vonImma Luise Harms 10.01.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Fadeneinfädler.jpgEin Wollfaden ist eigentlich nicht dick, auch ein dickerer nicht. Er ist vielmehr flauschig. Das heißt, wenn man den Wollfaden lässt, wie er will, plustert er sich auf; die Fasern gehen auf Abstand zueinander und lassen Luft zwischen sich. Das hängt damit zusammen, dass Fasern aus tierischem Haar widerspenstig sind; ihre elastische Molekülstruktur bewirkt, dass sie sich unter äußerem Einfluss zwar verformen, aber wenn der Druck nachlässt, trotzig in ihre Ausgangshaltung zurückgehen. Material, das einen weniger ausgeprägten Eigenwillen hat und ergeben in der aufgezwungenen Form bleibt, nennt man plastisch. Baumwolle ist eher plastisch. Dicke Baumwollfäden sind deshalb wirklich dick. Zum Beispiel kann man sie schwer durch eine Stopfnadel fädeln. Aber es kommt auch selten vor, dass man das versucht. Höchstens, wenn man einen Baumwollpullover gestrickt hat und die Fäden vernähen will. Viele verknoten die Enden einfach und schneiden sie ab. Das soll man nicht, weil der gestrickte Stoff sich ziehen soll, und dann sind die Knoten im Weg.

Dicke Socken sind meistens aus Wolle gestrickt. Die kleinen Intimzonen, die die Faserchen um sich bilden, halten die Luftmoleküle fest. Das hält warm, denn die Wärme verlässt den Körper nicht durch die Luft sondern mit der Luft. Wenn die sich nicht mehr bewegen kann, kann sie auch die Wärme nicht wegschaffen.

Jetzt fällt mir wieder ein, was ich in Strausberg wollte. Thomas hat dort etwas zu besorgen und ich bin mitgefahren mit der vagen Erinnerung, dass ich irgendwas suchen wollte. Thomas verschwindet in irgendwelchen Einzelhandelsgeschäften in der Einkaufsstraße. Ich flaniere und betrete dann ein Unterwäsche-Fachgeschäft, denn es ist eine Strumpfhose, eine warme, die ich mir anschaffen wollte.

Wie selbstverständlich ziehen wir uns einen Strumpf über, aber wie wenig beachten wir dabei das Wunderwerk der über Jahrhunderte entwickelten kulturellen Technik des Strickens? …aus einem Faden eine zweidimensionale Fläche zu schaffen und diese auch noch zu einem dreidimensionalen Gebilde auszuformen, einer zweiten Haut, die sich dehnen und überstreifen lässt! Wirken heißt das Stricken in altertümlicher Sprache. Und in der Tat, wie eine wirksame, hochkomplexe Struktur mit vielen Verbindlichkeiten und Abhängigkeiten hält das Gestrickte zusammen. Der Faden bringt aus sich selbst Maschen hervor, scheinbar sinnlose Umwege, Serpentinen, Spitzkehren, die von der Nadel gehalten werden, bevor mithilfe einer zweiten Nadel die nächste Reihe von Maschine sich dauerhaft in ihnen einhängt. Taucht der Faden gleich mehrmals in eine Masche, bilden sich Ausbuchtungen, fasst er mehrere Maschen mit einem Griff, entstehen Verengungen. Richtig angewandt entstehen so Beulen im Gestrickten, in die zum Beispiel die Ferse des Fußes hineinpasst.

Greift der Faden von vorn, wird es eine „rechte“ Masche, die übereinander aufgereiht wie ein Zopfmuster aussieht. Greift er von hinten, so nennt man die Masche „links“; in der Reihe wirkt sie wie ein Wellenmuster. Wie im wirklichen Leben ist „rechts“ von der Rückseite betrachtet „links“. Wechseln sich rechte und linke Maschen ab, entsteht ein rippenartiges Muster, das durch die Spannung des verdrehten Fadens besonders elastisch ist, damit zum Beispiel der Schaft einer Socke sich sanft und sicher um den Knöchel schließt.

