannen meist in den armen Gegenden und wir trafen uns dann mit den Mittelschichtlern am Tahir-Platz. Ich traf also Mohammed dort, oder Mostafa  hat mich dort getroffen auf seinem Weg in die Randbezirke, als ich auf dem Weg in die Innenstadt war.”

Mostafa al Gamal ergänzte, dass Arbeiter bei Streiks mit Studenten zusammenarbeiten und sie am 1.Mai 2012 einen Generalstreik durchführen wollen. “Die nächste Welle der Revolution wird eine globale sein,” versicherte er, “und die sozialen Medien werden darin erneut eine wichtige Rolle spielen.” Während   Henriette Heise gestand, dass es ihr schwerfalle, sich einen “Aktivisten” hinterm Labtop vorzustellen, erklärte uns Ganzeer am Beispiel einiger seiner politischen Plakate und “Parolen”, wie ein “gutes Image” -als “online-offline-activity” – funktionieren kann: Auf das Kleben eines Plakats an einer Straßenecke folgt die Verhaftung, über die während er noch im Polizeiauto  sitzt, schon über Twitter und Facebook berichtet wird, zusammen mit dem Plakat, das dann auch im Fernsehen und auf Internet-blogs auftaucht, von wo es auf T-Shirts und Flugblätter gelangt – und so zurück auf die Straße. (Siehe dazu: http://rollingbulb.com/)

Auf die “Fehler” angesprochen, die im Verlauf des Aufstands gemacht wurden, meinte Mostafa al Gamal: “Wir haben vor dem Präsidentenpalast gezeltet, es war eine Art Crazy Party, aber nur 24 Stunden, dann sind wir nach Hause gegangen – das war ein Fehler. Henriette Heise gab jedoch zu bedenken: “Die Leute mußten arbeiten, um Geld zum Überleben zu verdienen, also mußten sie irgendwann nach Hause gehen. Das ließ sich nicht ändern.” Schlimmer war es, dass die Einigkeit auf dem Tahriplatz nach 18 Tagen wieder zerfiel – in unterschiedliche Fraktionen, z.B. hier Künstler und Intellektuelle und dort Religiöse. Aber zunächst hatte die Revolution die sozialen, geschlechtlichen und kulturellen Barrieren überwunden. Das war sehr befreiend. Als Frau fühlte Henriette Heise auf dem  Tahirplatz sofort eine “Stimmung des Respekts. Die war das neue Ägypten. Eine neue Erfahrung – an einem so öffentlichen Ort, als Frau, in einer Menge, inmitten von Männern.”

Hammo Moghazy versuchte uns die Situation vor und während des Aufstands mit einigen Tiervergleichen näher zu bringen: So verglich er das ägyptische Volk mit einem “riesigen Elefanten in Gefangenschaft”. Die Leute trauten sich nicht, über Politik zu reden. Und sprach vom “letzten Tanz der Küken: Viele kleine Hühner hüpfen auf einer heißen Herdplatte und von weitem sieht es aus, als ob sie vor Freude tanzen. Das waren wir.  Furcht und Unzufriedenheit beherrschten uns. Sein Leben für Nichts geben heißt: Überleben in der Diktatur. Da kann man auch ebensogut sein Leben für die Revolution geben.” Diese breitete sich schnell wie ein “Krake” – wie eine ansteckende Gesundheit – über die Stadt und das ganze Land aus.

Ähnlich breiten sich hierzulande nun auch solche Veranstaltungen wie die im Mehringhof aus: “Kunst und Revolte”  heißt z.B. das  Märzprogram der Akademie der Künste.Es besteht aus 13 Veranstaltungen zum Thema “Revolte und Umbruch in Nordafrika” das geht bis hin zu einer Einführung in die “Tunesische Dramatik”  und “Elektronischen Experimenten” (natürlich aus Kairo). Das spanische Kulturinstitut “Cervantes” zeigt, als Mitveranstalter, eine “arabische Frauenfilmreihe” – sie beginnt am Mittwoch, den 29.2. und endet am Samstag, den 3.3. mit dem Film: “Weder Allah noch  Meister” von Nadia El Fani aus Tunesien. (siehe taz v. 13.01.2012).

Mehringhof (2)

Mehringhof (3)

Mehringhof (4). Alle Photos: Katrin Eissing

 

Noch eine Veranstaltung:

Irrniss und Wirrniss – das war am Anfang der Zeit, folgt man Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Bibelübersetzung. Und nun stehen wir am Ende – von Avantgarde und Frontier: “Eigentlich ist es die Zeit ihrer Zeit, die vorüber ist: diese seltsame Idee einer gewaltigen Armee, die sich vorwärts bewegt und welcher die wagemutigsten Innovatoren und Denker vorangehen, gefolgt von langsameren und schwereren Menschenmassen, während die Nachhut der archaischsten, primitivsten, reaktionärsten Leute hinterherläuft…”, so sagt es Bruno Latour. Erste Anzeichen deuteten sich bereits mit der Vermutung  an, dass nur Minderheiten produktiv sind, was eine linke Politik zur Folge hatte, die sich ein “Patchwork der Minderheiten” vorstellte. Aus dem Forschritts-Denken wurde dabei ein möglichst umsichtiges Fortschreiten, das sowohl universalistisch – eine gemeinsame Welt ist möglich – als auch relativistisch ist: diese Welt wird aus Heterogenitäten bestehen. Keine Transzendenz (eines Systems), sondern Immanenz (des Verfugens und Verpfuschens).

Daraus folgt eine Verabschiedung der Kritik: Diese entlarvte den falschen Schein, um dahinter die wahre Realität zu erkennen. Der Hammer der Kritik funktioniert laut Latour aber “nur solange, bis die jenseitige Welt der Realität endgültig hinter dem langsam zerstörten Wall des Scheins enthüllt wurde”. Wenn dahinter nichts Reales (mehr) ist, geht es eher darum, dessen Trümmer zusammenzusetzen: Konstruktivismus statt Kritik – von Kompositionismus spricht die Latoursche “Akteur-Netzwerk-Theorie”. Diese wiederum wird von dem Medienwissenschaftler Claus Pias in eine Reihe mit dem Konstruktivismus eines Heinz von Foersters gestellt: Zwei Arten einer “postmodernen Wissenschaft”, die auf der Basis von (Computer-) Simulationen zu einem anderen Wahrheitsbegriff gelangt, wobei die “kritischen Optionen von gestern zu den Betriebsbedingungen von heute” werden, bzw., wenn man Pias folgt, in den zwei Theorieansätzen bereits geworden sind. Es geht darin nicht mehr um die Wahrheit oder um ein “allgemeines Set von Gesetzen oder Formeln, es ist vielmehr eine ‘anekdotische Komplikation’, die die spezifische Erkenntnisleistung der Simulation ausmacht”.

Der Begriff der “anekdotischen Komplikation” stammt von der Wissenschaftsforscherin Isabelle Stengers. Sie wird am 16. und 17.3. auf einer Konferenz darüber sprechen, die sich im Haus der Kulturen der Welt mit den obigen Theorieansätzen befaßt, welche an den “etablierten Grenzziehungen zwischen Dingen und Akteuren, Welt und Vorstellung” rütteln. Die Konferenz ist Teil einer Ausstellung über “Animismus” – dazu heißt es: “Der wissenschaftliche Positivismus der Moderne gründete auf einer kategorischen Trennung zwischen Natur und Kultur, zwischen subjektiver und objektiver Welt. Der Animismus wurde zum Gegenbild dieses Selbstverständnisses. Genau hier setzt die Ausstellung an”. Isabelle Stengers Vortrag hat den Titel:  “Reclaiming Animism”. Mit ihr diskutieren u.a. die Referenten Thomas Macho, Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität, Erhard Schüttpelz, Medienwissenschaftler an der Universität Siegen, Elisabeth Samsonow, Philosophin in München, und Michael Taussig, Anthropologe an der New Yorker Columbia-Universität. Begleitend zu diesem (englischen) “Event” erscheint ein Buch auf Deutsch: “Animismus – Revisionen der Moderne”.

