vonImma Luise Harms 21.04.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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I. Als Thomas vor einigen Jahren seine Paradontose-geschwächten Zähne dem Zahnarzt seines Vertrauens vorstellte, fragte der ihn nach seiner Lebensperspektive. Thomas verstand erst nicht, dann war er entrüstet. Was soll man denn sagen: Ich will noch dreißig Jahre leben, davon noch zwanzig Jahre kauen können?! Aber genau so ist die Frage gemeint: Wie lange sollen die Zähne noch halten? Danach bestimmt sich, wie viel in sie investiert werden muss.

Thomas wird nichts investieren, weil er nichts zum Investieren hat. Wir haben uns entschieden, ein Leben in selbstbestimmter Armut zu führen; und die ärztliche Kunst ist kostspielig. Wir sind beide in einer Zeit groß geworden, in der das Zähneputzen vor allem dem schlechten Atem vorbeugen sollte. Es wurde daher auch nur morgens kontrolliert. Bis die verheerenden Folgen dieses Aufklärungsmangels wirklich durchschaut und schlechte Gewohnheiten dauerhaft korrigiert sind, ist das Zahnfleisch bereits auf irreversiblem Rückzug.

Meine Zähne sind noch viel schlimmer dran als seine. Ich will nicht von Details reden. Jedenfalls stellte sich mir die Frage nach der Perspektive schon einige Jahre zuvor. Ein barmherziger Bruder bewahrte mich vor dem frühen Gebiss. Er spendierte mir Zahnimplantate für den Oberkiefer, die ich mir aus Kostenersparnis-Gründen von einem mir empfohlenen Zahnarzt in Ungarn machen ließ. Jahrelange Reisen nach Wien folgten, und von dort der kleine Zahn-Grenzverkehr in die ungarische Spezialistenstadt Sopron.

Die Nachbetreuung übernahm mein Berliner Zahnarzt, ein Neuköllner Krauter, der in seiner bescheidenen, zwischen einem Im- und Exportladen und einem Billardsalon gelegenen Praxis einer konventionellen, aber gewissenhaften Tätigkeit nachging. Implantologie war damals noch nicht sehr verbreitet und der Neuköllner Arzt hatte selbst keine Ambitionen. Er stocherte zugleich neugierig und misstrauisch in meinem Mund und folgte als Assistent an der verlängerten Zahn-Werkbank den Spuren des ungarischen Spezialisten: „Wie will er das denn befestigen? – Ach, so hat er das gemacht…“

Die zahnärztliche Nachbetreuung muss vor der Krankenkasse geheim gehalten werden, weil die eigentlich keinerlei Kosten übernimmt, die mit Implantaten zusammenhängen. Wir waren also Komplizen. Umso schlimmer für mich, als der Neuköllner über Nacht heimlich verschwunden war, zurückgegangen ins Schwabenland. Heimlich nicht deshalb, weil er sich mit erschwindelten Krankenkassengebühren aus dem Staub machen wollte, sondern weil die Überrumpelung der Patienten Teil des Praxisübernahme-Plans ist. Die Ärzte verkaufen nämlich mit ihrer Praxis auch den Patientenstamm an den nachfolgenden Arzt. Und wenn die Patienten vorgewarnt sind und sich rechtzeitig einen anderen Arzt wählen können, fallen sie dem Praxisübernehmer nicht mehr in den Schoß.

Nachdem ein weiterer Zahn wankte, geriet ich also einem jungen sonnengebräunten Ehrgeizling in die Hände, der selbst Implantat-Geschäfte machen wollte. Er fand in meinem Mund auf den sanddünen-gleichen Kiefernrestbeständen noch Möglichkeiten zur Befestigung von Zähnen, die bisher übersehen, gar nicht so teuer und auch an der Krankenkasse vorbeizuschmuggeln seien. Die mit übernommenen Sprechstundenhilfen verdrehten hinter seinem Rücken ihre Augen, und auch mir kam das verdächtig vor. Ich gab die Praxis auf und hörte mich nach einem anderen verständnisvollen Berliner Zahnarzt für die Nachbetreuung der nun wieder fälligen Ungarnreisen um.

