vonImma Luise Harms 08.02.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Kinostühle.jpg Unter den Kinostühlen suche ich meine Wollmütze, die dunkelrote, grob gestrickte mit den praktischen drei Ecken: eine für jedes Ohr und eine für die Stirn. M. hat sie mir nach einem Patentschnitt angefertigt, der bei den strickenden Frauen in Reichenow gerade die Runde macht.

Als ich zur Anprobe kam, haben wir über Bücher und Filme geredet. M. interessiert sich für Kino, steht aber vielem ratlos gegenüber. Sie wird dann rebellisch und fragt „Was soll das?“ Einschüchtern lässt sie sich nicht mehr – geschiedener Mann im Oderbruch, drei erwachsene Söhne, hin und hergeschickt zwischen Arbeitsamt und Ein-Euro-Jobs. Sie entscheidet jetzt selbst, womit sie sich beschäftigen will.

M. informiert sich und bildet sich und schreckt vor nichts zurück. Sie interessiert sich auch für aparte Theorien, z.B. ist sie zu der Überzeugung gekommen, dass alle Materie Information in sich gespeichert hat. Es sei erwiesen, dass Wasser ein Gedächtnis hat. So abwegig finde ich das nicht. Dass der Eindruck der Außenwelt auf unsere Haut elektrische Impulse durch den Körper schickt, dass die ihre Spuren als chemische Zustände in den Gehirnzellen hinterlassen und damit Abbilder des Außen schaffen, wundert uns ja auch nicht. Ereignisse produzieren Erinnerungen. Wo sich Erinnerungen sammeln und überkreuzen, entsteht ein Gedächtnis, ob sich das nun dessen bewusst ist oder nicht.

Vielleicht wären die rotsamtenen Klappsessel längst aus dem Kino rausgelaufen, wenn sie die Intelligenz hätten, Schlüsse aus all den Botschaften zu ziehen, mit denen sie wochenlang beschallt worden sind, und wenn sie die Kraft hätten, sich aus ihrer Verankerung zu reißen, durch die Tür zu drängen, raus aus der gepolsterten Nische des Arsenals, in die metallisch ausgeschlagene Lichthalle des Sony-Gebäudes, in die gläsernen Fahrstühle, den Bus Linie 374 besteigen oder in die S-Bahn stolpern, um in die Welt zu kommen, wo das alles passiert ist, was sie gesehen und gehört haben, daran teilzunehmen, ihr Glück zu versuchen, zu helfen, zu trösten, das alles zu ändern.

Die Leinwand, auf die Milliarden und Abermilliarden Lichtimpulse voller Informationen aus allen Ländern und Lebenslagen aufgetroffen sind und ihre Anliegen der weißen Folienschicht eingeschrieben haben – sie wäre müde und brüchig geworden; sie wüsste nicht mehr ein noch aus, verlöre den Halt an den Rändern, rollte sich zusammen und müsste jetzt erstmal nachdenken.

Aber nichts passiert. Im Arsenal-Kino wird gestaubsaugt und die Reinigungskräfte ahnen nicht, dass auch der Staub, den sie da einsammeln, jetzt voller Wissen über die Welt steckt. Becher mit Kaffeepfützen und liegen gebliebene Mützen werden unter den Sitzen weggeräumt, die Tonanlage, die bei den letzten Vorstellungen gebrummt hat, wird getestet, die Projektionsmaschinen noch einmal neu eingerichtet für die kommenden Tage des Festivals.

Im Kellerkino des Cinemaxx ist es nicht anders. Die behäbigen Fauteuils sind beschallt, aber unberührt. Sie haben Verzweiflung und Vergnügen der Queer-Communities aus aller Herren Länder über sich ergehen lassen und sind bereit, es in den nächsten Wochen noch einmal zu tun. Die dicken Sessel saugen die Bilderfluten und die Tonströme in sich auf, ohne aus der Fassung zu geraten. Sie äußern sich nicht. Sie knarzen höchstens mal unter dem Gewicht der Filmexperten, die unruhig darin hin- und herrutschen, die Beine überschlagen, nach ihrem Kugelschreiber mit Beleuchtung kramen, ihr Handy herausholen, um eine SMS zu versenden, sich zu ihrem Nachbarn hinüberlehnen, um eine Bemerkung zu machen.