Wir haben es hierbei mit einer Versammlung von Revisionisten zu tun. Sie revidieren – orientiert an der “Akteur-Netzwerk-Theorie” – die Dualismen: Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, Fakt und Fetisch – genauer gesagt: Sie versuchen das, was seit dem 17.Jahrhundert davon noch übrig geblieben ist, neu zu fassen (zu kriegen) und dabei kreisen sie um die Figur des “Animisten”, der diese Dualismen nie mitgemacht hat. In dem ebenfalls von der “Akteur-Netzwerk-Theorie” inspirierten Kompendium “Jenseits von Natur und Kultur” hat der Ethnologe Philippe Descola ihn bereits rehabilitiert, wenn man so sagen darf. Zum Einen geht Descola darin auf die abendländische Entwicklung der modernen Trennungsbegriffe Natur und Kultur ein  und zum anderen vergleicht er unser Weltbild mit denen von anderen Völkern rund um den Globus. Ausgangspunkt der dabei von ihm anvisierten “monistischen Anthropologie” ist seine –  dem Begründer der “strukturalen Anthropologie”, Claude Lévi-Strauss, nachfolgende – Feldforschung: “Am Unterlauf des Kapawi, eines Flusses im Amazonasbecken, habe ich angefangen, mich nach der Evidenz der Natur zu fragen.” Das Studium der Kosmologien anderer Völker – wie die der Eskimos, Inder, Japaner, Aborigines usw. – bestärkte ihn dann in der Vermutung, “dass die Art und Weise, wie das moderne Abendland die Natur darstellt, etwas ist, was in der Welt am Wenigsten geteilt wird.” Das könnte man ja noch verschmerzen, nicht aber die Ignoranz gegenüber allen nicht-abendländischen Weltbildern.

 

Nachruf auf Jakob Moneta von Helmut Dahmer:

Der am 3. März 2012 im Alter von 97 Jahren im Frankfurter Jüdischen Altersheim gestorbene Jakob Moneta war – wie Isaac Deutscher oder Günther Anders – ein »nichtjüdischer Jude«, ein bedeutender polyglotter Journalist und Gewerkschafter und einer der wenigen dezidierten Verfechter des Internationalismus und der Rätedemokratie. Er wurde am 11. November 1914 in der westgalizischen Kleinstadt Blasow als Sohn eines Textilfabrikanten geboren.

Nach dem ersten Weltkrieg siedelte seine Familie aus dem antisemitisch verhetzten Polen nach Köln über. Als Siebzehnjähriger schloss Jakob sich dort der Jugendorganisation der »Sozialistischen Arbeiterpartei« (SAP) an. Der bedeutende marxistische Literaturwissenschaftler Hans Mayer (Georg Büchner und seine Zeit, 1946) machte ihn in den Jahren vor 1933 mit den Schriften Trotzkis und der kommunistischen »Linken Opposition« bekannt.

Nach dem Sieg der Hitlerbewegung emigrierte seine Familie zuerst nach Kuba, dann in die USA, während Jakob nach Palästina ging und sechs Jahre in einem Kibbuz arbeitete. Der arabische Aufstand in den Jahren 1936-39 bewog ihn zum Bruch mit dem (linken) Zionismus.

Er war zuerst aktiv in der Histadrut-Gewerkschaft und gehörte dann zu den Gründern der einzigen überkonfessionellen jüdisch-arabischen Gewerkschaft. Die Engländer internierten ihn bei Kriegsausbruch für mehr als zwei Jahre in Akko.

1948 kehrte er nach Köln zurück, schloss sich der kleinen trotzkistischen Gruppe, die aus Remigranten, jungen Arbeitern und sozialistischen Studenten bestand, an und zog später nach Frankfurt. Als Journalist arbeitete er zunächst für die SPD-nahe Rheinische Zeitung.

1951-1962 war er dann Sozialattaché der westdeutschen Botschaft in Paris und unterstützte insgeheim tatkräftig die algerische Befreiungsbewegung (FLN). 1962-1978 leitete er die monatlich erscheinende gewerkschaftliche Metall-Zeitung, die unter seiner Ägide eine Auflage von 2.2 Millionen erreichte.

Als führendes Mitglied der »Gruppe Internationale Marxisten« (GIM), dann der »Vereinigten Sozialistischen Partei« (VSP) und schließlich (nach seinem Ausschluss aus der SPD im Jahre 1990) der – aus der SED hervorgegangenen – PDS engagierte sich Moneta in allen antiimperialistischen Kampagnen der Linken, arbeitete in der Ostermarsch- wie in der Anti-Atom-Bewegung mit, organisierte Streiks und übersetzte nebenher sozialwissenschaftliche und historische Bücher. Oft unter Pseudonym schrieb er zahllose Artikel für die sozialistische Presse.

Seine bedeutendsten Veröffentlichungen sind eine umfangreiche kritische Darstellung der Kolonialpolitik der französischen KP (1968) und eine prägnante Darstellung von Aufstieg und Niedergang des Stalinismus (1971). Als Motto über seinem Leben wäre ihm wohl Ciceros »dum spiro spero« (»solange ich atme, hoffe ich«) recht gewesen, das sich schon der junge Trotzki zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu eigen gemacht hatte.

Nachtragen möchte ich noch, dass Jakob Moneta ein wichtiger Mitarbeiter der ostdeutschen Betriebsräteinitiative war

Der folgende Text wurde dem Aufsatz der Sammlung Jakob Moneta: /Mehr Macht für die Ohnmächtigen/. Reden und Aufsätze (isp-Verlag, 1991) entnommen:

1.

Blazowa liegt zwischen Krakau und Lemberg; westlich des Flusses San, der die Polen von den Ukrainern trennt. In Ostgalizien heißen sie Ruthenen. Als ich vier Jahre alt wurde, am 11. November 1918, ist die Republik Polen gegründet worden. Josef Pilsudski ließ sich zum provisorischen Staatsoberhaupt ausrufen. Er war einmal Mitbegründer und Führer der polnischen Sozialistischen Partei gewesen. In Vilna gehörte er eine Zeitlang der gleichen illegalen Gruppe an wie Leo Jogiches, Kampfgenosse von Rosa Luxemburg, der wie sie von der deutschen Konterrevolution ermordet wurde. 1926 kam Marschall Pilsudski durch einen Staatsstreich zur Macht und errichtete ein autoritäres Regime. Die Wiedervereinigung von Galizien, das unter österreichischer Verwaltung, und von Kongreß-Polen, das unter russischer Verwaltung stand, und von Preußisch-Polen, die Befreiung ihres Landes unter Pilsudski, feierten die Polen in meiner Geburtsstadt Blazowa — und nicht nur dort — mit einem Judenpogrom.  

Dicht zusammengedrängt saßen Juden in einem Zimmer, Männer, Frauen und Kinder. Die Fenster hatten sie mit Matratzen verstellt, damit kein Licht nach außen drang. Bewaffnete drangen in den Raum, schleppten einzelne hinaus, verprügelten sie, tasteten sie roh nach Geld ab. Meine Mutter wurde hinausgezerrt. Mein Vater wollte ihr helfen. Er erhielt einen Kolbenschlag, der ihm das Trommelfell zerschlug. Ich sah, wie meine Mutter sich an den Türpfosten klammerte, hörte ihren Hilferuf: “Gewalt!”. Der Bewaffnete, der sie mit Füßen trat, war ein polnischer Schulkamerad von ihr.  