II. Die nach dem Mauerfall rekonstruierte Geschäftswelt rund um die Friedrichstraße wird an der südlichen Seite von einer Phalanx postmodern überzuckerter Gebäudeblocks begrenzt, die gern „Quartier“ genannt werden. Sie enthalten verschiedene Institutionen, die für administrative oder kommunikative Geschäftsbereiche stehen, tatsächlich sich aber alle der knallharten Kapitalvermehrung verschrieben haben. Allerdings gab es zeitweise doch weniger erfolgreiche Kapitalvermehrer als von den Bauherren vorausgesehen, also findet sich zwischen den Kommanditgesellschaften immer mal wieder ein Imbiss oder eine chemische Reinigung, die mit günstigem, aber kurzfristigem Mietvertrag die Räume bis zur nächsten Hochkonjunktur warmhalten dürfen.

Das Gebäude, das ich betrete, hat ausladende Ecken, die wie die Eckzähne des Gebäude-Karrees weit in die Straßenkreuzung ragen. Im Innern weitet sich der reißende Zahn zu einem großen elliptisch geformten Hohlkörper, der eine für alle Zwecke repräsentative Eingangshalle bildet. Ein riesiges, ebenfalls postmodern gehaltenes Gemälde leitet den Blick bis in die Kuppel des kathedralenhaft hohen Raumes. Ein geschwungener, aus edlem Holz und schimmerndem Metall gearbeiteter Eingangscounter ist leer. Er sieht nicht so aus, als würde er jemals benutzt. Auch irgendeine Art von Möblierung oder andere Hinweise auf den Zweck des leeren Raums fehlen vollständig. Das wird alles geheizt, denke ich erstaunt und nehme die Treppe, die sich in konsequent postmodernen Bögen um den elliptisch geformten Fahrstuhlschacht windet.

Im ersten Geschoß sind eine Hausverwaltung und eine Praxis für Innere Medizin. Im zweiten Geschoß war eine Immobiliengesellschaft, die offenbar aufgegeben hat. Die Glastür gibt den Blick auf lichtübergossene leere Teppichböden frei. Nebenan die ist Zahnarztpraxis.

H.D. ist die eine Hälfte des ehemaligen Kreuzberger Zahnarzt-Kollektives, dessen im muffigen Kreuzberg gebliebene andere Hälfte Thomas mit der Frage nach der Zahn-Perspektive schon einige Jahre zuvor an die neuen Preise gewöhnen wollte.

Während ich auf das Klingelschild zusteuere, durchfliegen meine Gedanken die möglichen Konfliktfelder in der ehemaligen Szene-Praxis. Vielleicht ging es um die Voraussetzungen für professionelles Arbeiten, vielleicht um die Undankbarkeit der Szene-Patienten, die immer alles umsonst haben wollen, um die Gewinnung eines neuen Patientenkreises, der Geld hat und Geld gibt. Vielleicht ging es auch um Engstirnigkeit und Vorurteile. Ich jedenfalls will keine haben. Das kann ich doch gar nicht wissen, warum H.D. mit seiner Praxis hierher gezogen ist! Ich nehme mir vor, daraus keine Schlüsse zu ziehen.

Auch diese Etagenhälfte hat ein lichtdurchflutetes Entrée mit gepolstertem Wartebereich, Balkon zum Rauchen, mit den Zeitungen, die man hier erwarten darf: taz, FR, Spiegel, mit einem Maltisch für Kinder. Ich treffe eine alte Bekannte. Sie duzt sich mit dem Zahnarzt und seinen Mitarbeiterinnen. Das „du“ wurde mit dem alten Patientenstamm aus Kreuzberg hierher importiert.

Auch hier bekommt man ein Papierlätzchen um und wird im Stuhl versenkt, bevor der Arzt kommt. Ein Gespräch auf Augenhöhe ist nicht mehr möglich. Da sage ich doch lieber „Sie“. H.D. spricht schwäbischen Dialekt wie mein alter Neuköllner Zahnarzt, vielleicht ist es auch badisch. Er ist in meinem Alter, hat sehr kurze Haare rund um die haarfreien Flächen auf seinem Kopf und ständig einen leichten Anflug von Lächeln im fein geschnittenen Gesicht. Er schaut sich freundlich und besorgt in meinem Mundraum um; Spiegel und Enterhaken fahren in die Winkel, Hohlräume und Taschen und erkunden das zukünftige Arbeitsfeld. Ich warte, dass die Werkzeuge entfernt werden, damit ich mit einer längeren Erklärung ansetzen kann.