Menschen müssen Bemerkungen machen. „Wenn man sich solche Filme angucken muss, sollte man eigentlich doppeltes Gehalt kriegen“, sagt der Redakteur einer Rundfunkanstalt zu seinem Kollegen aus dem schreibenden Milieu, als er nach dem mexikanischen Science Fiktion während der kurzen Pause vor die Tür tritt. Der aus dem schreibenden Milieu nippt an seinem Kaffeebecher und macht: He-he.

Ich wäre schon mit einfachem Gehalt zufrieden. Aber an meiner Meinung zu den Filmen aus Panorama und Forum, die hier in der Pressevorschau durchlaufen, ist niemand interessiert, jedenfalls niemand, der bereit wäre, Geld dafür auszugeben. Also was mache ich hier?

Ich will wissen, was gespielt wird. Filme sind Abdrücke des Wirklichen. Wenn ich viele sehe, kann ich vielleicht Muster erkennen und Zusammenhänge entschlüsseln. Als Medienschaffende ohne ausgewiesene Meinungsrelevanz, ohne Bezug zu einschlägigen Redaktionen habe ich keine Chance auf eine Berlinale-Akkreditierung. Ich habe aber auch kein Geld für Karten und kein Vergnügen daran, für sie anzustehen. Also sehe ich mir im Januar die Pressevorschauen an.

Journalisten sind mächtig. Deshalb können sie es sich leisten, kapriziös zu sein. Sie zum Vorzeigen ihres Presseausweises zu nötigen, stört die Atmosphäre der heiter-gelassenen Beiläufigkeit von PR-Veranstaltungen. Deshalb ist man auf der sicheren Seite, wenn man sich unter Journalisten mischen kann.

Tatsächlich hatte ich mich von den drohenden Ankündigungen in den Emails, dass diesmal wirklich nur Journalisten zugelassen sind, einschüchtern lassen und meinen Ausweis extra verlängert. Zur ersten Vorführung kam ich zu spät. Die strenge Dame mit dem langen, zur Seite gekämmten Haar stand schon vor der geschlossenen Kinotür. Ich hielt ihr meinen Presseausweis hin, den sie erstaunt entgegennahm und misstrauisch betrachtete. Natürlich hatten sich alle über die angekündigte Maßnahme hinweggesetzt.

In den nächsten drei Wochen brauchte ich den Presseausweis nur noch einmal, nämlich als der Film von Madonna gezeigt wurde. Die Möglichkeit, die Arbeit des Stars zu begutachten und so schon vor allen anderen eine Meinung dazu verbreiten zu können, hatte viele mobilisiert, die Wind von der Aufführung bekommen hatten. Im Kellerflur vor dem Cinemaxx 2 ballte sich eine dichte Menschentraube, die die strenge Dame mit einem Blick auf den Presseausweis in Befugte und weniger Befugte zu unterteilen versuchte. Vor Beginn der Vorstellung entschuldigte sie sich für die Maßnahme, nicht ohne einen vorwurfsvollen Unterton, dass der Missbrauch der Presseeinladungen solche ungemütlichen Kontrollen notwendig mache. Ich fühlte mich nicht gemeint.

Am Ausgang traf ich S., einen Mitarbeiter aus den Eingeweiden des Berlinale-Unternehmens. „Dieser Madonna-Hype, schrecklich!“ seufzt er mit einem Augenaufschlag in Richtung der hohen Glasfassade in der Eingangshalle. „Na, davon lebt doch die Berlinale, dass sie Starrummel produziert“, gebe ich zurück. Nun fühlt er sich angesprochen. „Aber so weit hab ich mich ja nun doch noch nicht mit dem Laden identifiziert, dass ich das gut finden muss“, zickt er die Plakatwand hinter mir an. „Nein, natürlich nicht. Nur so weit, wie es nötig ist, dass du deinen Job machen kannst“, punkte ich heimtückisch gegen ihn und überspiele dabei, dass ich weiß, dass er weiß, dass ich mich in seinem Laden vergeblich um einen Job bemüht habe.

