vonImma Luise Harms 17.02.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Am Mittwochmorgen mache ich einen Ausflug vom Ausflug. Ich hatte mir gedacht, dass ich meinen eingegipsten Daumen auch in Berlin herumtragen kann. Ich habe guten Kontakt zu einigen Berlinale-Facharbeitern, die verbilligte Kartenkontingente beschaffen können. Daraus habe ich mir ein einwöchiges Kinoprogramm zusammengestellt, mit einer Lücke am Mittwochvormittag. Da muss ich zum Verbandswechsel ins Strausberger Krankenhaus, das direkt am S-Bahnhof Strausberg Nord liegt. Hier habe ich fünf Tage ein Bett belegt, nachdem mir vor zwei Wochen die Daumensehne geflickt worden war. Zuvor war ich einige Tage im Wriezener Betriebsteil desselben Krankenhausunternehmens, wo man mir nach einem Armbruch operativ eine Schiene einsetzte. Das wollte ich gerne, damit ich nicht solange mit einem Gips rumlaufen muss.

Wer in ein Krankenhaus gerät, noch dazu in eines im ländlichen Osten, muss sich unter das Joch von unverständlichen Maßnahmen beugen, die ab morgens um sechs an jedem Patienten exekutiert werden. Das fällt mir schwer. Aber ich hatte schon in Wriezen meinen Laptop dabei und damals noch alle Finger frei. Also schrieb ich noch im Krankenbett einen detaillierten Beschwerdebrief an die Krankenhausverwaltung, dessen Kritikpunkte in taktisches Lob für weniger misslungene Dienstleistungen eingebettet waren.

Kluge Zurückhaltung
Noch bevor ich in der folgenden Woche zuhause den Brief überdenken, überarbeiten und abschicken konnte, riss die Daumensehne der operierten Hand. Und dann saß ich schon wieder in der Notaufnahme. Innerlich beglückwünschte ich mich, dass ich den Beschwerdebrief, der auch auf die gelangweilte Stimmung in der Notaufnahme einging, noch zurückgehalten hatte. Der untersuchende Oberarzt war ungewohnt aufmerksam; er war sich offenbar nicht ganz sicher, dass der Riss keine Folge seiner Operation war. Er überwies mich zu seiner auf Handoperationen spezialisierten Kollegin im Strausberger Krankhaus. Mit ihr führte er die Sehnenoperation am nächsten Tag durch.

Dann hatte ich Zeit, die Ausstattung, Leistungen und Stimmung der beiden Betriebsteile zu vergleichen. Das Gespräch mit den Bettnachbarinnen im 4-Bett-Zimmer hielt ich, wie in Wriezen, niedrig dosiert, las, hörte Musik, räumte die Dateien in meinem Laptop auf. Die abermalige Ruhigstellung machte mich milde. Ich stand auf und legte mich hin, wie es von mir erwartet wurde, schluckte die bereit gestellten Medikamente ohne weitere Nachfrage und fügte mich in den Stationsalltag. Mein Bedürfnis, mich zu beschweren, war verflogen, auch wenn es immer wieder zu merkwürdigen Situationen kam. Eines Morgens zum Beispiel, als ich aus dem Bad kam, war das Zimmer leer, alle Betten und Mitpatientinnen weg. Ich fand sie ein Zimmer weiter rechts wieder. Man hatte es einfacher gefunden, zum Zweck der Grundreinigung jeweils ein Zimmer ganz zu räumen und die Patienten komplett zu verschuben. Die angemeldeten Telefone klingelten im leergeräumten Zimmer weiter und die Angehörigen wunderten sich. Währenddessen wischte die Stationshilfe in unserem grundgereinigten Zimmer Staub, weil sie das nun mal jeden Morgen macht.