Kollektive fallen auseinander, so wie die Szene selbst. Aber grundlegende Prinzipien werden sich ja nicht spurlos auflösen. Ich erzähle also von dem ungarischen Kollegen, von meiner prekären Lage als auf dem Land lebende Aktivistin und einkommensschwache Dokumentaristin, erwähne meine früheren Karriereabschnitte, damit er doch auch ein bisschen Respekt vor mir hat, deute an, wen von seinen ehemaligen Szene-Patienten ich sonst noch kenne, und unterstelle ihm Verständnis und Hilfsbereitschaft. Erleichtert stelle ich fest, dass er ernst nickt, ein bisschen seufzt und sich dann entschließt, den Pflegefall zu übernehmen.

Es folgen Jahre der Zusammenarbeit. H.D. macht mit der Anpassung der ungarischen Implantate an meine Zahnlandschaft karge Krankenkassengeschäfte, und ich zahle den Rest in der Währung von Dankbarkeit. Demütig lasse ich seine Beschwerden über mich ergehen, dass die Kassen praktisch nichts mehr bezahlen, dass die Patienten den Wert einer gründlichen Untersuchung einfach nicht zu schätzen wissen. Was soll er denn machen? Es gibt gute Verfahren, die Zähne zu erhalten, aber sie kosten nun mal Geld. Zum Beispiel die regelmäßige Prophylaxe, die seine Praxis anbietet (!) – eine fachmännisch vorgenommene Zahnreinigung für 36 Euro. Oder die Laserstrahlbehandlung für die Tiefenreinigung an den Zahnhälsen (!) – Sonderangebot für mich 100 Euro für alle. Ich zeige größtes Verständnis, wehre für mich selbst aber lächelnd alles ab; H.D. weiß ja, in welcher Situation ich bin.

Rechts unten wird der nächste Zahn fällig. Aus einem Gelegenheitsjob habe ich 700 Euro für ein weiteres Implantat abgezweigt. H.D. will mir in Vorbereitung der Reise die drei kümmerlichen Zahnstrünke auf der gegenüberliegenden Seite, also unten links, gleich mitziehen, um das Feld für Implantate zu bereiten. Ich erschrecke; dafür reicht das Geld auf keinen Fall.

Es ist der ungarische Spezialist, der das einen schlechten Ratschlag findet und sich über den Berliner Kollegen wundert. Zwei, drei Jahre könnten die Zähne auf der linken Seite durchaus noch halten, das wäre doch eine Perspektive. Das finde ich auch und berichte es H.D. nach meiner Rückkehr. Er stochert und grummelt und macht mir dann das Angebot, die ganze Ecke für weitere 100 Euro zu sanieren. Diesmal nehme ich an. Mit Plastikmaterial werden Zahnlöcher neu gefüllt und Kauflächen neu ausgepolstert. Eine richtige Krone für sechs-unten-links käme nicht mehr in Frage, da würde die Krankenkasse nicht mitmachen: Lebenserwartung des Zahns viel zu kurz. Na gut, ich bin auch mit dem Plastiknachbau zufrieden.

H.D. gibt sich bei jedem Besuch große Mühe, dass die Kauflächen exakt ineinander greifen. Mit blauem Reibepapier werden immer wieder kleine störende Höcker entlarvt und abgeschmirgelt. Das macht mir manchmal Angst, weil die Zähne immer kürzer, die Kronen immer dünner werden, bei so viel Geschmirgele. Aber H.D. erklärt mir, dass durch die falsche oder falsch verteilte Belastung die Zahnwurzeln am meisten leiden und sich dann entzünden; und vor allem die Implantate mögen das gar nicht.