Der von polnischen Nationalisten genährte Judenhaß konnte sich nicht überall an Wehrlosen entladen. Dort, wo der “Bund”, die stärkste organisierte Kraft im jüdischen Proletariat seine bewaffneten Kampftruppen gebildet hatte, holten sich die Pogromisten meist blutige Köpfe. Gegenwehr leisteten nicht nur Juden, sondern auch klassenbewußte Arbeiter jeder Nationalität. Für sie war der Antisemitismus eine gefährliche Propagandawaffe des Klassenfeindes. Man mußte ihn bekämpfen. Mit /allen /Mitteln.  

Meinen Vater nannte man in Blazowa den “Deutschen”. Er war von Frankfurt am Main gekommen und hatte in dem kleinen galizischen Textilstädtchen seine Frau gefunden. Nach dem Pogrom erstattete er Anzeige gegen die Rädelsführer. Sie drohten ihm Rache an. Daraufhin kehrte er nach Deutschland zurück. So kam ich 1919 nach Köln. Mit fünf Jahren wurde ich eingeschult. Schon mit drei Jahren hatte man mir im “Cheder”, einer Art Religionsschule, das hebräische Alphabet beigebracht. In Köln ging ich vormittags zur Schule und nachmittags ins “Cheder”, wo die Bibel in hebräisch und später der Talmud in aramäisch gelehrt wurde. Die Lehrer waren meist verkrachte Händler. Einer hatte stets eine lange Hundepeitsche, mit der er jeden erwischte, der unbotmäßig war oder falsche Antworten gab.  

Wenn wir aus dem Cheder herauskamen, stand uns dann meist der eigentliche Kampf bevor. Draußen wurden wir bereits von einer jungen Bande erwartet, die sich mit HEP-HEP-Geschrei auf die Judenjungen stürzte. Wir mußten lernen, entweder schneller zu laufen als sie oder aber uns zu wehren. Aus dem Milieu der Cheder-Schüler gingen eine Reihe bekannter Amateurboxer hervor. Die Selbstverteidigung hatte zu ihrer sportlichen Ausbildung beigetragen.  

HEP ist eine Abkürzung für “Hierosilima est perdita” – Jerusalem ist verloren. Ich begann von diesem verlorenen Jerusalem zu träumen. Eine jüdische Legende sagt, daß immer um Mitternacht ein Schakal über den verwüsteten Platz in Jerusalem läuft, auf dem die Römer im Jahre 70 nach Christi Geburt den Tempel zerstörten. Wenn es gelingt, diesen Schakal zu fangen, dann ersteht das alte jüdische Reich in seiner ganzen Herrlichkeit wieder auf. Was lag näher als daß ich, fast 1900 Jahre nach der Tempelzerstörung, diesen Schakal fangen würde. Die praktische Vorbereitung begann ich mit meinem Eintritt in eine zionistische Jugendgruppe.  

Aber noch lebten auch die Zionisten nicht in Palästina. Die deutsche Arbeiterbewegung, damals die mächtigste der kapitalistischen Welt, zog auch die zionistische jüdische Jugend in ihren Bann.  

Neun Millionen Stimmen hatte die fast eine Million Mitglieder starke SPD in den Reichstagswahlen 1924 erhalten und zog mit 152 Abgeordneten ins Parlament ein. Die KPD eroberte 54 Sitze, die NSDAP — die Nazis — nur 12. In Preußen hatten die Sozialdemokraten mit 229 von 450 Sitzen die absolute Mehrheit errungen. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) hatte 4,7 Millionen Mitglieder, der Arbeiter-Turn- und Sportbund 770 000, der Arbeiter-Radfahrbund “Solidarität” 220 000. Es gab einen Arbeiter-Athletenbund, einen Schachbund, Samariterbund und sogar einen Schützenbund. Die Arbeiterbewegung schuf eine Gegengesellschaft im kapitalistischen Staat.  

Als der Sozialdemokrat Hermann Müller die neue Reichsregierung bildete, erklärte sein Innenminister Karl Severing, die neue Regierung habe die Absicht, vier Jahre Ferien zu machen. Ferien von Regierungskrisen, Programmentwürfen und Richtlinienberatung. In den Ferien würde man vier Jahre praktische Arbeit zum Aufbau der Republik leisten.  

Der Abglanz von all dem fiel auch auf uns, die lernende, die lesende, die arbeitende jüdische Jugend. Wir wurden meist Sozialisten. Nicht immer durch Karl Marx, obwohl uns die wuchtige Sprache des Kommunistischen Manifestes mitriß. Leonhard Franks /Der Mensch ist gut /weckte unseren Haß gegen den Krieg. Hitler ließ ihn dieses Buches wegen ausbürgern. Upton Sinclairs /Der Sumpf /schärfte unser soziales Gewissen. Sein /Boston, /wo er den Justizmord an Sacco und Vanzetti schildert, und Henri Barbusses /Tatsachen /wühlten uns auf gegen die Klassenjustiz.  

Im Jahre 1929 setzte die hereinbrechende Wirtschaftskrise der “praktischen Arbeit zum Aufbau der Republik” durch die Sozialdemokraten ein rasches Ende. Die Zahl der Erwerbslosen erreichte zwei Millionen, ein Jahr später drei Millionen. Bis 1933 sollte sie auf sechs Millionen steigen. Dazu kamen Millionen Kurzarbeiter. Die Landwirte erzielten für ihre Produkte in der Krise geringere Preise. Das Handwerk und die freien Berufe gerieten in den Strudel der Krise. Bestechungsskandale erschütterten zudem die politische Glaubwürdigkeit der SPD. In den Reichstagswahlen vom September 1930 verloren die Sozialdemokraten dennoch nur eine halbe Million Stimmen; die Stimmenzahl der KPD stieg sogar von 3 ¼ auf 4 ½ Millionen. Entscheidend aber war, daß die Nazis von 800 000 auf 6,5 Millionen anstiegen und 107 Mandate eroberten. Von vier Millionen Neuwählern waren drei Millionen zu Hitler gegangen, 2 ½ Millionen hatte er von anderen Rechtsparteien gewonnen.  

Die wachsende politische Unruhe in der SPD wurde mit Disziplinierungsmaßnahmen und Ausschlüssen beantwortet. Im Oktober 1931 gründeten die ausgeschlossenen Reichstags-Abgeordneten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Ihre Jugendorganisation, der “Sozialistische Jugendverband” (SJV), zog einen großen Teil der sozialdemokratischen Jugend herüber. Ich trat zusammen mit anderen Mitgliedern der zionistisch-sozialistischen Jugend in den SJV ein und setzte so meinen Fuß auf die Straße, die mich zum Internationalismus führte.  

Zum ersten Mal kam ich in Verbindung mit jungen, idealistischen, kampfentschlossenen, revolutionären deutschen Jugendlichen. Dies genau in dem Augenblick, wo der Sieg der Nazis die deutsche Bourgeoisie vor dem Sozialismus retten sollte.  

Auf den Straßen Kölns kam es fast täglich zu blutigen Zusammenstößen. Von Motorrädern aus schossen Nazis in eine Gruppe diskutierender Arbeiter. Saalschlachten wurden ausgetragen. In der Elsässerstraße, einer roten Hochburg von Köln, warfen Frauen ihre Mistkübel aus den Fenstern auf Nazidemonstranten. Auf dem Weg vom Gymnasium nach Hause geriet ich stets in diskutierende Gruppen von Arbeitern. Ich erinnere mich an die feurige Rede eines neugebackenen Nazi, der seine Zuhörer davon überzeugen wollte, daß Kriege nötig sind, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.  

Die Antwort, einfach und klar, erhielt er in reinstem Kölsch: “Dann häng dich doch op. Dann is doch als /ein /winniger do.” (Dann häng dich doch auf, dann ist doch bereits /einer /weniger da.)  