Kantisches Pflichtgefühl zur Kritik
Auch das nahm ich nach etwas Murren hin. Aber dann gewann mein kantisches Pflichtgefühl wieder die Oberhand. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass eine solidarische Gesellschaft sich nur auf der Basis von Kritik entwickeln kann – produktiver Kritik im sokratischen Sinn: aufrichtig, wohlmeinend und kompetent. Und wenn ich dieser Meinung bin, dann muss ich das auch tun.

Am Empfang gab es Vordrucke für die Meinungsäußerung von Patienten. Die A5-Zettel trugen den Aufdruck „Ihre Meinung ist uns wichtig“ und enthielten Kästchen zu einigen möglichen Kritikpunkten wie Ordnung auf der Station, Aufklärung, Essen, medizinische Behandlung, mit denen in der Bewertung zwischen schlecht, mittel und gut gewählt werden konnte. Es gab auch einen Kasten in der Größe von 4 mal 12 cm für Kritikpunkte, die bei den Auswahlpunkten nicht berücksichtigt waren. Ich machte ausführlich Gebrauch davon, benutzte in Ergänzung auch die leere Rückseite des Blattes, kritisierte zum Schluss, dass auf dem Zettel nicht steht, wer eigentlich „wir“ ist, an den diese Kritik gerichtet wird, und dass ich doch gerne eine Reaktion hätte, ob meine Kritik angekommen und angenommen ist, gab dazu auch meinen Namen und meine Adresse preis.

Das alles liegt zehn Tage zurück. Nun betrete ich das Gebäude wieder, gehe durch den Flur der Station, begegne der korpulenten Stationsschwester, die mit ausgebreiteten Armen an mir vorbeisegelt. Ich weiß nicht, ob sie mich wiedererkennt. Auf jeden Fall erkennt sie mich als ambulante Patientin und sagt: „Sie setzen sich auch noch in den Warteraum drüben, ja?“ Das mach ich doch gerne. Ich habe ein Buch dabei und etwa eine Stunde, bis die S-Bahn fährt, die ich brauche, um meinen nächsten Film zu sehen. Ich grüße freundlich und setze mich mit dem üblichen Abstand von jeweils einem Stuhl zwischen die Wartenden. Mir gegenüber sitzt ein Ehepaar mit verbundenem Zeigefinger, daneben eine Frau, offenbar von der Station, die ein weiß umwundenes Handgelenk mit der anderen Hand stützt, links von mir eine Frau mit unklarer Diagnose, und rechts setzt sich nach ein paar Minuten eine weitere Patientin, die mit Gehhilfen in den Raum gekommen ist.

Wut und Großmut
Ich lese ein bisschen, kann mich aber nicht richtig konzentrieren. Die Stimmung im Raum dringt zwischen mich und die Zeilen. Der Ehemann springt auf, läuft raus, kommt zurück. Seine Frau gestikuliert, den verbundenen Finger hebend, mit ihrer Sitznachbarin. Der Mann ist empört, weil sie für neun Uhr bestellt wurden, und nun ist seine Frau immer noch nicht dran. Dafür wurde eine Frau vorgenommen, die viel später gekommen ist. Das ist doch unerhört. Ja, das sind die von der Station, wird erwidert, die kommen vor. Aber die haben doch Zeit, können doch auch auf ihrem Zimmer bleiben!

Der Mann steigert sich in seine Wut über die Ungerechtigkeit des Wartens immer weiter rein, repetiert laut die Reihenfolge, in der die Patienten gekommen sind. Wenn jetzt noch jemand vorgezogen wird, dann geht er aber rein. Als die Stationsschwester kommt und mich mit ihrem Blick fixiert, springt er schon auf. Aber sie will nur wissen, warum ich mich nicht bei ihr angemeldet habe, damit die Reihenfolge auch stimmt. Ich denke, na, sie hat mich doch gesehen und gesagt, ich soll ins Wartezimmer gehen. Es steht auch nirgendwo was vom Anmelden. Aber noch ist kein Schaden entstanden. Ich bin nach dem Handgelenk, nach dem Zeigefinger, nach der unklaren Diagnose, aber vor den Gehhilfen dran.

