vonImma Luise Harms 29.11.2006

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ein Baum hat ein gutes Gedächtnis. Seine Erinnerungen reichen weit zurück in andere Zeitalter. Dem Menschen hilft das Gedächtnis, so zu handeln, dass die Zukunft seinen Wünschen etwas besser entspricht, um so Schmerz und Mangel zu vermeiden. Ein Baum kann nicht handeln. Er nimmt die Erfahrungen in sich hinein – die trockenen und die regenfeuchten Zeiten, die Hitze und den  bitteren Frost. Nägel, die in ihn geschlagen wurden, Geschosse, die in ihm stecken blieben, ummantelt er mit neuen Schichten Rinde. Wenn ihm Äste abgesägt werden, verschließt er die Wunde in jahrelanger geduldiger Überwucherungsarbeit. Selbst wenn der Sturm die Krone bricht, versuchen die starken Seitenäste, seine Arbeit zu übernehmen – das Leben geht weiter. Und auch die Krankheit wirft einen Baum nicht gleich um. Wenn der Pilz sein Mark zerfrisst, stützen die über viele Jahrzehnte gebildeten Holzringe den Stamm weiter, so dass der Lebenssaft zwischen Wurzeln und Krone noch lange Zeit zirkulieren kann – wenn man ihn lässt.
Die Aufgabe der Straßenmeisterei ist es nicht, den Lebensraum der Bäume zu hegen, sondern die Verkehrswege freizuhalten und sicher zu machen. Dieser Auftrag ist unbedingt, denn bei den Straßen handelt es sich um die Lebensadern der menschlichen Gesellschaft. Zeit ist Geld, und Mobilität ist Grundbedingung; Verzögerungen oder Hindernisse können nicht hingenommen werden. Wenn ein umgestürzter Baum auf der Straße liegt, muss man ja einen Umweg fahren. Wenn ein toter Ast aufs Auto fällt, gibt es einen Versicherungsfall; das kostet.
Es gibt kommunale Straßen und Wege, Kreisstraßen, Landes- und Bundesstraßen. Jeweils ist eine andere Straßenmeisterei für ihre Betreuung verantwortlich. Sabine Poganiatz und ihr 15-köpfiges Team aus Reichenberg ist für die Unterhaltung von knapp 200 km Kreisstraßen in Märkisch-Oderland zuständig. Die Männer bessern die Straßendecke aus, machen den Winterdienst, pflegen den Seitenstreifen, sägen Äste ab, fällen Bäume und pflanzen auch neue, wenn dieser Auftrag nicht an externe Firmen vergeben wird.
Im November wurden auf Kreisstraße 6416, der Straße von Reichenow nach Marienberg, 15 Bäume gefällt, zum größten Teil stattliche Linden. Auf Kreisstraße 6415, der Straße nach Herzhorn, fielen etliche Robinien; aber das ist erst der Anfang. Insgesamt werden hier 36 der insgesamt 468 Bäume gefällt. Der Hauptteil der Robinien ist damit verschwunden.
Warum müssen die Bäume fallen? “Die sind einfach alt”, sagen die Straßenarbeiter, “ein alter Mensch stirbt doch auch irgendwann”. “Sie haben Pilzbefall und Wurzelschäden und stehen nicht mehr sicher”, sagt Frau Poganiatz. Sie verweist auf die genaue Überwachung jedes einzelnen Baumes durch Baumsachverständige und Vertreter der unteren Naturschutzbehörde und von Umweltverbänden. Regelmäßig werden “Gewebeproben” entnommen, um den Zustand des Stammholzes beurteilen zu können. “Die Baumschau ist der Tod des Baumes”, hält Gisela Ziehm von der Schutzgemeinschaft Brandenburger Alleen dagegen, denn “irgendwas ist immer”. Die Naturschutzvertreter dürfen zwar mit gucken, aber nicht mit entscheiden.
“Hier, gucken Sie mal. Die Wurzeln an dieser Seite sind doch schon ganz durch. Der Baum kann jederzeit bei Sturm fallen”, sagen die Straßenarbeiter. Gisela Ziehm zeigt Fotos von Baumstämmen, deren Rinde am Wurzelansatz von tiefen Schnittwunden durchzogen ist. Das passiert beim gedankenlosen Abrasieren der untersten Baumtriebe.
“Der Baum ist innen drin schon ganz verrottet”. Die Bauarbeiter zeigen den dunklen Torf  in den breiten Baumscheiben. Auch das hat seinen Grund. “Der zweitschlimmste Frevel an den Bäumen ist der Luftraumprofilschnitt”, sagt Gisela Ziehm. Damit die 4,50 Durchfahrtshöhe frei bleiben, werden die Äste brutal am Stamm gekappt, so dass große Wunden zurückbleiben, durch die die Pilze in den Stamm eindringen. Und nicht nur das, aus einem merkwürdigen Symmetriebedürfnis werden die Äste auf der Feldseite gleich mit abgeschnitten, so dass aus den mächtigen Bäumen karge Pinsel werden. Zum Teil schneiden die Straßenarbeiter, wo sie gerade dabei sind, auch die schon vernarbten Aststümpfe noch mal exakt am Stamm ab, mit der Begründung: “sieht doch besser aus”, berichtet Frau Ziehm.
Der schlimmste Baumfrevel ist nach Frau Ziehm und anderen Experten aus den Naturschutzorganisationen aber weiter das hemmungslose Salzen der Straßen. Auf Brandenburgs Landes- und Bundesstraßen sind im vergangenen Winter 80.000 Tonnen Salz gelandet. Die Salzlake wandert in Stamm und Blätter und behindert dort den Stoffwechsel.  Die Blätter trockenen schon im Sommer langsam von den Rändern her aus. Im Salzstress verdurstet der Baum langsam, aber sicher.