Die Strickware erinnert an ein komplexes Verschuldungssystem – jede Masche ein offener Wechsel, ein uneingelöstes Versprechen, abgesichert durch andere Versprechungen, auch sie eingebaut in ein weiter wucherndes Sicherungsnetz. Jede Fadenreihe ist Schuldner und Gläubiger zugleich. Vertrauensvoll lässt sich die Masche von der Fadenreihe über ihr halten, deren Kraft aber einzig am Vertrauen auf die Tragfähigkeit der darüber liegenden Reihe hängt, und so weiter.

Die Wäschefachverkäuferin ist eine stattliche vollbusige Dame in meinem Alter blonden Strähnchen im Haarschopf, dezent geschminkten Lippen und mütterlich wohlwollendem Blick. Der kleine, mit Ständern vollgestellte Wäschesalon ist ihr Wirkungsbereich. Unterwäsche, Schlafanzüge, Morgenmäntel in gedeckten, aber freundlichen Farben, solide Markennamen, handgeschriebene Preise. Ein gläserner Verkaufstisch mit Holzeinschüben, in denen ansprechende Accessoires darauf warten, dass der interessierte Blick auf sie fällt.

Wollfäden sind flauschig, aber nicht sehr stabil. Ob das daran liegt, dass die einzelnen Fasern kurz sind, sich im gesponnenen Faden nicht richtig aneinander festhalten oder ob die Molekülketten aus Aminosäuren brüchig sind, weiß ich nicht. Jedenfalls kann ein Wollfaden, wenn man an ihm zerrt und rubbelt, leicht dünn werden und dann reißen. Und schon haben die Socken, dort wo die Ferse an der Schuhkappe scheuert oder wo die Zehen immer wieder in die Schuhspitze hineinstoßen, ein Loch.

Warum ist das Loch im Strumpf ein Problem? Nicht weil die Wärme dadurch entweicht, sondern weil aus dem kleinen Loch unweigerlich ein großes Loch wird, wenn man nichts unternimmt. Reißt der Faden, zieht er sich aus dem Haltegriff mehrerer Maschen zurück und kann selbst auch nichts mehr halten.

Das ist wie bei einem Börsencrash. Es ist falsch, solche ökonomische Katastrophen als Kettenreaktionen zu bezeichnen. Eine gerissene Kette ist durchaus noch zu retten – die beiden voneinander gelösten Enden haben ihre Funktionsfähigkeit nicht eingebüßt und können geflickt werden. Aber die nicht fixierte Masche wird von ihren Nachbarmaschen durch die elastische Kraft des Fadens ohne Rücksicht auf die Folgen strammgezogen. Damit verliert die darunter liegende Masche ihren Halt und glättet sich, so dass auch ihre Vorgängerin nun ins Leere greift. Bei fein gewirkten Strümpfen aus hoch gespanntem Garn entstehen so die gefürchteten Laufmaschen. Ein Börsencrash ist eine Laufmasche: Wenn das Geschäft platzt, wird eine ganze Kaskade voneinander abhängiger Gläubiger mit in den Ruin gerissen. Der Vertrauenseinbruch fällt auch auf den zurück, der sich hat täuschen lassen.

Eine Kundin wird mit einem fleischfarbenen Büstenhalter in die Umkleidekabine geschickt, die Fachverkäuferin schließt den Stoffvorhang mit sorgfältiger Handbewegung hinter ihr. Jetzt wendet sie sich mir zu. Ich drehe an einem Ständer, auf dem warme Strumpfhosen aufgereiht sind.

„Die Dame?“

Lieber würde ich erst noch ein bisschen alleine stöbern. „Ich guck hier nur mal“.

Die Fachverkäuferin hat Zeit, die Kundin in der Kabine ist noch beschäftigt. Ihr Blick ruht abwartend auf mir.

„Also ich habe Wäschegröße 38 bis 40, aber ich habe ziemlich kräftige Beine.“ Ich habe eine Hose aus schwarzer Baumwolle in der Hand.

„Dann nehmen wir ne Nummer größer, auf alle Fälle. Hier: 42-44“.

Ich dehne die Beine der Hose; eine Nummer größer ist nicht immer die Lösung des Problems. „Aber nicht, dass sich das so ringelt an den Beinen“.