H.D. ist ein wahrer Zahn-Bildhauer, seine Aufbauten auf maroden Zahnwurzelresten, die mit kleinen Stiften in den Mundraum verlängert werden, sind Skulpturen von solider Statur. Ich putze jetzt auch wie der Teufel, habe ein ganzes Sortiment an Zahn- und Zahnzwischenraumbürsten. Die bereits aufgegebenen Zähne halten Jahr um Jahr. H.D. schüttelt den Kopf, wenn ich komme, und ich freue mich wie ein Schulkind, das trotz schlechtester Prognosen doch noch einmal versetzt worden ist. Aber die Sitzungen werden auch peinlicher, weil H.D. nicht müde wird, seine Sonderleistungen zu empfehlen, für die er mir natürlich einen guten Preis zu machen bereit ist.

III. Für meine Stadtbesuche ziehe ich was Ordentliches an: einen braunen Armani-Mantel, den ich in der reichen Stadt Frankfurt mal aus zweiter Hand gekauft habe, meine Arche-Wildlederstiefel, die mir schon seit vielen Jahren bei Bedarf das Gefühl von solider Eleganz verleihen; bei manchen Anlässen auch ein Jackett und heute sogar meine Perlenkette. Es sind besondere Perlen mit einem ganz leicht rosafarbenen Schimmer und Rubin-Verschluss. Tante Martha hat sie hinterlassen. Ich bewahre sie für Situationen auf, in denen es gut ist, dezent zu zeigen, dass man auch anders kann.

Ich bin eingeladen, Thomas auf die Abschluss-Gala der Ökofilmtour zu begleiten. Die Ökofilmtour ist ein Filmfestival, das die teilnehmenden Filme vor der Prämierung durch viele Städte und Dörfer Brandenburgs schickt. So kamen sie auch bei uns vorbei. Und wir folgen ihnen jetzt nach Potsdam; denn dort soll unter der Teilnahme von regionalen Politik-Größen die Preisverleihung stattfinden.

Potsdam ist weit – vom Land in die Stadt, einmal quer durch und auf der anderen Seite wieder raus. Das dauert knapp zwei Stunden. Lohnt sich das? Ich verbinde die Fahrt mit einem Zahnarzttermin in Berlin. Denn das kronenartige Plastikprovisorium auf dem Zahn sechs-unten-links hat sich gelöst. Der kleine Kegel, der darunter steckt, braucht seine Kappe, damit die Kaureihe wieder einen geschlossenen Gegenbiss zur implantierten Brücke auf der Oberseite bildet. Das kann ja kein Problem sein, so ein Hütchen wieder festzukleben.

Eine neue Helferin empfängt mich, pralle Hüften quellen aus der tief sitzenden Hose, das braune Dekolleté wird von schwarzen Locken umspielt, die Glutaugen sind in schwarze Farbe eingebettet. Sie führt mich zum Stuhl. H.D. begegnet mir auf dem Flur, sagt „Oh nein!“ und rollt die Augen zur Seite. Ich grinse, sage: „Nein, nein, ist nicht so schlimm, alles in Ordnung!“

Eine zweite Helferin mit rotem Haarschopf, die etwas mehr nach Sachkenntnis aussieht, legt mir das Lätzchen um. Dann kommt H.D. Ich zeige ihm die heruntergefallene Plastikkrone. Er dreht sie in der Hand. „Na ja, die ist ja nicht mehr toll“ – „Hat aber immerhin zwei Jahre gehalten. Sie hatten die Zähne schon vor zwei Jahren eigentlich aufgegeben“, erinnere ich. – „Ich weiß nicht, ob ich das wieder angeklebt kriege. Wie wäre es denn mit einer richtigen Krone für den Zahn? Das wäre dann auch eine bessere Lösung für das Zahnfleisch unten.“ Ich gucke ängstlich. Er weiß, was ich denke, und hakt nach. „Die Krankenkasse zahlt 120 Euro. Ich würde noch mal 100 Euro von Ihnen nehmen. Dafür kriegen Sie eine Krone aus Vollkeramik von mir.“ – „Aber Sie haben doch gesagt, der Zahn ist längst überfällig, kann sich jederzeit verabschieden“ – H.D. wird ungeduldig. „Ja sicher, das müssen Sie entscheiden. Aber wenn der Überzug noch mal abfällt, dann will ich 400 Euro für die Krone haben, so viel kostet sie nämlich normalerweise. Ich habe Ihnen jetzt einen Sonderpreis gemacht.“

