vonImma Luise Harms 19.04.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Auf dem Weg von Prenzlauer Berg nach Hohenneuendorf habe ich mich verfahren. Dort soll ich einen Metallrahmen abholen, aber es ist nicht besonders eilig. Die frisch grünen Zweige an den Straßen, die blütenreichen, haben so schön gewedelt. Die Sonne hat auf ihnen geglänzt an diesem warmen Aprilnachmittag, dass ich einfach meinen Gedanken nachgefahren bin. Auch weg von der unwirtlichen Hektik in der Stadt. In der Kastanienallee hatte mich so ein Gucci-Brille tragender Van-Fahrer aus seinem Führerstand heraus angeraunzt, ob sonst wohl noch alles in Ordnung ist, weil er wegen mir ein bisschen langsamer fahren musste. Und ein Radfahrer, der mein Auto umrunden musste, weil ich nicht schnell genug in der Parklücke verschwunden war, stöhnt im Vorbeifahren: „Könnt ihr nicht einfach zuhause bleiben?“ Ich habe ein MOL-Kennzeichen am Auto. Es hat etwas gedauert, bis ich mich daran erinnert  und den Spruch auf mich bezogen habe. Wenn man auf dem Land lebt, wird man langsam und arglos.

Nun folge ich dem Lauf der Straße und lande schließlich in Mühlenfliess. Warum soll ich mich hier nicht einfach ein bisschen in die Sonne setzen? An der Straße ist eine Bäckerei. Ein paar Stufen führen zur Eingangstür hoch. Vor dem Schaufenster steht eine Bank. Direkt vor dem Laden gibt es einen Parkstreifen mit drei voneinander abgegrenzten Stellplätzen. Ich nehme den mittleren und betrete die Bäckerei. Ich möchte Kaffee und ein belegtes Brötchen. Belegte Brötchen hat die Bäckereiverkäuferin nicht. Sie bietet mir stattdessen eine Boulette mit Brötchen an. Ja, dann nehme ich die. Sie fragt, ob sie die Boulette warm machen soll. Ja, bitte. Und ob sie das Brötchen aufschneiden und die Boulette reintun soll? Ja, auch gerne. Und vielleicht auch ein bisschen Butter draufmachen? Ja, wenn’s keine Mühe macht.  Und ob ich auch Senf will, und ne Serviette? Ja, danke. Nun habe ich doch ein belegtes Brötchen. Mit den Bötchenteller und der Kaffeetasse setze ich mich auf die Bank, beiße in die fettige graue Masse und stelle mir vor, wie es ist, in Mühlenfliess zu leben. Gegenüber ist ein Gemeindezentrum mit Touristeninformation und irgendwelchen sozialen Bürgerprojekten. Man sieht’s an den Papieren, die von innen an die Scheiben geklebt sind. Angrenzend sind Garagen, durch deren Türen Müllfahrzeuge zu sehen sind.

Ab und zu gehen Leute die Stufen zur Bäckerei hoch und kommen mit Tüten oder Päckchen wieder herunter. Auf der vorderen Parkfläche steht jetzt ein Auto mit dem Kennzeichen OHV. Die vorbeifahrenden Autos haben das gleiche Kennzeichen.

Ein Mann kommt steifbeinig die Bäckereitreppe herunter. Er hält sich mit der einen Hand am Geländer fest, in der anderen hält er ein kleines Kuchenpäckchen. Weil ich in seine Richtung schaue, teilt er mir mit, dass er sich jetzt erst mal ausruhen muss. Ich verstehe das als Aufforderung zu rücken und frage: „Wollen Sie sich hersetzen?“ Dabei raffe ich das Geschirr und meine Handtasche zusammen. Der Mann ist im rüstigen-Rentner-Alter. Aber er ist nicht rüstig. „Ach, die verfluchte Diabetes, das brennt und tut immer weh.“ Er zeigt mir seinen Unterarm, der prall und rot ist. „Und die Beine auch“, er macht die linke Wade frei, „ist so anstrengend zu laufen.“ In mir baut sich Widerstand gegen die Wade auf, den ich aber nicht möchte. Ich möchte weiter entspannt und zugewandt sein. Konzentriert beiße ich in mein Bouletten-Brötchen. Warum soll ich mir nicht ein bisschen was von ihm anhören? Ich weiß nicht, ob ihm diese Entscheidung von mir überhaupt wichtig ist. Er ist längst bei weiteren Details seiner Krankengeschichte. Muss später noch mit dem Hund raus. Hat aber ne gute Krankenpflegerin, geht ihm eigentlich nicht schlecht, hat zu essen, hat ne Wohnung, hat seinen Hund, kann fernsehen, was will man mehr? War nicht immer so. Zwischendurch auch gesoffen. War nicht gut. Jetzt hat er Bier und Korn im Kühlschrank, aber das bleibt da liegen. Höchstens mal ein Glas. Oder wenn jemand zu Besuch kommt.

Während er redet, grüßt er mit erhobener Hand Passanten, zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto. „Wo ist das denn, MOL“, fragt er. Ich sage „Märkisch Oderland. Ist ein bisschen weiter östlich von hier.“ Er sagt, jetzt kennt er sich nicht mehr so aus, aber früher war er selbst Berufskraftfahrer, hat Kosmetika und Chemieerzeugnisse gefahren, überall hin, bei jedem Wetter, bei Eis und Schnee in Annaberg die Serpentinen hoch, und so. Bisher hatte ich wenig zum Gespräch beigetragen, eigentlich nur Hm und Ach und Ja. Jetzt frage ich: „Wo ist das denn, Annaberg? Wo sind denn hier Serpentinen?“ „Na, doch nicht hier. Das ist im Bayrischen Wald“.  Er ist ein bisschen enttäuscht von mir, dass ich so überhaupt keine Ahnung habe. Es entsteht eine Gesprächspause. Wie sehen auf die beiden Autos, die vor uns stehen. Ich sage: „OHV, ist das das Kennzeichen von hier?“ „Jau“, sagt er, „‚Ohne Hirn und Verstand’ heißt das.“ Ich nicke zu meinem Wagen rüber und sage: „Und unseres heißt: ‚Menschen ohne Lebenserwartung’.“ „Geht auch“, sagt er. Und damit ist unser Gespräch zuende. Ich bringe mein Geschirr in den Laden, steige ins Auto, wende, winke dem Mann zu und fahre zurück auf die Autobahn.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/04/19/begegnung-in-muehlenfliess/

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