„Nein auf keinen Fall. Da ist Elasthan drin. Die passen sich dann an, die ziehen sich.“

Das Loch im Strumpf wird also bei jedem Überstreifen größer. Wenn der Strumpf sich in Auflösung befindet, kann er irgendwann seinen Dienst nicht mehr versehen. Der Fuß wird kalt, der Mensch friert. Das Loch muss gestopft werden. Wollreste in einer unauffälligen Farbe sind vorhanden. Eine Stopfnadel auch. Aber der Wollfaden, der ja eigentlich nicht dick sondern nur flauschig ist, will sich nicht schmal machen, um durch das Nadelöhr zu gehen. Da hilft kein Zureden und kein Anlecken. Breit und bräsig steht das Fadenende vor der elliptisch-schmalen Öffnung und spielt Kamel. Kluge Hausfrauen haben Tricks entwickelt, wie der aufgeplusterte Faden auf seine physikalische Dicke reduziert und durch das Loch gezwungen werden kann. Dazu schlingt man die vordersten, deltaförmig zusammen laufenden Fasern um die Nadelspitze, bildet also eine kleine Umschlagkante, zieht sie vorsichtig nach oben von der Nadel, presst sie mit Daumen und Zeigefinger zusammen, damit sie sich nicht wieder auffaltet, presst das Nadelöhr gegen die Spalte zwischen den beiden Fingern und drückt das gefaltete Fadenende hindurch.

Dabei kann Verschiedenes schiefgehen. Zum einen sieht man nicht, wo genau zwischen den beiden Fingern sich das umgefaltete Fadenende befindet. Man würgt und würgt, aber auf der anderen Seite des Nadelöhrs lässt sich zwar die Präsenz des Fadens erahnen, aber kein Faserchen ist hindurchgetreten. Oder noch schlimmer: einzelne Fasern haben sich aus der Gruppe gelöst und sich durchschieben lassen. Jetzt denkt man, man hat gewonnen, greift auf der anderen Seite zu und zieht. Leider hat man eine dauerhafte Spaltung des Faserverbunds im Faden bewirkt; die anderen denken nämlich nicht daran zu folgen, sie nehmen den bequemeren Weg außer herum. Eine Weile zerrt und zieht man noch, dann muss man resigniert einsehen, dass man die schon eingefangenen Fadenteile wieder freigeben muss.

So schnell möchte ich mich nicht zum Kauf festlegen lassen. „Ich guck noch mal, ich wollte eigentlich…“

„…was Wärmeres?“

„Ja, was Wärmeres, was nicht kratzt, und was ein bisschen stabiler ist, also was nicht sofort Fäden zieht.“

„Ja, nein, ist schon in Ordnung. Nehmen wir ne Baumwolle. Und was hatten Sie gedacht an Farben?“

„Schwarz oder Grau.“

Sie blättert im Ständer. „Wir haben hier ne wunderschöne Strumpfhose. Die ist außen Wolle und innen Baumwolle. Fassen Sie mal rein, die kratzt beim besten Willen nicht. Das ist die beste Qualität. Kostet normalerweise 26 Euro, wir bieten sie für 22 Euro an. Die ist richtig ausgearbeitet, gehen Sie mal richtig rein mit der Hand.“

„Und der Zwickel?“ Der Zwickel ist jenes Bauteil, das es der Strumpfhose ermöglicht, sich von der einen Röhre, die den Unterleib umschließt, in zwei Röhren für die Beine zu verzweigen.

Die Fachverkäuferin zeigt den Zwickel vor: „Der ist richtig ausgearbeitet. Und die Fersen, hier: die sind alle gekettelt. Also keine Naht und gucken Se mal: mit ’ner Flachnaht hier im Zwickel.“

Ich gestehe eine erste Bindung an das Produkt ein: „Ja, sieht gut aus.“

Die Fachverkäuferin setzt nach: „Und auch hier: vorgearbeitet und dann alles handgekettelt.“ Sie kann noch nicht einschätzen, ob meine Angst vor Faltenwurf größer ist als die, in einer Pelle festzustecken. Also drückt sie sich ambivalent aus: „Das ist… ja, wenn Sie sie kleiner nehmen wollen… Das dehnt sich ja noch ein bisschen, aber es soll sich ja auch nicht zu sehr dehnen.“