Das Ehepaar wird endlich erlöst und mitgenommen, das Handgelenk, obwohl stationär, wurde nicht vorgezogen. Nun äußert sich die bisher schweigsame unklare Diagnose. „Warum die nicht warten können! Das weiß man doch, dass man warten muss. Da nimmt man sich doch Zeit!“ „Bei meinem Orthopäden muss ich manchmal zwei Stunden warten“, gibt die Gehhilfe an. Die unklare Diagnose weiter:“ Die wissen in meinem Betrieb, dass ich erst mittags komme. Hab mir extra nen Tag Urlaub genommen. Ich hab Zeit! Ist mir egal, wann ich dran komme.“ Ich kann das nicht so bestätigen. Es ist kurz vor zehn. Wer weiß, wie lange die unklare Diagnose brauchen wird. Um zwanzig nach zehn muss ich los, wenn ich die S-Bahn zu „Irina Palm“ noch kriegen will. Ich druckse kurz. Ach was, Fragen kostet nichts! „Wenn Ihnen das egal ist, wie lange Sie warten, ob Sie mich dann wohl vor ließen?“ frage ich die unklare Diagnose behutsam.

Es stellt sich raus, dass sie auf dieselbe S-Bahn wie ich spekuliert hat. „Na ja, die fahren ja bloß alle 40 Minuten, aber macht ja nichts, ich hab mir ja Urlaub genommen“, sagt die unklare Diagnose. Sie ist entschlossen, großmütig zu bleiben, sowohl zu mir wie gegenüber dem S-Bahn-Fahrplan. Das sehen die Gehhilfen anders. „Ist egal, wie viele Leute von hier nach Berlin fahren, die ändern den Fahrplan nicht. Gucken Sie sich mal an, wie viele Autos da immer stehen, wie viele da in die Stadt fahren! Die ändern den Fahrplan auch in 10 Jahren noch nicht. Das ist schon seit dreißig Jahren.“ Ich spreche ihr Mut zu, dass man vielleicht doch schon eher auf einen kürzeren S-Bahntakt hoffen kann, auch um mein schlechtes Gewissen gegenüber der unklaren Diagnose zu beschwichtigen, die wegen ihrem nicht rückholbaren Großmut weitere Zeit im Wartezimmer verbringen muss.

Die Kehrseite der Kritik
Als sie aufgerufen wird, trete ich ins Behandlungszimmer. Ich habe mir schon einen Text zurecht gelegt, um diese Eigenmächtigkeit zu erklären. Aber das ist gar nicht nötig. Ich werde ausgewickelt, frisch eingewickelt, ermahnt und kann gehen. Den beiden noch Wartenden wünsche ich einen schönen Tag und wende mich zum Gehen. Dieses schöne Erlebnis von Selbstorganisation möchte ich mir doch gerne notieren. Wo finde ich ein Blatt Papier? Am Empfang gab es ja die Beschwerdezettel. Die waren auf der Rückseite frei.

Ich stecke mir also im Vorbeigehen ein Blatt ein. Erst in der S-Bahn sehe ich, dass es verändert ist. Es ist größer, jetzt A4, es trägt eine Aufschrift: Krankenhaus Märkisch Oderland, Betriebsteil Strausberg, und eine Unterschrift vom „Qualitätsmanagement-Team“. Die Auswahlantworten sind in dreizehn Rubriken aufgeteilt, zu denen eine Benotung zwischen 1 und 5 möglich ist. Die Noten 1 und 2 sind mit einem Smilie verstärkt, die miesen Noten 4 und 5 werden durch ein schlecht gelauntes Smilie mit herabgezogenen Mundwinkeln kommentiert. Der Kasten in der Mitte ist auf 5 mal 17 cm vergrößert. Für die, die das Platzverschwendung finden, ist er mit der Textzeile „Freies Feld für freie Meinung:“ beschriftet. Unten wird nun ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, seine Adresse anzugeben und anzukreuzen, ob man eine Rückantwort wünscht. Die brauche ich jetzt nicht mehr; meine Kritik ist offenbar angekommen.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/02/17/lob-der-kritik-qualitaetsmanagement-im-landkrankenhaus/