Drei Wochen laufen die Bilder, die Ansichten und Schicksale durch mich hindurch. Von der virtuellen Welt auf der erleuchteten Leinwand werde ich in den dunklen Kinosaal entlassen. Ich bewege mich aus dem Keller des Cinemaxx über das kurze Stück Strasse hinüber zum Arsenal im Keller des Sony-Gebäudes und zurück. Draußen begegnen mir fotografierende Touristen, Donuts verzehrende Menschen, die zum Shopping unterwegs sind, telefonierende Berufstätige. Alles kommt mir unwirklich vor. An den Laternenmasten werden goldglänzende Berlinale-Puschel angebracht. Die Stelltafeln auf der Straßenmitte enthalten in diesem Jahr rollbare Berlinaleplakate. Wahrscheinlich hat man ermittelt, dass die Aufmerksamkeit bei beweglichen Werbeträgern um 43% erhöht ist, hat die Kosten für die Montage der Kästen dagegengerechnet und sich für diese Innovation entschieden. Noch wahrscheinlicher ist, dass das Ganze längst outgesourct ist.

In der Shopping Mall hole ich mir schnell ein Brötchen. Die Menschenströme am Ausgang werden von zwei Männern mit Pelzmützen durchkämmt. Es sind Iraner, die um Unterstützung für den Kampf gegen das Unterdrückungsregime in ihrer Heimat werben. Aufgeweicht durch die Filmschicksale, die noch in mir schwingen, überlasse ich mich dem kleineren von ihnen. Er ist ein älterer Herr mit ergrautem, sauber ausrasiertem Schnurrbart und einer dicken, dunkel umrandeten Brille, durch die er seinen Blick auf mich heftet. Er präsentiert mir eine geöffnete Mappe.

In den Klarsichtfolien sind Fotokopien von Ausweisen, Zeitungsausschnitte, Bilder von gefolterten und getöteten Menschen, Familienaufnahmen. Er blättert und zeigt mir Bilder seiner getöteten Frau, von seinem inhaftierten Sohn, macht mich auf die Statistiken von Steinigungen aufmerksam und erzählt, dass er nicht in seine Heimat zurück kann. Ich nicke ergriffen. Er blättert weiter; in den hinteren Hüllen sind Zahlscheine. Ich hatte mit Unterschriftenlisten gerechnet und sage: „Ich bin leider völlig mittellos.“ Er schaut mich an. Seine Freundlichkeit ist ins Stocken gekommen. Ich will gerne etwas beitragen. „Ich komme gerade aus einem iranischen Film. Da wird das Frauenleben im Iran ganz anders dargestellt, ganz frei und selbstbewusst. Der Film wird in der nächsten Woche auf der Berlinale laufen. Vielleicht wäre es Ihnen möglich, dort hinzugehen und auf Ihre Erfahrungen aufmerksam zu machen?“ Er hält noch immer die Folie mit den Zahlscheinen zwischen den Fingern. „Auch kleine Beträge helfen uns, den Widerstand fortzusetzen“. Ich berühre ihn am Arm und wende mich zum Gehen. „Ich unterstütze Ihr Anliegen von ganzem Herzen, aber ich kann leider nichts zahlen.“ Er klappt seine Mappe zu und wendet sich mit versteinertem Gesicht ab.

Die Begegnung bedrückt mich. Ist der Mann ein Scharlatan, der Hilfsbereitschaft abschöpft und damit austrocknet? Das wäre schlimm. Oder ist er ein verzweifelter Mann und ich habe ihm nicht geholfen? Das wäre noch schlimmer. Im Weitergehen kaue ich mein Brötchen und schlucke auch die Schuldgefühle mit hinunter.