Thomas sitzt im Nebenzimmer tief über den Tisch gebeugt. Es hat sich handgestrickte Wollsocken von der Landkommune Uhlenkrug gekauft. Das erste Paar hatte nach wenigen Wochen ein Loch. Er hat das beanstandet und ein neues Paar bekommen. Man hatte seine Kritik aufgenommen und versprochen, das Wollmaterial zu prüfen und die Strickmethode zu überdenken. Nun haben die neuen Socken auch schon wieder Löcher. Ich habe Thomas’ hilfesuchenden Blick ignoriert, ihm die Tüte mit den Wollresten gegeben und ihm gezeigt, wo die Stopfnadeln liegen. Thomas versteht und akzeptiert solche Signale, wenn es die Problemlage erlaubt. Ich stehe in der Küche und versuche, mich auf die Gorgonzola-Soße zu konzentrieren, die ich zum Nudelgericht bereiten will. Im offenen Topf ringeln sich die Spaghettis umeinander und bilden Schlingen und Schlaufen.

Von meiner Tante Else weiß ich, dass man ein Loch im Socken am besten stopft, bevor es überhaupt entsteht. Dazu überprüft man die Ferse nach der Wäsche auf dünn gewordene Fäden und zieht dann mit einem feinen, am besten nicht wollenen Faden eine Verstärkung ein, indem man dem Lauf der Maschen in sauberen Serpentinen folgt. Ist es dazu zu spät, muss als erstes der Rand des Lochs gesäumt werden, also alle offen stehenden Maschen von einem Faden umschlungen und so fixiert werden. Dann webt man aus sich kreuzenden Fäden ein kleines Stück Textil in den gestrickten Stoff. Das ist kritisch, weil die gestopfte Stelle nicht elastisch ist und leicht neue Löcher entstehen können. Aber bitte, jeder soll seine Erfahrungen selbst machen.

Ich denke an Kauf der Strumpfhose. „Gut. 22 Euro. Haben Sie die auch in grau?“

„Nein, in grau haben wir sie nicht.“

„Ist das hier schwarz oder dunkelblau?“

Wir treten ans Fenster und lassen das Tageslicht entscheiden: „Das ist dunkelblau“, gibt sie zu, „aber ganz tief dunkelblau“.

Ich bin eine mäkelige Kundin, wenn es darum geht, 22 Euro in eine Strumpfhose zu investieren. „Aber wenn man schwarz dazu trägt, dann sieht man’s eben doch.“

Die Fachverkäuferin ist so geschmeidig wie ihre Strumpfhosen. „Schwarz hätten Se sie lieber… Warten Se mal, in Dunkelgrau könnte ich Ihnen sonst so was anbieten. Das ist dann ne reine Baumwolle.“

„Die ist aber 40-42.“

„Diese hier können Sie in 40-42 nehmen, die zieht sich anders.“

„Aber die mit der Schurwolle würde mir besser gefallen.“

Sie sucht weiter. „Käme braun auch infrage?“

„Nein, braun auf keinen Fall.“

Es gibt keine andere Farbe. Sie lenkt meine Aufmerksamkeit auf andere Produkteigenschaften. „Hier, das ist ja wieder ne andere Art. Auch reine Baumwolle, die dehnt sich gut. Und die hält auch schön warm. Ich trag sie auch immer.“

„Die Farbe hier gefällt mir gut, diese melierte. Aber könnte der Fuß nicht zu klein sein? Ich habe Schuhgröße 39-40. Steht da irgendwo ne Schuhgröße?“

„Nein, da steht keine Schuhgröße, das ist auf Konfektionsgröße gearbeitet, aber das passt sich an.“ Ihr kommen Zweifel. Vielleicht ist der Wellenschlag doch mein kleineres Problem. „Denn haben wir hier noch die mit dem Zopfmuster in 42-44.“

„Nee, das wäre mir denn doch zu dick.“

Aha. Zu dick. „Was haben wir hier noch? 40-42 in schwarz. Das ist auch Baumwolle – 70 Prozent und 30 Prozent Polyamid. Die gehen auch in die Breite, die passen sich an. Die kostet 9,50“.