“Wir streuen mit äußerster Umsicht”, sagt Frau Poganiatz von der Kreisstraßenmeisterei, “nur 5 bis 15 Gramm pro Quadratmeter und Einsatz”. Aber es gibt 30 bis 60 Einsätze pro Winter. Das ist dann schon ein knappes Pfund Salz pro Quadratmeter. Das schlimme ist, das Salz reichert sich an; mit dem verrottenden Laub wird es dem Nährstoffkreislauf wieder zugeführt und versalzt den Lebensraum der Bäume Jahr um Jahr schlimmer.
Die Anwohner der Alleen sehen die Baumfällungen mit gemischten Gefühlen – je nach Art ihrer Heizungsanlage. Wenn die Kreissäge zu hören ist, werden die Hänger angespannt. Das Lindenholz, das von den Straßenarbeitern in handgerechte Stücke zersägt wird, ist ein begehrtes Geschenk der Straße. Wer zuerst kommt, kann es sich nehmen.
Herr P. geht einem Holzstoß mit Axt und Säge zu Leibe. Seine Gefährtin bewacht den Stapel, während er das bereits Zerkleinerte in Sicherheit bringt. Die L.’s halten sich mit ihrem Fahrzeug dicht hinter der Baumfällertruppe; kaum ist die Hebebühne weitergezogen, laden sie auf. Die Nachbarn sehen mit einem gewissen Groll den Holzstapel hinter dem Haus von L. wachsen und munkeln, dass damit Geschäfte gemacht werden. Aber Frau L. hat eine einfache Erklärung: Sie legen sich jetzt, solange sie das noch können, einen Altersvorrat an. Nach dem Motto: Was man hat, das hat man; was man kriegt, das weiß man nicht!
Das richtig gute Brennholz, z.B. von den Robinien an der K6415, nehmen die Straßenarbeiter selbst mit. “Wir sind 15 Mann, und wir haben ja schließlich auch die Arbeit gemacht”, rechtfertigen sie ihren Erst-Zugriff. Heizmaterial wird immer teurer, und so ersetzen die Straßenarbeiter einer nach dem anderen die Öl- und Gasversorgung in ihren Häusern durch Befeuerung mit Holz, das ihnen gewissermaßen als Sozialleistung bei ihrem Job zufällt.
Die zurückbleibenden Lücken sind erschreckend; soviel Landschaft war noch nie in der Allee! Aber das Nachpflanzen, das nach dem Brandenburger Alleen-Erlaß in den Lücken erfolgen muss, lässt auf sich warten. Das hat verschiedene Gründe. Frau Sommer vom Bauamt in Seelow erklärt, dass ein neu gepflanzter Baum in der mit Pilzen und Bakterien versuchten Erde kaum eine Überlebenschance hätte. Fünf Jahre Karenzzeit sind erforderlich.  Zum Teil verfolgt das Bauamt aber auch eine tabula rasa Politik. Erst wenn die Allee nur noch aus einzelnen Bäumen besteht, werden diese auch noch niedergemacht und dann neue Baumreihen gepflanzt wie jetzt an der Straße zwischen Klosterdorf und Ernsthof. Robinien werden gar nicht mehr nachgepflanzt und Obstbäume äußerst selten, weil sich unter ihnen die Wildschweine herumtreiben, was zu Verkehrunfällen führen kann. Den Vorzug bekommen Bäume, die ein dickes Fell gegen die Umweltsünden haben, damit man diese auch in Zukunft weiter begehen kann.
Es gibt aber auch noch einen anderen, im Grunde zynischen Zusammenhang: je mehr Bäume gefällt werden, desto weniger können gepflanzt werden, weil nämlich beide Maßnahmen aus demselben Finanztopf bezahlt werden. Da das Bäume fällen wegen angeblicher Gefahrenabwehr jederzeit Vorrang hat, muss das Bäume pflanzen warten, bis wieder Geld dafür da ist. Deshalb fordern die Naturschutzverbände, dass ein Alleenfonds eingerichtet werden muss, in den für jeden gefällten Baum ein gewisser Betrag einzuzahlen ist. Auf diese Wese ist immer Geld für Neuanpflanzungen da, wenn die Säge unterwegs war.
Eine andere Möglichkeit, die Alleen zumindest in kleinen Bereichen zu flicken, ist die Selbsthilfe der Anwohner. Das Bauamt hat nichts dagegen, wenn Bürger Bäume pflanzen, stellt aber hohe Anforderungen an solche Aktionen: Der Standort ist genau zu klären. Die Erde muss an diesem Ort ausgehoben und ausgetauscht werden. Der Baum muss dreimal geschult worden sein und ein spezieller Hochstamm sein. Irgend ein überflüssiges Gartenbäumchen darf also nicht verpflanzt werden.
Gisela Ziehm gibt den neu angepflanzten Bäumchen jedoch wenig Chancen, wenn zu ihren Füßen ungehemmt weitergesalzen wird. Sie hat bei den jungen Pflanzen nach ein paar Jahren bereits dieselben Symptome wie bei den alten Bäumen festgestellt: die Blattränder trocken ein, die Kronen veröden. Die Neuanpflanzungen werden also Kulissenbau bleiben, wenn sich die Haltung von Anwohnern und Behörden gegenüber der Strasse nicht grundlegend ändert: Sie ist nicht nur Verbindungsweg zwischen den Menschen sondern auch  Wohnort des Baumes.

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