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kommentare

  • qualitätsmanagement in krankenhäusern ist eine fürchterliche krux und ich frage mich immer wieder, ob die das alles eigentlich ernst meinen. ich war mal bei denen im büro: ein flip-chaart, vollgemalt mit kryptischem irgendwas, was sie später dann mittels power-point-folie vorführen – und man sitzt da und fragt sich: “und nun?”
    QM in menschlichen dienstleistungen ist im grunde firlefanz, denn das verhalten von menschen ist nicht prognostizierbar und somit auch nicht standardisierbar. QM im krankenhaus bläht die bürokratie auf, führt zu parasitärem führungsstil und ersucht die tatsache zu unterhölen, dass die praktikerInnen diejenigen sind, die den laden am laufen halten. wer kontrolliert, muss es selber können. und davon haben sich die meisten QM-mitarbeiterInnen zum stellenantritt deutlich distanziert.

  • Liebe Imma,

    vielen Dank für deine neuerliche Recherche – “Qualitätsmanagement” (im Krankenhaus), ich lese den Text gleich noch mal ausgedruckt in der U-Bahn. Hier erst einmal nur so viel – was keine Kritik an deinem Text sein soll: “Qualitätsmanagement” ist ja sogar in der industriellen oder handwerklichen Warenproduktion ein schrecklich dummes Wort. Und geht es speziell im Krankenhaus nicht um Menschlichkeit, wenn nicht gar um Menschenliebe?

    Ich erinnere mich an einige Gespräche mit ehemaligen koreanischen Krankenschwestern, die hier nach Berlin infolge des “Pflegenotstands” geholt wurden – und nach einer langen schwierigen Eingewöhnungszeit, da sie vornehmlich mit Putzarbeiten beschäftigt wurden, merkten: “Wir leisten hier echte Entwicklungsarbeit!” Die deutschen Krankenschwestern sind einfach unfähig, menschlich mit Kranken umzugehen, zumal mit Alten und Siechen, denn sie haben keine Ehrfurcht vor dem Alter, sie sind eher scharf darauf, sich einen jungen Arzt zu schnappen, zur Not auch einen jungen knackigen Bein- oder Armbruch. Noch schlimmer sind die deutschen Ärzte. Es gibt natürlich Ausnahmen. Aber insgesamt sollte man die Deutschen in toto aus dem Gesundheitssektor verbannen – die haben da nichts zu suchen. Sie können zwar Abflußleitungen reparieren, auch Fernseher oder Autos…Aber schon an den Supermarkkassen oder an Kaufhaustresen sind sie einfach scheiße. Ich habe einige Zeit in Italien gelebt: 1. darf man dort in Supermärkten und Kaufhäusern hemmungslos rauchen und 2. würden die Supermarktkassiererinnen dort nie das, was man unten in den Einkaufswagen legt (Danone-Kartons oder Bierkisten) nie kassieren. Das ist ein stilles aber stabiles Einverständnis zwischen den ausgebeuteten Supermarktangestellten und den vom Supermarkt übervorteilten Kunden.Zum Krankenhaus fallen mir noch zwei angehende Ärztinnen aus Burma ein, die hier ihre Ausbildung mit Altenpflege finanzieren: Sie haben inzwischen einen gutgehenden Antiquitätenhandel, denn alle ihre Alten vererben oder schenken ihnen alte Möbel und andere Wertgegenstände, weil diese Asiatinnen eben so liebevoll mit ihnen umgehen – wie sie es noch nie bei deutschen Pflegern/Ärzten erlebt haben, nicht einmal ihre deutschen Kinder, Ehemänner, Ehefrauen etc. bringen eine derartige Menschlichkeit auf. Und das ist auch logisch!