Kostet nur halb so viel, aber Polyamid? „Ich glaub, ich müsste die doch anprobieren, schon wegen der Fußgröße.“

„Ja natürlich, ist doch in Ordnung. Da müssten Sie bitte einen kleinen Moment warten, bis die Dame rauskommt.“

Durch die geöffnete Tür höre ich Thomas leise fluchen. Ich fühle mich nicht angesprochen, bis er seine Stimme hebt: „Kann ich dich mal was fragen?“ Aha. Na gut. „Nur zu“, sage ich in künstlicher Munterkeit. „Du hattest doch immer so einen Fadeneinfädler. Kannst du mir sagen, wo der ist? Ich meine, ich hab auch einen, aber dann muss ich nicht extra rübergehen.“

Ich habe tatsächlich einen Fadeneinfädler. Das ist ein Daumennagel-großes Blechplättchen, auf dem ein zu einer Schlinge gebogenes haarfeines Drähtchen festgelötet ist. Das Drähtchen ist elastisch und zu einer eleganten länglichen Raute auseinandergebogen. Die Spitze der Raute kann man durch ein Nadelöhr führen, die beiden seitlichen Ecken klappen sich ohne Widerstand ein, folgen durch das Öhr und entfalten sich auf der anderen Seite wieder. Durch diese Drahtschlinge lassen sich selbst wulstig-dicke Fäden ziehen und mit der zurückgezogenen Schlinge durch das Öhr zerren. Aber Vorsicht: Der Faden ist jetzt doppelt, und noch dazu von den beiden Seiten der Drahtschlinge begleitet. Es wird eng in der Öffnung.

Ich gebe Thomas den Einfädler, zögere kurz, sage dann aber doch: „Sei vorsichtig, ich hab nur noch den einen. Die Drähte reißen leicht ab;“ „Weiß ich“, sagt Thomas, „ist nicht das erste mal, dass ich damit arbeite“. Ich gehe zurück zu meiner Gorgonzolasoße. Es wird empfohlen, sie mit etwas Kartoffelstärke anzudicken, damit sie besser an den Nudeln hängen bleibt. „Ich durchsuche den Schrank. „Irgendwo hatte ich doch noch Mondamin“. „Soll ich mal bei mir gucken?“ Thomas steht in der Tür. „Ich geh mal kurz rüber“. Sind die Socken schon fertig? Oder warum hat er so viel Aufmerksamkeit für meine Soße übrig?

Hinter dem Vorhang regt sich was. Der Büstenhalter wird herausgereicht. Die Kundin möchte was in weiß, etwas größer, sonst die gleiche Form. Die Fachverkäuferin sucht, macht andere Vorschläge, reicht zwei Modelle durch den Vorhangschlitz.

Ich stehe, die beiden infrage kommenden Strumpfhosen in der Hand, am Verkaufstisch, neben dem ein Ständer mit Herrensocken aufgebaut ist. Thomas wollte doch… er hatte doch… Dicke Socken zum Geburtstag, oder ist das geschmacklos? Hält er vielleicht für eine Anspielung? Ich fächere die 45-er Größen auseinander. Die Fachverkäuferin hat jetzt wieder Zeit für mich.

„Herrensocken suchen Sie noch?“

Ja, aber spezielle. „So ganz dicke Wollsocken für Herren, haben Sie die auch? In Größe 45?“

„Das hier vielleicht, 43 – 46, in dieser Art?“

„Nee, er suchte so richtig Dicke, wie solche Handgestrickten.“

Sie überfliegt die Lage. „Nee, da hab ich im Moment… die sind alle raus. So richtig Handgestrickte, da haben wir im Moment gar nichts. Alles raus.“ Sie greift ein Paar, das ich auch schon betrachtet hatte – zweifarbig, mit dick ausgearbeiteter Ferse, aber letztlich doch zu fein für schwere Feldschuhe. Sie nimmt meine Einwände auf, bevor ich sie ausgesprochen habe: „…wobei diese hier eigentlich noch wärmer halten als die Handgestrickten, weil die… na ja, die sind anders verarbeitet.“ Sie sieht mir an, dass ich nicht folge. „Aber die Handgestrickten, die kriegen Sie auch auf’m Markt oder irgendwo.“

„Ja ja, aber die halten nicht so gut. Die Ferse, das ist immer der Schwachpunkt.“