Die Termine überschneiden sich und ich will möglichst wenig verpassen. Im Cinemaxx gibt es Kaffee; die Journalisten sind es gewohnt, dass immer Kaffee für sie bereit steht. Man muss sich in Anwesenheitslisten eintragen, und zwar für jeden Film aufs Neue. Darauf bestehen die Betreuerinnen kategorisch. Die gesammelten Email-Adressen der Journalisten sind die kleine Gegengabe für die Verleihfirmen, die ihre Sichtungskopien zur Verfügung stellen.

Auch im Arsenal werden die Adressen gesammelt. Hier gibt es nicht nur Kaffee sondern auch verschiedene Sorten Tee – und eine Schale mit Keksen. Die Betreuerinnen sind damit beschäftigt, sie in kleinen Mengen nachzulegen. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass die Journalisten sich händevoll davon einstecken, wenn ihre Gier, etwas umsonst zu kriegen, nicht durch künstliche Verknappung gezügelt wird.

Die Mitarbeiterinnen kennen viele der MedienvertreterInnen und zeigen das in kleinen Gesprächsangeboten. Auch mir wird inzwischen freundlich zugenickt. Ich nicke zurück und gehe schnell weiter, weil ich nicht möchte, dass meine vollständige Irrelevanz aufgedeckt wird. Ich ziehe mich in den oberen Winkel des Kinosaals zurück und beobachte das Vorspiel: Wer kennt wen, wer sucht wessen Blicke. Nach wem sehen sich die anderen um. Ich selbst kenne eigentlich nur N., die ab und zu in den Vorstellungen auftaucht, mich immer wieder mit der gleichen freudigen Überraschung entdeckt, ein angeregtes, durch den Beginn des Films jäh unterbrochenes Gespräch mit mir anknüpft und meine Anwesenheit nach Schluss der Vorstellung komplett vergessen hat.

Welches Interesse aneinander ist echt und welches ist professionelle Attitüde? Ich kann es nicht unterscheiden. Zwei ältere Besucherinnen, wichtige Redakteurinnen anscheinend (ich halte hier alle sicher auftretenden, geschmackvoll und teuer gekleideten Damen für wichtige Redakteurinnen), führen ungeniert ein merkwürdig privates Gespräch. „XY hat ein Angebot nach London gekriegt“, erzählt die eine. „Ich glaube nicht, dass er geht. Seine Frau hat ja hier eine Professur“ vermutet die andere. „Heutzutage musst du den Ehefrauen auch eine Stelle anbieten, wenn du jemand für einen Spitzenjob kriegen willst“, schätzt die erste. Außerdem wäre der Mann nicht von seinem Segelboot zu trennen, und das läge hier vor Anker. Die zweite erzählt, dass sie mit ihrem Ehemann auch immer gesegelt ist, dreißig Jahre lang, obwohl sie dazu überhaupt keine Lust hatte. Und nun hat er sich zu seiner Geliebten abgesetzt. „Jetzt muss die mit“, sagt sie schadenfroh. Hat sich also nicht gelohnt, die Investition, denkt die unfreiwillige, aber nicht uniteressierte Zeugin hinter ihnen.

Die Sitzreihe vorm Mittelgang ist immer besonders dicht besetzt, wegen der Beinfreiheit. Ein dunkelhaariger junger Mann, dessen bleiche Hängebacken schlecht zu seiner schlanken Größe passen, zieht sich stehend seine Lederjacke aus und redet dabei mit erhobener Stimme auf die vor ihm Sitzenden ein. So redet man, wenn man möchte, dass auch diejenigen davon erfahren, die direkt anzusprechen man keinen Anlass schaffen konnte. Beim Tänzeln stößt er auf dem Boden die Kaffeetasse einer Frau um, die schräg vor ihm sitzt. Sie war mir schon aufgefallen, weil ihre Kleidung eher in eine Vernissage passen würde – quittegelbe Hose und Jacke, lange Schaftstiefel, über den feinen asiatischen Gesichtszügen ein blauer Hut, auf dem ein Dali nachempfundenes aufgeweichtes Uhrziffernblatt über die Krempe herab zu fließen scheint.