    Hier meine kleine eigene Recherche zur Kreuzberger Urbanklinik:

    “Isch mach dich urban,” sagen die aus schwäbischen und anatolischen Siedlungsgebieten stammenden jungen Leute in Kreuzberg – und wollen damit in aller gebotenen Kürze andeuten: “Ich hau dir gleich so eine rein, dass du erst auf der Notaufnahmestation des Urbankrankenhauses wieder zur Besinnung kommst – wenn überhaupt!” Das Urbankrankenhaus – idyllisch zwischen Urbanstraße und Urbanhafen gelegen – war für Kreuzberg einmal ungefähr das, was das Hotel Kempinski für die Kudamm-Schischis war. Beides ist am Verschwinden! Und die Empfangshalle (die Visitenkarte!) des Urbankrankenhauses – das war immer die Notaufnahmestation. Hier sammelten sich nicht nur regelmäßig die “Live Fast and Die Young”sters sondern auch die Fernseh- und sonstigen -Reporter aus aller Welt, wenn es wieder mal galt: Am 1.Mai Nachts und oder am Neujahrsmorgen live aus der Frontstadt zu berichten. Da standen die noch artikulationsfähigen Notaufnahmen jedesmal für janz Berlin gerade. Und der “Problembezirk” selbst für ein fernes, gleichsam reterritorialisiertes Echo der 68er-Parole: “High sein, Frei sein, Terror muß dabei sein”. Wobei schon die französischen 68er-Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari in diesem Zusammenhang zu bedenken gaben, dass das “Revolutionär-Werden” etwas ganz anderes ist als “die Revolution – rückblickend”! Bereits die englischen Romantiker wurden nicht müde, Cromwell zu verdammen, “und ihre Argumente ähnelten verblüffend den heutigen – z.B. über Stalin”. Am 1.Mai warfen CNN und BBC abschließend jedes Mal noch einen kurzen Blick nach drüben: auf die ordentliche staatliche Demonstration in Ost-Berlin (einst Pankow genannt) – quasi als “Ausbremser”, wie man die etwas abrupte Abrundung eines Action-Features auch nennt .

    Die ersten fundierten Berichte über die Notaufnahmestation des Urbankrankenhauses kamen unterdes wenig überraschend aus dem Inneren der Station selbst: Und zwar unregelmäßig – als “Essays” in der Zeitschrift Transatlantik – von dem damals dort als Arzt arbeitenden Dr. Michael de Ridder. Seine Texte waren noch besser als die heutigen von Dr. med. Jakob Hein, der kürzlich einen schönen aufklärerischen Artikel über den Ärztestreik an der Charité veröffentlichte. Leider schrieb er nichts über den anschließenden Streik der Krankenschwestern. Vielleicht lag es daran, dass selbst die Patienten, wie eine Pflegekraft auf der Orthopädie meinte, “nichts davon spürten”.

    Die Notaufnahmestation des Urbankrankenhauses wurde vor allem durch zwei Dokumentarfilme von Antonia Lerch berühmt, in der eine in den Neunzigerjahren auf der Notaufnahmestation des Urbankrankenhauses arbeitende junge Krankenschwester die Hauptrolle spielte. Auf der Berlinale bekam sie jedesmal großen Applaus – wenn sie nach der Premiere leibhaftig vor das Publikum trat. Ihre Eltern stammten aus der Türkei und lebten ebenso wie sie in Kreuzberg. Der letzte Film mit ihr hieß “Vor der Hochzeit”, dies betraf aber nicht sie sozusagen persönlich, sondern eine Freundin von ihr. Leider habe ich nicht den Namen dieser Krankenschwester von der heute so genannten “Rettungsstelle” des Urbankrankenhauses herausbekommen können. Auch da wird man nun an die “Geschäftsführung” verwiesen (”Wir dürfen Ihnen leider keine Auskunft geben”). Leiter dieser Aufnahmestation ist heute Michael de Ridder – und mittlerweile außerdem noch Drogenexperte. Als solcher veröffentlicht er auch weiter Texte. Umgekehrt druckte das Ärzteblatt unlängst ein Porträt über ihn ab.