Jetzt wird die Fachverkäuferin grundsätzlich und die Distinguiertheit fällt von ihr ab. „Tja. Wer hier einkaufen kommt, der kooft sowat nich bei mir. Und die, die se sich holen, vergessen, dass se die Billigsten jekooft haben. Und denn kommense ooch noch mäkeln. Und deshalb hab ick se ja nich mehr rinjenommen in’t Sortiment.“ – „Verstehe“

Nach ein paar Minuten stellt Thomas das Mondamin vor mich hin und sagt mit betonter Beiläufigkeit: „Da muss ich dir wohl einen neuen Einfädler kaufen. Meiner ist jedenfalls weg. Sonst hätte ich dir den als Ersatz gegeben.“ „Ach, ist er kaputt gegangen?“ frage ich, um Zeit zu gewinnen. Eine unappetitliche Mischung von Schwermut und Triumphgefühl breitet sich in mir aus. Es fühlt sich an wie Empörung, ist aber wohl nur der Botenstoff, der die nächste Runde im Beziehungskampf ansagt: ‚Warum, warum, warum will er nie auf mich hören?’ Auch die Gegenseite macht sich zur Vorwärts-, Rückwärts- und Seitwärtsverteidigung bereit: ‚Sie hat die ganze Zeit schon drauf gewartet, dass mir das passiert. Jetzt bin ich wieder der Trottel’. Eine genau so überflüssige wie unausweichliche Auseinandersetzung wartet, ausgefochten zu werden. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Ausreden, Unterstellungen liegen griffbereit. Wir werden uns in immer tiefer grabender Grundsätzlichkeit gegenseitig zur Rede stellen. Der zerrissene Einfädler hinterlässt eine Laufmasche in der Beziehung. Vergangene Konflikte, durch wohlwollende Uminterpretationen mühsam beigelegt, brechen auf. Vertrauensvorschüsse werden zurückgezogen, alte Verfehlungen wie Schuldscheine auf den Tisch geworfen. Was kommt dabei heraus? Wir werden irgendwann erschöpft gegeneinander sacken. Er ist so wie er ist – ich bin so wie ich bin. Wir können uns manchmal schwer ertragen, aber ohne dass wir ahnen, wie, hält uns das Beziehungsgestrick.

Die Mütterlichkeit der Fachverkäuferin kehrt zurück. „Ist nicht bös’ jemeint. Aber hier ist zum Beispiel: die Ferse richtig einjearbeitet. Det sitzt, und… Wir verkaufen seit 17 Jahren Strümpfe, wir gehen zweimal im Jahr zur Schulung. Also wissen wir, von wat wir sprechen.“

Ich schweige betroffen, probiere meine Strumpfhosen, als die Dame die Kabine freigegeben hat, kaufe zwei andere, die mir durch den Vorhang nachgereicht wurden. Die braune kam dann doch infrage.

Die Auseinandersetzung findet nicht statt. Ich schicke den Botenstoff ohne Antwort zurück, sage stattdessen: „Weißt du was? Wir reden nie wieder über den Einfädler. Du besorgst einen neuen, legst ihn an seinen Platz zurück, sagst nichts dazu, fragst nichts dazu. Wir vergessen es einfach.“ Auch Thomas widersteht dem Versuch, meine Ansage auf heimtückische Sub-Botschaften zu untersuchen. „Ist ok. So machen wir’s“.

Wir treffen uns am Auto wieder. Thomas hat schon gewartet. Seine Erledigung war kurz und zielgerichtet. Zuhause probiere ich die braune Strumpfhose; Thomas wirft im Vorbeigehen einen Blick darauf. Er verschwindet im Nebenzimmer. Ich höre, wie die Schublade vom Nähtisch aufgezogen wird und eine Dose klappert.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2008/01/10/dicke-socken/

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kommentare

  • War das auch als Geburtstagsgeschenk geschrieben?, macht mir jedenfalls Spaß das zu lesen. Schön! alle hab ich bisher nicht geschafft, aber es gibt ja das Archiv u. auf diesem Wege auch viele Grüße T. seh’ ich ja am Sonntag, bis dann, Franz

  • liebe imma,
    der von dir entfaltete, aufgetrennte und zusammengestrickte und gestopfte beziehungsstrick ist eine für mich ganz neue perspektive, über die ich kichern konnte! viel spass beim weiterhäkeln und liebe grüße an dich und thomas von deiner lena

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