Am 20. Juli 1932 setzte die Reichsregierung von Papen per Notverordnung die sozialdemokratische preußische Regierung ab. Sie begründete das mit der Notwendigkeit, selbst für Ruhe, Ordnung und Sicherheit sorgen zu müssen, weil die Sozialdemokraten die von kommunistischer Seite hervorgerufenen Unruhen in Preußen nicht im notwendigen Umfange bekämpften.  

Dieser kalte Staatsstreich der Reichsregierung brach der Republik das Rückgrat. Er verlief “programmäßig und ohne Zwischenfälle”. So von Papen in: /Der Wahrheit eine Gasse /(München 1952, S.218). Um 10 Uhr morgens, am 20. Juli 1932, hatte der sozialdemokratische preußische Innenminister Karl Severing noch erklärt, er werde “nur der Gewalt weichen”. Um 20 Uhr abends erschien die Gewalt in Gestalt eines Polizeipräsidenten nebst zwei Polizeioffizieren, und er wich. Später sagte er, er habe Blutvergießen vermeiden wollen.  

Hätte er es doch damals nicht vermieden! Dann wären uns Millionen in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, Gefolterte, Erschlagene, Vergaste, im Zweiten Weltkrieg Gefallene vielleicht doch noch erspart geblieben. Evelyn Anderson jedenfalls schreibt über die ruhmlose Kapitulation der stärksten Festung der Sozialdemokratie: “In allen deutschen Städten standen Formationen des Reichsbanners und der Eisernen Front bereit, putzten ihre Gewehre und warteten auf den Befehl zur Tat” /(Hammer oder Amboß, /Nürnberg 1948, S.206). Henning Duderstadt sagt noch bestimmter: “Wir fieberten, wir warteten auf das Signal zum Kampf! Generalstreik! Jeder bewaffnet sich, wo er kann. Sieg oder Tod!” /(Vom Reichsbanner zum Hakenkreuz. Wie es kommen mußte. Ein Bekenntnis, /Stuttgart 1933, S. 31 f.).  

Der “Befehl zur Tat”, das “Signal zum Kampf”, sie blieben aus.  

Die Stationen der schrittweisen Kapitulation vor den Nazis bis zur tiefsten Erniedrigung in den Schreiben des Führers des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Theodor Leipart, vom 21. und 29. März 1933 an den Führer des Deutschen Reiches Adolf Hitler waren schändlich. Im Namen des Bundesvorstandes erklärte Leipart, der ADGB müsse seine sozialen Aufgaben erfüllen, “gleichviel welcher Art das Staatsregime ist”. Im Reichstag stimmten am 17. Mai 1933 die sozialdemokratischen Abgeordneten Hitlers “Friedensresolution” zu, weil — wie sie sagten — dies eine Bejahung einer friedlichen deutschen Außenpolitik und nicht ein Vertrauensvotum für Hitler sei. In Wirklichkeit hofften sie, durch ihren offenen Verrat an der sozialistischen Idee, ihre Organisation zu retten und gnädigst in die “deutsche Volksgemeinschaft” aufgenommen zu werden. All das grub sich tief in die Herzen und Köpfe derer ein, die mit Gefängnis, Zuchthaus, Konzentrationslager oder Emigration bezahlen mußten, daß ihre Führer der Gewalt der Mächtigen kampflos gewichen waren.  

Erst als ich den Fackelzug der bewaffneten SA durch die kommunistische Hochburg Kölns, die Thieboldsgasse, marschieren sah, vorbei an den haßerfüllten, stummen, durch ihre Führung wehrlos gemachten Proletariern und ihren vor ohnmächtiger Wut weinenden Frauen, wußte ich: es ist vorbei. Wir wurden geschlagen, ohne auch nur einen Versuch zur Gegenwehr. Wir wurden ausgeliefert.  

Allen, die hinterher den “Massen” die Schuld für ihr eigenes Versagen aufbürden wollten, muß man in Erinnerung rufen: In den letzten einigermaßen freien Betriebsratswahlen, die von den Nazis im April 1933 durchgeführt wurden, weil die Nazis selbst daran glaubten, sie hätten in den Betrieben an Boden gewonnen, erhielten die Freien Gewerkschaften 73,4 Prozent der Mandate und die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) 11,7 Prozent. Die Basis zum Widerstand war da. Aber die Führung war desertiert.  

2.  

Sieben Monate nach meinem Abitur, am 2. November 1933, kam ich in Palästina im Hafen von Haifa an. Es war der Jahrestag der 1917 vom britischen Außenminister Balfour abgegebenen Erklärung, die den Juden im arabischen Palästina eine “nationale Heimstätte” zusicherte. Die Araber streikten an diesem Tag. Sie protestierten gegen die Balfour-Deklaration. Wir wurden nach Jaffa verfrachtet, wo ich mit einem halben englischen Pfund in der Tasche landete. Mein Ziel war ein Kibbuz.  

Würde man mich fragen, woher meine unverrückbare Zuversicht stammt, daß Menschen Habsucht, Jagd nach Geld, Konkurrenzneid, Selbstsucht, Unterwürfigkeit — jene ihnen zum großen Teil vom Kapitalismus mühsam anerzogenen “menschlichen” Eigenschaften — ablegen können; würde man mich fragen, wo die tiefste Wurzel meines Glaubens daran liegt, daß Menschen ohne jeden äußeren Zwang als Gleiche und Freie im Kollektiv ihr Leben selbst gestalten können, ich würde antworten: Das hat mir meine Erfahrung in der Praxis des damaligen Kibbuz bewiesen.  

Isaac Deutscher schreibt in seinen /Essais sur je problème juif /(Payot 1969, S.126 f.), ihm sei in einem Kibbuz, “dessen Mitglieder allen Grund haben, stolz zu sein auf ihre (gesellschaftliche) Moral und die sich dessen sehr wohl bewußt sind”, folgendes passiert: Der diplomatische Vertreter der Sowjetunion besuchte mit seinem Stab Kibbuzim, um sie mit den Kolchosen vergleichen zu können. Nachdem er die moderne Molkerei, die Schule, die Bibliothek und vieles andere gesehen hatte, erkundigte er sich nach dem Gefängnis. “Das gibt es hier nicht”, erhielt er zur Antwort. “Das ist unmöglich”, stieß der Diplomat hervor. “Was zum Teufel fangt Ihr mit Euren Verbrechern oder Missetätern an?” Man bemühte sich vergeblich, ihm zu erklären, daß es noch kein so schweres Verbrechen gegeben habe, das eine Gefängnisstrafe gerechtfertigt hätte. Schließlich wähle man die Mitglieder des Kibbuz sorgfältig aus. Es seien Menschen mit einer hohen sozialistischen Moral. Man könne Mitglieder, deren Verhalten nicht gebilligt wird, auch ausschließen. Dem sowjetischen Diplomaten wollte es jedoch nicht in den Kopf hinein, daß eine Gemeinschaft von Hunderten Menschen ohne Gefangene auskommen kann. Er glaubte, man wolle ihm “potemkinsche Dörfer” vorführen.  

Aber welcher Anhänger unserer “sozialen Marktwirtschaft” würde glauben, daß der “Leistungswillen” in den Kibbuzim, in denen heute mehr als 100 000 Menschen leben, durch die egalitäre Befriedigung der Lebensbedürfnisse, ohne jegliche Geldentlohnung für die Arbeit, nicht beeinträchtigt wird? Wer von ihnen würde glauben, daß ein Genosse aus dem Kibbuz Parlamentsabgeordneter oder Diplomat sein kann und zu Hause als Traktorist oder Helfer in der Küche arbeitet, wenn er hierzu eingeteilt wird? Wer von ihnen würde begreifen, daß eine selbstverwaltete Gesellschaft ohne Vorgesetzte, ohne Polizei, mit frei gewählten, jederzeit absetzbaren Ausschüssen unter schwierigsten Bedingungen eine gewaltige Aufbauleistung vollbringen kann, wie die Kibbuzniks es taten?  