Den Hut legt sie auch im Kino nicht ab, aber die gelbe Jacke. Die hat sie auf den Sitz neben sich gelegt. Der Bleiche entschuldigt sich, entschuldigt sich noch mal und fährt dann in seinem Gespräch fort. Die Dali-Dame gibt Zeichen des Unmuts von sich, die aber nicht weiter beachtet werden. Sie holt sich einen neuen Kaffee und setzt sich auf ihren Platz zurück. Nun möchte auch der Bleiche sitzen und bittet die Dali-Dame, ihre Jacke wegzuräumen. Das ist ihr zu viel, das ist ihr zu eng. Nach dem Kaffee-Mißgeschick sollte er so viel Anstand besitzen, sich woanders einen Platz zu suchen. Das sieht er aber nicht ein. „Wieso können Sie Ihre Jacke nicht wegnehmen?“ „Man muss doch nicht so aufeinander hocken! Hier ist doch überall Platz“, versucht sie noch einmal, hat aber ihre Jacke schon in den Arm genommen. Der Bleiche setzt sich ungeniert und schmeißt seine Lederjacke auf den freien Sitz auf der anderen Seite.

Vielleicht will er sich behaupten, vielleicht will er sie beeindrucken, vielleicht provoziert ihn ihr Paradiesvogel-hafter Anspruch auf Aufmerksamkeit. Die Dali-Dame nimmt ihre Jacke, ihre Handtasche und sucht sich schimpfend einen Platz in der Außenkurve. Von dort giftet sie weiter und versucht gleichzeitig, ihre Contenance zurück zu gewinnen: „Sie sind unverschämt und anmaßend“, stellt sie mit lauter Stimme fest. Da geben ihr einige im Raum wohl innerlich recht, aber sie wirkt auch nicht gerade schutzbedürftig.

Ich kann dem Wortwechsel schlecht folgen, weil ich die Indiskretionen in der Reihe vor mir auch interessant finde. Die beiden Bekannten halten jetzt innen, um den Skandal weiter unten nicht zu verpassen. Die Gelbe kreischt: „Was haben Sie gesagt?! Was haben Sie gesagt?!“ – Der Bleichgesichtige hatte sich mit lauter Stimme an seinen Bekanntenkreis gewandt und weitergepöbelt. Jetzt ruft er höhnisch zurück: „Ich hab doch gar nicht mit Ihnen gesprochen. Warum fühlen Sie sich immer angesprochen?“ Der Filmbeginn macht der Vorstellung ein Ende.

Noch ein Film. Handlung häuft sich auf Handlung. Ein Mann sucht nach langem Knastaufenthalt neuen Zugang zu seiner Familie – Eine Frau irrt mit ihren Küchenmessern durch die Gegend – Ein Kind kann sich nicht wehren und wird einsam in seiner Familie – Ein anderes Kind ertrotzt sich eine Chance, die ihm nicht zugedacht ist – Eine Frau sucht ihre Tochter und verliert dabei ihre Mutter – Ein Mann spielt Theater, um über Aids aufzuklären. Ein Saal voller Kindergesichter sieht ihn an. Der Saal voller Kritikergesichter sieht in die Kindergesichter. Alle, die vorhin noch um sich und ihre Bedeutung gekreiselt sind, sind jetzt entrückt und berührt.

Die Emotionen, mit denen die Zuschauer gekommen sind, laden den Film auf und kehren, in Geschichten weich gebettet, aus ihm zurück. Die erdachten und erfahrenen Schicksale aus der Welt senken sich ins Bewusstsein und verwandeln die bedrohlichen inneren Zustände in umfriedete Empfindungen: Angst in Mitleid, Gekränktheit in Empörung, Rachebedürfnis in Genugtuung. Man tritt der Wirklichkeit gestärkt gegenüber – mit Aufmerksamkeit, mit Interesse, mit der Bereitschaft zum Handeln.