    Ich erzähle das alles aus der Distanz eines Nicht- oder Nochnichtpatienten, der aber – wie viele andere Kreuzberger auch – Sonntags gerne an Urbankrankenhaus und -hafen vorbeischlendert. Früher, um in dem dort vor Anker liegenden kurdischen “Theaterschiff” einen Kaffee zu trinken, heute um zu kontrollieren, ob die Schwäne dort noch keine Immunschwäche zeigen – und um gesehen zu werden, denn immer mal wieder trifft man auf der Wiese oder den Bänken – zwischen dem Hafenbecken und dem Haupteingang des Urbankrankenhauses – den einen oder anderen Bekannten, der auf einer der Stationen liegt – und schon wieder oder noch immer so gesund ist, dass er draußen herumlaufen, mindestens -humpeln kann und das auch darf. Im Frühjahr war das ein nigerianischer Kolumnistenkollege, den man auf die Onkologische überwiesen hatte. Wir beide spazierten von dort aus bis zur Minigolfplatz-Kneipe am Ende des Urbanhafens. Sie wird leider nicht mehr vom Italienerkollektiv bewirtschaftet, wie ich dann feststellen mußte, obwohl wir uns 1992 als Stammgäste mit mehreren Veranstaltungen für die Verlängerung ihrer Pacht beim Senat eingesetzt hatten und zunächst auch erfolgreich gewesen waren.

    Noch früher, Ende der Sechzigerjahre, hat man gelegentlich auch mal einen Freund, der auf einen schlechten LSD-Trip geraten war, zur Aufnahmestation des Urbankrankenhauses begleitet, damit man ihn dort “wieder runterhole”, wie man paradoxerweise sagte, denn genaugenommen ging es dabei um ein “Wieder Hochholen”, weil der- oder diejenige auf dem Trip, angestoßen von “nüchternen” Freunden oder Bekannten, in eine Art inneren Brunnen gefallen war, der schier grund-los schien. 1972 verteilte ich auch mal vor dem Urbankrankenhaus als Teilnehmer an Ulf Kadritzkes “AG Gesundheit und Soziales” des FU-Instituts für Soziologie Flugblätter von und für die Krankenschwestern, in denen höhere Gehälter gefordert wurden. Einige Jahre später gab es so viele Kreuzberger, die nach Indien getrampt oder geflogen – und dann von dort mehr oder weniger euphorisch überdreht wieder zurückgekehrt waren, dass das Urbankrankenhaus eine eigene “Indien-Fahrer-Reintegrations-Therapie-Gruppe” einrichtete, aus der dann die berühmte InFaRG-Therapie hervorging, die heute bei vielen “Displaced Persons” angewandt wird, nur dass diese heute eher depressiv als manisch sind. Bei den Indienfahrern waren dann auch eher deren Freunde und Verwandte die treibende Kraft zu ihrer Therapie.

    To cut a long story short: Als der Berliner Senat – um die Jahrtausendwende – damit drohte, das Urbankrankenhaus aus Kostengründen zu schließen, war es deswegen so, als würde man den Wilmersdorfern und Charlottenburgern das Kempinski oder die noch “bedrohteren” Kudammtheater abreißen. Die Empörung war also enorm. Zudem handelte es sich bei den von dieser zweiten Krankenhausschließung im Bezirk Betroffenen um einen mittlerweile besonders empörungsgeübten Bevölkerungsteil, zumeist aus Ex-Studenten und Ex-Arbeitern bestehend, die diesbezüglich eine Ehre zu verteidigen hatten. Die erste Krankenhausschließung betraf einst das Bethanien, um dessen Wiedereinrichtung 1970 derart zäh aber vergeblich gekämpft worden war, dass einer der Rädelsführer (von der KPD/AO-Initiative “Poliklinik”) deswegen sogar für ein Jahr ins Gefängnis gehen mußte.