Wer würde glauben, daß die /Gemeinschaftserziehung /der Kinder — sie sind nur wenige Stunden am Tag mit den Eltern zusammen — dazu führt, daß “die Kinder Kameraden sind, nicht Konkurrenten”, daß “die Hilfsbereitschaft bei diesen Kindern viel stärker ausgeprägt ist als das Streben nach Herrschaft. Da keine Eltern da sind, um deren Gunst man (im Kinderhaus) buhlen könnte, und da das Wetteifern allgemein nicht geschätzt wird, verhalten sich die Kinder wie Geschwister; die Starken üben einen gewissen Einfluß aus, aber sie wenden ihn auch im Interesse der Gruppe an” (Bruno Bettelheim, /Die Kinder der Zukunft, /dtv 888, S.90).  

Ich habe die Geburtswehen, die gesellschaftlichen Experimente, die großartigen Versuche zur Herstellung neuartiger Beziehungen zwischen Mann und Frau, zur Eingliederung von Alten und körperlich Behinderten, das Leben in Zelten, durch die nachts Schakale liefen, wie die Legende es vom Tempelplatz erzählte, das Leben in Baracken, Malariaanfälle, die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Orangenplantagen, in denen wir Lohnarbeiter waren, ehe der Kibbuz Siedlungsland erhielt, fünfeinhalb Jahre lang nicht etwa nur “ertragen”. Mir war bewußt, an einem großen Abenteuer mitzuwirken, das einmal zur Schaffung des sozialistischen Menschen führen wird.  

Viele Jahre später ging ich mit der siebenjährigen Nurith aus dem Kibbuz Dalia durch die Altstadt von Jerusalem. Sie sah zum ersten Mal Bettler. Ich versuchte zu erklären, was das ist, gab ihr ein paar Münzen, damit sie eine gute Tat vollbringen konnte. Sie legte in die erste, in die zweite, in die dritte Hand, die sich ihr entgegenstreckte, eine Münze, dann trat sie entschlossen auf einen Bettler zu, gab ihm das ganze Geld und sagte: “Da, nimm das und teil es mit deinen Genossen!” In diesem Augenblick wußte ich, daß die gesellschaftliche Erziehung des neuen Menschen in Kibuzzim, in Kommunen, den neuen Menschen hervorbringen wird.  

Ich trat aus dem Kibbuz nicht aus. Ich wurde ausgeschlossen. 1936 war ein arabischer Aufstand ausgebrochen. Wir zogen Stacheldraht um den Teil, der als Wohnfläche diente, schafften einen Scheinwerfer an, der nachts über das Lager kreiste, bauten aus Holz und Steinen Schanzen mit Schießscharten. Noch kurze Zeit zuvor hatte der als Nachtwächter eingeteilte Genosse zu unser aller Schutz nur einen Knüppel erhalten. Das war die einzige Waffe, die wir hatten. Sie war der Grundstock zu der heute so mächtigen israelischen Armee. Jetzt wurden illegale, geheime Waffenarsenale unter den Zeltstangen gut versteckt eingebaut. Sie waren leicht erreichbar. Die “Hagana” — die zionistische “Selbstschutzorganisation” — begann uns auszubilden: Revolver, Handgranaten, Gewehre, Maschinenpistolen. Aber wer war der Feind?  

Das Dorf Karkur, wo unser Kibbuz damals war, lag an der Grenze des jüdischen Siedlungsgebietes. Als ich 1933 nach Palästina kam, lebten 175 000 Juden unter 1,5 Millionen Arabern. Der “Haschomer Hazair”, die linkssozialistische, stark stalinistisch beeinflußte Kibbuzbewegung, wollte, daß sich die arabischen zusammen mit den jüdischen Arbeitern in einer gemeinsamen Klassenorganisation, der “Histadruth” (Gewerkschaft) zusammenschließen. Der “Haschomer Hazair”, dem auch mein Kibbuz angehörte, erwartete, daß eines Tages ein “binationaler” arabisch-jüdischer Staat in Palästina entstehen wird. Beides wurde von der sozialdemokratischen Mehrheit in der Histadruth, der Mapai, abgelehnt.  

Wenn man in einem solch armen Land wie in Palästina einen jüdischen Staat mit einer jüdischen Arbeiterklasse und nicht nur eine weiße Siedlerherrenschicht wie in Südafrika schaffen wollte, konnte dies nur auf Kosten der arabischen Bevölkerung gehen. Darum wurde propagiert: “Kauft die Produkte des Landes.” Das waren die jüdischen Produkte, die teurer waren als die arabischen. “Erobert die Arbeit” sagte man uns, also: ersetzt die billige, unorganisierte arabische Arbeit durch teure, organisierte jüdische (wobei man gleichzeitig die Histadruth, die Gewerkschaftsorganisation, für die Araber versperrte!). “Erobert den Boden” hieß die dritte Losung. Man kaufte von den reichen arabischen Effendis, den Großgrundbesitzern, den Boden mit Hilfe des jüdischen Nationalfonds, der ihn ausschließlich an jüdische Siedler verpachtete. Die armen arabischen Fellachen, die meist Pächter waren, wurden mit Geld abgefunden, mit dem sie wenig anfangen konnten.  

Die Haltung der Mapai war durchaus schlüssig. Man mußte bereits innerhalb des arabischen Palästina einen geschlossenen jüdischen Wirtschaftssektor schaffen und diesen immer mehr ausweiten, wenn man eines Tages einen jüdischen Staat haben wollte. Unterstützung hierfür kam von zwei Seiten: vom britischen Imperialismus, der trotz aller Schwankungen stets auf der Seite der Zionisten blieb, und von den amerikanischen Juden, die Geld spendeten.  

Daß dieser Plan aber überhaupt Erfolg haben konnte, verdanken die Araber Hitler. Er hatte die sich auflösenden, in voller Assimilation befindlichen deutschen Juden zunächst ins Ghetto und später in die Todes- und Vernichtungslager geschickt. Für sie, aber auch für die nichtzionistische jüdische Arbeiterklasse in Osteuropa, wurde Palästina zum einzigen Schlupfloch, weil die so humanen demokratischen imperialistischen Staaten, gebeutelt von der Weltwirtschaftskrise, sich weigerten, jüdische Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen.  

Eines Tages, als ich im Kibbuz hinter unserer holzverkleideten steinernen Schanze auf Wache stand, sah ich Flugzeuge, die wie Raubvögel immer wieder auf einen kahlen Berg niederstießen. Dann folgten Maschinengewehrgarben, die mit einzelnen Schüssen beantwortet wurden. Einige Stunden später kamen britische Soldaten zu uns und erzählten, sie hätten eine arabische “Bande” — etwa 60 Menschen — wie Hasen abgeschossen. Die Briten bewunderten den Mut dieser Männer, die versuchten, mit ihren Gewehren die britischen Flugzeuge zu treffen und die sich, wenn man sie verwundet gefangen nehmen wollte, noch mit ihren “Djabries”, den arabischen Krummdolchen, auf die Soldaten stürzten.  

(Dieser Tage las ich im /Stern, /Nr.4/78, der GSG-Kommandeur Wegener habe sich in Mogadischu überrascht gezeigt über “die heftige Gegenwehr der Palästinenser”. Er habe geglaubt, daß Araber nicht sehr mutig seien. Jetzt kämpften sie wie Japaner auch in aussichtsloser Position weiter. Wegener: “Das war neu und erschreckend. Die Leute hatten eine riesige Energie und einen fanatischen Haß.”  

Niemand fragt danach, ob die Wurzel dieses Hasses nicht in der unterdrückten Freiheitsliebe dieses Volkes liegt, sowie in dem unbändigen Zorn darüber, dreißig Jahre lang in Lagern zu vegetieren.)  