Für Menschen, die in Medien arbeiten, heißt Handeln Öffentlichkeit herstellen. Die Kritiker machen sich Notizen, sie tauschen ihre Ansichten aus. Sie nehmen sich vor, auf diesen Film aufmerksam zu machen, haben schon eine Idee für den Einstieg in den Text und legen sich eine Schlusspointe zurecht. Sie werden die Bedeutung ihres eigenen Textes vergrößern, indem sie dem besprochenen Film eine große öffentliche Aufmerksamkeit attestieren. Andere werden den Text lesen und den Film ansehen, weil sie bedeutende Ereignisse nicht versäumen und mitreden wollen. Sie ziehen weitere Kinobesucher nach sich. Die künstlichen Kartenengpässe für Berlinale-Filme sorgen zusätzlich für einen Sturm auf bemerkenswerte Filme, die gesehen und beredet werden. So entsteht ein Strudel von Informiertheit, der während der Berlinale heftig kreiselt und dann folgenlos in sich zusammenfällt.

Die letzte Vorstellung war im Cinemaxx. Ich gehe noch einmal zur Arsenal hinüber. Die Kinoräume dort sind schon geschlossen, die Betreuerinnen nach hause gegangen. Arsenal-Mitarbeiter bauen in der Halle Installationen für das Forum expanded auf. Einer von ihnen findet meine Mütze im Magazin in einer Kiste für Fundsachen. Ich ziehe sie über, als ich auf die Strasse trete und mich auf den Weg zur S-Bahn mache. Die Mütze ist doch ein bisschen eng, finde ich. Nachdem M. sich schon die Mühe gemacht hat, sie mir zu stricken, will ich sie auch tragen. Vielleicht kann man da noch was machen.

Als in Berlin der Bär sich breitzumachen beginnt, mache ich in Reichenow M. einen Besuch, erzähle von den Filmen, die ich gesehen habe und frage, ob man die unteren Reihen der Mütze noch einmal auftrennen und ein bisschen erweitern kann. Kann man. Wir kommen wieder auf die Sache mit dem Wasser. In den Dipolen der Wassermoleküle hat sich die erlebte Geschichte des Wassers als Information eingeschrieben. „Was macht das Wasser eigentlich mit seinem Wissen?“ frage ich M. „Ich glaube, das ist dort nur gespeichert, und vielleicht kann es irgendwann jemand mal entziffern“, überlegt sie. „Und was machen die dann mit dem Wissen?“ „Wer weiß, wozu das gut ist“, meint M., und ich nicke.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2008/02/08/wissen-wozu-das-gut-ist-berlinale-preview/

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kommentare

  • Liebe Imma,

    dieser Wasser-Gedächtnisfrage bin ich vorletzten Sommer monatelang nachgepirscht, als ich endlich mal nachvollziehen wollte, wie Homöopathie funktioniert, (aufgrund eines plötzlichen eingetretenen Bedürfnisses nach Verständnis, nachdem es mir jahrelang gereicht hatte, DASS sie funktioniert).

    Wenn du mehr dazu wissen willst, guck doch mal in Wikipedia oder über google nach Viktor Schauberger,Johann Grander und Masaru Emoto, außerdem Stichwort: Wasserbelebung und – da wirds klassisch wissenschaftlich – Wassercluster.

    Gelernt habe ich, dass sich die Geister scheiden und die Wissenschaft feststellt, dass Homöopatie eigentlich nicht funktionieren kann, jedenfalls nicht nach den uns bekannten Denkmodellen. Ich bin mir nicht sicher, ob das an der Homöopathie liegt oder an den Erkenntnismodellen, tendiere aber zu letzterem. In Österreich ist jedenfalls diese Wasserbelebung ein anerkanntes und verbreitetes Verfahren.

    Lieben Gruß

    Coni

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