    Das letzte, was ich über das Urbankrankenhaus hörte – war, dass eine Übergangsstruktur namens “Vivantes” das von ihr sogleich in “Klinkum am Urban” umbenannte Krankenhaus übernommen hatte. Und das letzte, was ich über diesen Strukturfake hörte bzw. las, war eine Meldung im Tagesspiegel: “Vivantes will weiter sparen!” Eine Nachricht, die mich angesichts der allgemeinen neoliberalen Nachrichtengemengelage nicht sonderlich überraschte. Aber dann erfuhr ich aus sozusagen erster Hand Konkreteres – von meinem Nachbarn Bülent, der für eine Unternehmensberatungsfirma tätig ist, die sich auf Staatsverschlankungen spezialisiert hat, weswegen er an sich alles andere als privatisierungsfeindlich eingestellt ist. Er meinte, dass dort bereits derart viel Personal – jedenfalls auf einer Station, wo er gerade seine kranke Schwester besucht hatte – eingespart worden wäre, dass es schon nicht mehr schön sei: Nur noch zwei völlig überforderte Krankenschwestern gäbe es dort – die eine gebiete und die andere verbiete einem z.B. die Einnahme bestimmter Tabletten, zudem würden sie die ihrer Meinung nach deutschunkundigen ausländischen Patienten, besonders die Alten, immer nur in einer Art Pidgintürkisch ansprechen: “Du jetzt umdrehen!” Dabei würden diese längst besser Deutsch als die beiden Krankenschwestern können. Und dann sei es dort auch sehr dreckig geworden: Es gäbe nur eine – ebenfalls völlig überforderte – Putzfrau für die ganze Station. Bülent fragte sich, ob wir für unsere Krankenkassenbeiträge nicht eine bessere Behandlung verlangen könnten oder ob man diese eventuell noch mal erhöhen müßte…

    Bezeichnenderweise las ich wenig später in einem Interview, das der Tagesspiegel mit dem Leiter der Rettungsstelle des Vivante-Klinikums am Urban, Dr. Michael de Ridder geführt hatte: Bei ihm würden sich neuerdings die Fälle häufen, da personell und fachlich wohl überforderte Betreuer in Altenheimen die ihnen anvertrauten pflegebedürftigen Menschen regelrecht verwahrlosen ließen – manchmal sei es schon fast zu spät, wenn man sie ins Urbankrankenhaus einliefere. Auch in den Altersheimen wurde also schwer gespart! Schon kursiert die bange Frage in einem Kreuzberger Altenheim, dessen Bewohner ebenfalls gerne am Urbanhafen flanieren, um die Schwäne zu füttern – falls es das Wetter erlaubt, wie sie sich auszudrücken belieben: “Wenn der erste unter uns an der Vogelgrippe erkrankt, werden wir dann auch alle gekeult?!” Bülent und ich, wir waren uns einig, dass eigentlich alle Institutionen mit geschlossenem Milieu im Übergang von der Disziplinar- zur Kontroll- und Kommunikationsgesellschaft vom Verschwinden erfaßt werden: Uni, Schule, Kita, Knast, Irrenanstalt, Fabrik, Firma, Krankenhaus, Altersheim usw.. indem sie gezwungen sind, sich zu öffnen. Die Massen und ihre Ströme werden dabei fragmentiert, atomisiert, digitalisiert – und zu elektronischer Heimarbeit, Billigjobs, Ich-AGs, projektbezogenen Verträgen etc. verdammt. Deleuze und Guattari fügten dem in ihrer “Schizo-Analyse” noch das “schreckliche Lifelong Learning” hinzu – und prophezeiten, dass wir uns angesichts des dabei heraufdämmernden neuen “Faschismus” noch nach der guten alten Disziplinargesellschaft zurücksehnen werden. Zumal die neue Kontrollgesellschaft dabei u.U. auf die (Folter)-Techniken der Souveränitätsgesellschaften zurückgreife. Die Begriffe Kontrolle und Kommunikation sind zentral geworden – seitdem Norbert Wiener 1948 sein Buch “Cybernetics or Control and Communiation in the Animal and the Machine” veröffentlichte: dem kybernetischen Grundlagenwerk, auf dem sich dann Gen- und Computertechnik als neuer “industriell-akademisch-militärischer Komplex” entwickelten.