Einige von uns im Kibbuz begannen damals Fragen zu stellen über unsere “Feinde”. Wir kamen zu dem Ergebnis: diesen Menschen geschieht unrecht. Wir, die wir selber Opfer Hitlers sind, verüben an ihnen Unrecht. Wenn wir es ernst meinen mit unserem Internationalismus, müssen wir einen Weg suchen zu diesen arabischen Massen.  

Wir wollten den Kibbuz nicht verlassen, der unsere Heimat, unsere Lebensform, unsere Familie war. Bald aber mußten wir begreifen, daß, wer nicht mehr Zionist ist, nicht im Kibbuz leben darf, der trotz seiner fortschrittlichen gesellschaftlichen Experimente die Speerspitze des Zionismus bildet. Standen nicht auch die katholischen Klöster im Mittelalter, diese wunderbaren Kommunen, die alle damaligen Schätze der menschlichen Kultur aufbewahrten und mehrten, im Dienste der feudalistischen Kirche, die eine der furchtbarsten Unterdrückungsmächte war, gegen die sich Reformation und Bauernaufstände richteten?  

Wenige Monate nachdem wir den Kibbuz verlassen hatten, zwei Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurden drei von uns Ausgeschlossenen verhaftet und interniert. Administrativ, ohne jedes Gerichtsverfahren, erhielten wir 12 Monate zudiktiert, die beliebig verlängert werden konnten. Wir kamen zum ersten Mal mit dem britischen Imperialismus in Berührung, der jüdische Nichtzionisten als Gefahr ansah.  

Im Polizeigefängnis von Haifa wurden etwa 30 Häftlinge so eng in einem Raum zusammengepfercht, daß man sich nicht einmal beim Schlafen ausstrecken konnte. Wir lagen nachts auf dünnen Matten, die von Gefangenen aus Lumpen geflochten waren; tagsüber saßen wir auf dem Zementboden zusammen mit Kriminellen, mit Menschen, die offene Tbc, Geschlechtskrankheiten, die Krätze oder Läuse hatten. Hier gab es zwischen Juden und Arabern keine Unterschiede mehr, ebensowenig wie zwischen Politischen und Kriminellen. In der Zelle gab es weder Tisch noch Stuhl. In der Ecke stand ein offener Pißkübel.  

Einige Tage darauf wurden wir in die Festung Akko eingeliefert. Eine Nacht lang war ich dort mit Mitgliedern einer arabischen “Bande” zusammen, die wir heute Partisanen oder Freischärler nennen würden. Ihre Moral, die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie diskutierten, ihr Kampfwille — einige von ihnen waren zum Tode verurteilt und wurden hingerichtet — hinterließen einen tiefen Eindruck auf mich.  

Tags darauf wurden wir von einem Aufseher instruiert, wir würden nun ärztlich untersucht und müßten Fragen mit “Yes Sir” beantworten. Wir standen in einer langen Reihe, wurden einem britischen Militärarzt vorgeführt, der fragte: “Everything alright?” Wir antworteten: “Yes Sir”. Die medizinische Inspektion war beendet.  

Nachdem 12 Monate meiner Internierung abgelaufen waren, wurde die Haft automatisch für weitere 12 Monate erneuert. Mit uns zusammen — wir waren inzwischen nach Sarafand überführt worden und kamen später nach Masra — war ein Sekretär der Palästinensischen Kommunistischen Partei, Meir Slonim, interniert seit sechs Jahren, ohne Prozeß, ohne Urteil.  

Eines Tages wurde eine Gruppe jüdischer Strafgefangener — 43 Mann — in das benachbarte Lager eingeliefert. Sie waren zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden, weil sie britischen Soldaten mit voller Bewaffnung in die Arme gelaufen waren. Ihr Anführer hieß Moshe Dayan [1]. Natürlich wurden sie lange vor Ablauf ihrer Strafe entlassen.  

Unter uns Häftlingen übten wir Solidarität, und da wir als Internierte das Recht hatten, Geld zu erhalten und zusätzliche Nahrungsmittel zu kaufen, schmuggelten wir einen Teil davon in das Lager der Strafgefangenen, in dem auch Mosche Dayan saß, mit dem ich über den Zaun hinweg fruchtlose Diskussionen führte. Zusammen interniert mit uns waren auch die bedeutendsten Führer der rechtsradikalen zionistischen Terroristen, wie Abraham Stern, Abrascha Zehner und David Razill, Vorläufer Begins als Führer des “Irgun”.  

Die Linken im Lager organisierten gemeinsam mit den arabischen Häftlingen, die zu hunderten interniert waren, einen Hungerstreik, um endlich ein ordentliches Gerichtsverfahren zu bekommen. Wir wurden zwangsernährt und erhielten nach sieben Tagen das Versprechen, daß wir vor eine Kommission gestellt würden, die unsere Fälle überprüfen werde.  

In den zweieinviertel Jahren, die ich interniert war, habe ich nicht nur Sprachen gelernt, eine Art Lageruniversität mitorganisiert, sondern auch erfahren, was die drei Buchstaben CID (Criminal Investigation Department) bedeuten, die ich vor meiner Verhaftung gar nicht kannte. Sie bedeuteten, daß Häftlingen Holzstäbchen unter die Fingernägel getrieben wurden, daß man Feuer unter ihren Fußsohlen anzündete, daß sie an den Händen aufgehängt wurden, bis sie vor Schmerz brüllten; und all das, um Aussagen von ihnen zu erpressen. Ich lernte, daß der demokratische Imperialismus im Kampf für die Erhaltung seines Imperiums manchmal nicht weniger zimperlich ist als der Faschismus, der auszieht, ein neues Imperium zu erobern.  

Drei Monate nach dem Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion kam ich endlich vor eine britische Untersuchungskommission. Sir Hartley Shawcross, ein in Gießen geborener englischer Jurist, der 1945 Labour-Abgeordneter, dann Kronanwalt und später Hauptankläger für Großbritannien vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg war, führte den Vorsitz. Er wollte wissen, was eigentlich gegen mich vorliege, und war ebenso wie mein Anwalt, der bedeutende jüdische Arabist Goitein, über die “Beweise”, die von der Polizei geliefert wurden, überrascht, ja empört. Shawcross verfügte meine Freilassung.  

In den zweieinviertel Jahren meiner Internierung hatte nur ein Vetter von mir es gewagt, mich ein einziges Mal zu besuchen. Jeder, der um die entsprechende Erlaubnis bat, wurde von der CID darauf aufmerksam gemacht, welchem Risiko er sich damit aussetzt.  

Nach meiner Entlassung stand ich dennoch lange unter Polizeiaufsicht, was mich nicht daran hinderte, nun zum ersten Mal wirklich mit arabischen Linken Verbindung aufzunehmen, unter denen ich Freunde gewann. Während des Krieges kamen wir über sympathisierende marxistische Soldaten mit der ägyptischen Literaturzeitschrift /Megalla Gedidah /(Neue Zeitung) in Kontakt. Wir traten in eine politische Diskussion mit den Redakteuren ein, von denen 1947 einige an der ersten großen Massenstreikbewegung ägyptischer Arbeiter Anteil hatten.  

Als das Kriegsende kam, bereitete ich mich auf die Rückkehr nach Deutschland vor. Einige meiner Freunde waren in die Armee, zur Marine oder zur UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) gegangen und setzten sich in Europa ab. Eine internationalistische politische Arbeit in Palästina schien mehr und mehr aussichtslos. Die terroristischen Attentate des rechtsextremen Irgun Zwai leumi (Nationale Militärorganisation) — einer ihrer Führer war der jetzige Ministerpräsident Israels, Menachem Begin –; die Anschläge der Stern-Organisation, das britische Hauptquartier in Jerusalem, das King David Hotel, wurde in die Luft gejagt, wobei fast 100 Menschen umkamen; der Terror vor den Raffinerien von Haifa, wo in der Schlange der dort nach einem Tag Arbeit anstehenden arabischen Fellachen eine Bombe explodierte, die mehr als 40 Menschen zerriß; schließlich der blutige Pogrom gegen das arabische Dorf Dir Yassin, in dem auch Frauen und Kinder ermordet wurden, und viele andere Attentate ließen eine friedliche Lösung immer weniger zu. Als ich sah, wie meist orientalische Juden aus arabischen Dörfern bei Jerusalem fortschleppten, was nicht niet- und nagelfest war, oder armselige Behausungen niederrissen, erinnerte ich mich wieder an den Pogrom der Polen. Nur: Hier wurden Juden zu Pogromisten.  

1947 beschlossen die Vereinten Nationen — die USA gemeinsam mit der Sowjetunion — die Zweiteilung Palästinas. Die Araber beantworteten dies mit einem Generalstreik. Tagtäglich explodierten nun arabische oder jüdische Bomben, wurden Menschen ermordet. Wenn man sich morgens verabschiedete und zur Arbeit ging, sagte man sarkastisch: “Auf Wiedersehen in der Abendzeitung”. Dort wurden die Bilder der Ermordeten veröffentlicht.  

Anfang 1948 kam ich mit einem Touristenvisum und einem Paß des britischen Mandatsgebiets Palästina in Frankreich an. Von dieser Zeit an durchlebte ich zuerst in Frankreich, dann in Belgien das Schicksal eines Emigranten, dessen Mandatspaß seine Gültigkeit verlor und der stets im Clinch mit den Polizeibehörden lag, die ihn ausweisen wollten. Denn die britische Regierung hatte beschlossen, ihre Truppen aus dem Mandatsgebiet Palästina am 14.5.1948 zurückzuziehen. Am gleichen Tag wurde der Staat Israel ausgerufen. Die Truppen der arabischen Staaten, die versuchten, die Entstehung des Staates zu verhindern, wurden geschlagen. In Panik flohen Hunderttausende Araber in die Nachbarstaaten. Sie gingen in die Diaspora wie die Juden 1900 Jahre vor ihnen.  

1933 war ich als Jude in das arabische Palästina gekommen. Als ich 1948 das Land verließ, waren die Araber zu Juden geworden. Ich kehrte im November 1948 als überzeugter Internationalist nach Deutschland zurück. In der falschen Hoffnung, die Geschichte würde dort weitergehen, wo sie nach der Revolution von 1918 unterbrochen worden war.  

3.  

Mag sein, daß es wirklich Menschen gibt, die niemals schwanken. Die Heiligen der katholischen Kirche etwa, oder die Bolschewiken aus der Retorte der stalinistischen Geschichtsfälscher. Aber die Entwicklung des Nachkriegseuropa, vor allem die enttäuschte Hoffnung auf das Verschwinden der blutigen Herrschaft Stalins nach dem Krieg und des Sieges der sozialistischen Demokratie in Europa und in der Sowjetunion machten mir schwer zu schaffen.  

Drei Monate vor dem Tod Stalins veröffentlichte ich eine kleine Schrift: /Aufstieg und Niedergang des Stalinismus – Kommentar zum kurzen Lehrgang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). /Unter den Linken in der Bundesrepublik, aber vor allem unter Kommunisten in der DDR, wo die Tradition der marxistischen Analyse durch den Faschismus und den Stalinismus angeschlagen war, löste diese Schrift Diskussionen aus.  

Ein Kapitel darin trägt die Überschrift: “Revolutionärer und bürokratischer Terror”. Es beginnt mit der Feststellung, daß, wie immer man subjektiv den Terror, die Gewaltanwendung in der Geschichte verabscheuen mag, sich nicht leugnen lasse, daß die Gewalt zuweilen eine Hebamme der Geschichte gewesen ist.  

“Angefangen von der puritanischen englischen Revolution bis zu den amerikanischen Befreiungskriegen gegen die Engländer, dem Kampf um die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten Amerikas oder der Französischen Revolution hat die Gewaltanwendung eine Rolle gespielt. Gewalt wird in der gleichen Weise vom Chirurgen angewandt, der einen Patienten mit einem Skalpell behandelt, und vom Mörder, der sein Opfer mit einem Dolch tötet. Man kommt also um die Frage nicht herum, wer zu welchem Zweck Gewalt anwendet. Wie unterscheidet man jedoch die revolutionäre von der reaktionären Gewalt? Wie kann man feststellen, ob Gewaltanwendung dem Fortschritt dient oder den Fortschritt behindert?”  

Ich zitierte, was Mark Twain, einer der aufrichtigsten amerikanischen Schriftsteller und Journalisten, ein wahrhafter Verfechter der amerikanischen Demokratie, über die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution in seinem Buch /Ein Yankee am Hofe von König Artus /schrieb:  

“Es gab /zwei /Schreckensherrschaften, wenn wir uns daran erinnern und es erwägen würden. Die eine verübte Mord in heißer Leidenschaft, die andere hatte tausend Jahre gedauert. Die eine verhängte Tod über zehntausend Personen, die andere über hundert Millionen, aber unser Schaudern gilt nur dem ,Schrecken des kleineren Terrors, des momentanen Terrors sozusagen: Was aber ist der Schrecken eines raschen Todes durch das Beil, verglichen mit dem lebenslangen Sterben durch Hunger, Kälte, Schimpf, Grausamkeit und an gebrochenem Herzen?. . . Trotz allem scheinheiligen Gewinsel vom Gegenteil hat noch kein Volk der Welt jemals durch gütliches Zureden und moralische Uberredung seine Freiheit erlangt, da es ein unabänderliches Gesetz ist, daß jede Revolution, die Erfolg haben will, mit Blutvergießen beginnen muß, wenn auch nachher vielleicht etwas anderes genügt.”  

Wie aber sah es mit der Schreckensherrschaft der russischen Revolution aus? Ich schrieb:  

“Man kann ohne jede Übertreibung feststellen, daß die vom Stalinismus angewandten Mittel den von ihm selbst angegebenen Zweck beständig verfehlen. Die /Sowjet-Demokratie /hatte sich als hinreichend erwiesen, die herrschenden Klassen selbst zu vernichten. Aber um die Überbleibsel (der herrschenden Klassen) in der Wirtschaft und im zurückgebliebenen Bewußtsein der Menschen zu bekämpfen, braucht Stalin angeblich den gewaltigen Machtapparat seiner Geheimpolizei! In Wirklichkeit ist es so, daß das Aufleben der Ideologie der geschlagenen antileninistischen Gruppen die immer wieder aufflackernde Idee des echten Marxismus und Leninismus ist, der eben nie ausstirbt, weil er von der Sowjetwirklichkeit selbst tausendfach immer neu hervorgebracht wird: jene tiefe Sehnsucht der Massen zur Wiederbelebung der Demokratie in der Sowjetunion und das Drängen zur Beseitigung jener stalinistischen Kaste, die, ohne im wissenschaftlichen Sinne eine besitzende Klasse zu sein, zehnfach die Laster aller besitzenden Klassen enthält.  

Der stalinistische Terror, angeblich ein Mittel, die Klassenherrschaft zu beseitigen, ist in Wahrheit ein Mittel, das dieses Ziel beständig verfehlen muß, und insofern eben kein Mittel, das den Zweck heiligt, sondern ihn schändet…  

Der bürokratische Terror ist im Gegensatz zum revolutionären hinterhältig, inquisitorisch und unehrlich. Er wendet sich mit größter Niedertracht gerade gegen jene, die sich weigern, in diesem Regime der Unterdrückung eine klassenlose sozialistische Gesellschaft zu sehen. Die Wahrheit ist der größte Feind der Bürokratie, aber sie kann auf die Dauer nicht mit terroristischen Methoden ausgerottet werden. Sie wird auch die stalinistische Geheimpolizei überleben.”  