    Aus dem Buch “Einschluß” – über den Reformknast Tegel von Hans-Joachim Neubauer – weiß ich, dass einige Knackis aus dem Osten bereits ihre alten DDR-Knäste vermissen – so schlimm ist es dort anscheinend geworden. Ansonsten muß man aber wohl Deleuze recht geben, dass es zuerst die Massen an der Peripherie und in den Banlieues sein werden, die rebellieren. Als erster hat der Publizist und ehemalige Maoist Karl Schlögel auf ihre zwar vergebliche aber deswegen umso lautere Sabotage der dräuenden Kontroll- und Kommunikationsgesellschaft in Kreuzberg hingewiesen – und dafür sogleich den großen Tagesspiegel-Literaturpreis bekommen, weil er nach dieser Niederlage der letzten “Autonomen” das daraufhin auch im “Wrangel-Kiez” einsetzende postmoderne “Stop-and-Go” (das für ihn als “Kiez-Theoretiker” mit der für den Verkehr wiedereröffneten Oberbaumbrücke einsetzte) emphatisch begrüßt hatte, wie er später noch einmal in der FAZ ausführte.

    Gleichwie, ich traf neulich jedenfalls den Mitbegründer der autonomen Rathausfraktion KPD/RZ (Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum) Mao Meier – auf einen der Bänke zwischen Urbankrankenhaus und Urbanhafen sitzend: Er war nicht besonders gut drauf und trug dazu ein passendes T-Shirt – mit dem Aufdruck: “Too Old to Die Young”. Wir wechselten nur ein paar freundliche Worte. Kurz zuvor hatte ich bereits einen anderen Kreuzberg-Aktivisten, Hans, in dem im Urbanhafen liegenden türkischen Fischrestaurantschiff “Iskele” getroffen. Er ist derzeit in dem neuerlichen Streit um die Nutzung des Bethanienkrankenhauses engagiert, indem sich noch einmal (ein letztes mal?) Kunst- und Sozialinitiativen gegenüber stehen. Darum ging es ihm aber gar nicht, denn er fragte mich, ob ich auch gehört hätte, dass das Urbankrankenhaus demnächst an einen amerikanischen Pensionsfond, auch US-Investor genannt, verkauft werden soll. Ich wußte von nichts. Wir waren uns aber einig, wenn ja, dann würde dieser Deal ganz bestimmt in die Hose gehen und aus dem Krankenhaus zuletzt ein weiteres Hotel werden…Denn hierzulande nehme man 1. nicht gegen jedes soziale Problem Tabletten, die 2. ohnehin nicht so wirken wie bei den gentechnisch fixierten Amis und 3. habe man es hier tendenziell immer eher mit Psychosen zu tun, in Amerika dagegen mit Neurosen. Zum Beweis konnte ich mich auf die Erforschung des türkischen “Dezentrierungs”-Gefühls durch die Istanbuler Ärztin Emy Cohn berufen und Hans auf den am “Kotti” seit Jahren schon praktizierenden ungarischen Ethnopsychoanalytiker Dr. Laszlo Kruppa. Letzterer würde uns wahrscheinlich sofort zustimmen: Im Gegensatz zum familialen Ödipustheater ist der Wahn weltlich-historisch…Man deliriert über Chinesen und Inder, Deutsche und Amis, Kartoffeln und Gurken, Hermann den Cherusker und Dschingis Khan, Muslime und Juden, Macht und Produktion – aber nicht über Mama-Papa!

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