Das hat sie getan. Der 20. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Arbeiteraufstände in den Satellitenstaaten, jetzt die Charta 77, das Buch von Bahro, der Protest der 14 polnischen Kommunisten, die Entwicklung der Eurokommunisten bei all ihren Mängeln — all das bezeugt, daß ich mich nicht in allem geirrt habe, als ich drei Monate vor Stalins Tod den Niedergang des Stalinismus kommen sah. Dennoch, meine optimistische Zeitrechnung, meinen Optimismus in bezug auf die Entwicklung der Linken in den sozialdemokratischen Parteien muß ich revidieren. Die kurze Zeitspanne eines Menschenlebens reicht eben nicht aus, um historische Prozesse an ihr zu messen, obwohl sich der Gang der Geschichte erheblich beschleunigt hat. Das macht uns ungeduldig.  

Was für den stalinistischen Terror gilt, trifft abgewandelt auch auf den individuellen Terror zu. Auch er verfehlt beständig den selbst angegebenen Zweck. Er führt nicht zur “Vernichtung des Klassenfeindes”, sondern hilft seine Herrschaft zu stabilisieren. Er fördert nicht das zurückgebliebene Bewußtsein der Massen, sondern er verwirrt es. Der individuelle Terrorist macht sich selbst zum Helden der Geschichte, anstatt die Klasse der Arbeitenden über ihre historische Aufgabe aufzuklären, sie ihr bewußt zu machen, damit sie selbst wieder als Held auf die Bühne der Geschichte tritt.  

Noch zweimal wurde ich nach der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus mit dem Problem der Gewalt konfrontiert. Das eine Mal — ich war damals Sozialreferent im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik in Paris — als der Aufstand in Algerien ausbrach. Mir war, nach allem, was ich von den Terrormaßnahmen, den Folterungen, den Razzien, den Bombardierungen in Algerien wußte, unbegreiflich, daß die “Front de Libération Nationale” und das algerische Volk all dem standhielten und nicht zusammenbrachen; daß die Algerische Befreiungsfront, die seit 1954 pausenlos einem gnadenlosen Terror ausgesetzt war, /nicht /aufgab. In einem Pariser Cafe stellte ich diese Frage der jungen, algerischen Schriftstellerin Assja Djebar. Sie antwortete: “Wenn ein algerischer Fellache für den FLN rekrutiert wird, erhält er zum ersten Mal in seinem Leben ein paar Schuhe und ein Gewehr. Damit wird er zum ersten Mal zu einem Menschen. Das Selbstbewußtsein, das er hierdurch gewinnt, das Gefühl, daß er für die Befreiung seines Volkes kämpft, jetzt kämpfen kann, läßt ihn alles ertragen bis zum Sieg.”  

Viele Jahre später kam dieser Sieg, wenn auch wiederum nicht so, wie ihn viele erhofft und erwartet hatten: als Sieg des Sozialismus in Algerien. Aber dennoch: Algerien wurde frei.  

Das zweite Mal trat mir die Gewalt in Chile entgegen, als ich zwei Monate nach dem Militärputsch für die Gewerkschaftszeitung /Metall /nach Chile ging. Ich fragte chilenische Gewerkschafter, ob man der Regierung Allende vorwerfen könne, sie habe die Verfassung verletzt, wie das damals ein großer Teil der bürgerlichen Presse in der Bundesrepublik behauptete. Sie antworteten:  

“Wenn die Regierung Allende zugrunde gegangen ist, so höchstens darum, weil sie sich allzu sehr an die Verfassung gehalten hat. Wir, die Gewerkschaften, wollten rechtzeitig der Sabotage der Unternehmer und dem Boykott der von ihnen aufgehetzten Lastwagenbesitzer und Ärzte entgegentreten. Wir forderten, den Kampf gegen die Terroristen von >Patria e Libertad< aufzunehmen. Aber die Regierung Allende ließ im Parlament ein Gesetz verabschieden, das die Suche nach Waffen erleichterte. Gefunden wurden seltsamerweise nur die spärlichen Waffen, die Arbeiter zu ihrem eigenen Schutz in den Betrieben hatten, während die Rechtsextremisten bis an die Zähne bewaffnet blieben. Als der Putsch der Junta begann, befahl man uns, die Betriebe zu besetzen. Wir haben es getan. In der Hoffnung, daß die christlich-demokratische Partei von Eduardo Frei uns gegen die putschenden Generäle ebenso unterstützen würde, wie wir ihn unterstützt hatten, als er an der Regierung war und General Viaux gegen ihn putschte. Aber er hat geglaubt, die Junta werde ihm nach ihrem Putsch die politische Macht überreichen. Sie denkt nicht daran. Wir aber waren in den Betrieben ohne Waffen, ohne Schutz, ohne die Möglichkeit, uns zu verteidigen.  

Es war falsch, daß die Regierung Allende die Armee in die Politik hineingezogen hat, daß sie immer weiter zurückwich. Sie hätte mehr Vertrauen zu uns, zu den Gewerkschaften, zu den in den Betrieben Beschäftigten haben müssen, die bereit waren zu kämpfen, die aber mit leeren Händen nicht kämpfen konnten…  

Mancher von uns denkt heute: Hätte die /Unidad Popular/ doch den Mut gehabt, zwei Dutzend Generäle und drei Dutzend Spekulanten so zu behandeln, wie man heute mit Tausenden von uns umgeht, dann hätte uns das viele Opfer und Qualen erspart.”  

Ich fühlte mich wieder wie im Jahr 1933. Die politisch und militärisch unbewaffnete Gerechtigkeit hatte ihren Kampf gegen die waffenstarrende Ungerechtigkeit verloren.  

4.  

Aber aus welchen Quellen speist sich trotz aller Niederlagen meine Zuversicht in den Sieg des Sozialismus, den wir wollen? Die Befreiung Algeriens, Vietnams ist nur ein Teil der Antwort. Ein anderer Teil liegt in der Hoffnung, die jene vernichtete, in Gaskammern erstickte jüdische Arbeiterklasse Osteuropas bis zum letzten Atemzug, bis in ihrem Todesgesang aufrecht erhalten hat.  

Die Hymne des “Bund” hatte in seltsam geheimnisvoller Weise einiges davon vorweggenommen, vorausgeahnt. In freier Übersetzung beginnt sie:  

“Vielleicht bau ich in der Luft nur meine Schlösser.Vielleicht ist mein Gott überhaupt nicht da.Im Traum wirds leichter mir, im Traum wird es mir besser.Im Traum ist der Himmel blau und völlig klar.”  

Wer nicht im KZ ermordet, nicht in den Gaskammern umgebracht wurde, wer nicht in imperialistischen Kriegen gefallen ist, hat kein Recht dazu, den Kampf für den Sozialismus aufzugeben.  

Lenin, der größte revolutionäre Realist war es, der sagte: “Der Mensch muß träumen können.”

[1] Moshe Dayan war später einer der einflussreichsten Militärs und Politiker bei der (militärischen) Durchsetzung des Staates Israel. Er war Mitglied der Mapai und der Haganah, später der Rafi (“Arbeiterliste”) und ab ihrer Gründung 1968 der “Israelischen Arbeitspartei”; von 1953–58 Generalstabschef, leitete den Sinaifeldzug; 1959–64 Landwirtschaftsminister, 1968–74 Verteidigungsminister, 1977–79 Außenminister.

 

 

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kommentare

  • Danke für den Nachruf auf Jakob Moneta und schön, dass er so lange gelebt hat. Ich traf ihn in den 1970er Jahren.

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