Auch 100 Euro sind für mich eine Investition, die ich in meinen Haushalt einstellen muss. „Darf ich darüber noch mal nachdenken?“ – „Ja, fünf Minuten. Dann gehe ich nämlich ins andere Behandlungszimmer.“ Jeder Anflug von Lächeln in H.D.’s Gesicht ist verschwunden. „Warum ist das denn das nächste Mal teurer?“ – „Weil ich dann wieder mit Ihnen hier rumsitzen muss. Alles doppelt. Jetzt könnten wir direkt einen Abdruck machen. Nächstes Mal die Krone drauf und fertig.“ Ich schwanke, bin unschlüssig, fahre mit der Zunge über den kleinen Kegel, fühle die langen Rümpfe der benachbarten Zähne, die beide bedrohlich geneigt sind. Da kann jederzeit alles zusammenbrechen. Wie viel sind 100 Euro? Für was brauche ich sie sonst? Das muss alles überlegt sein. Ich will mich nicht überrumpeln lassen.

Aber H.D. hat sich entschieden. Es reicht ihm jetzt mit mir. „Zahnzement“ kommandiert er. Er steckt den Plastikhut probeweise auf den Stumpf, fragt, ob sie passt. Die Folgen eines „Nein“ kann ich nicht absehen, also sage ich „ja“, und jede weitere Argumentation oder Nachfrage wird durch Wattebäusche im Mundraum und fuhrwerkende Instrumente unterbunden.

H.D. gibt, schon halb in der Tür, der Rothaarigen den Auftrag, genau viereinhalb Minuten zu warten. Ich warte mit ihr. Dann kratzt sie die Zementreste vom Zahnhals, befreit mich von den Wattewürsten und von dem Papierlätzchen. „Fertig“ sagt sie und stellt den Stuhl hoch. „Stört noch was?“ fragt sie. Ich denke an die langen Blau­papier-Testreihen von H.D., bevor er bereit war zu akzeptieren, dass die Zähne richtig stehen. „Werden die Kauflächen nicht mehr überprüft?“ frage ich, während ich mich aufrichte. „Das müssen Sie doch wissen, ob das richtig sitzt“, sagt die Rothaarige aufsässig. Ihr Chef hat mich aufgegeben, also sieht sie keinen Grund zur Freundlichkeit mehr.

„Guckt sich das Herr D. nicht mehr an?“ mache ich einen letzten Versuch. Sie geht ins Behandlungszimmer nebenan und kehrt sofort zurück. „Nein, das ist jetzt gut so. Der Doktor muss das nicht mehr überprüfen.“ Ich bin entlassen. Man kann auch sagen: ich bin rausgeschmissen. Wegen dauerhafter Verweigerung Zuzahlungs-pflichtiger Leistungen. Wegen chronischer Armut. Wegen Undankbarkeit. Wegen dentaler Perspektivlosigkeit.

Die Glutäugige hat zu tun, als ich mir den Mantel anziehe. Meine Hand berührt die Perlenkette von Tante Martha. Eine schöne, eine wertvolle Kette. Sie strahlt aus, dass die Trägerin noch etwas in der Hinterhand hat. Ob das unter diesen Umständen das richtige Signal war? Vielleicht denkt H.D. auch einfach, dass ich geizig bin, mir seine Sonderpreise erschleichen will? Besser, ich hätte die Perlenkette erst auf der Weiterfahrt nach Potsdam angelegt. Bedrückt schließe ich die Glastür und trete ins postmoderne Treppenhaus. Das war es wohl mit H.D. Woher nehme ich jetzt einen neuen Zahnarzt, der bereit und in der Lage ist, meine Zähne zu Krankenkassensätzen zu erhalten, der hilft, einen Strich durch die Rechnung Armut = Zahnausfall zu machen? Wer kennt jemand in Polen?

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2008/04/21/mein-zahnarzt-hat-mich-aufgegeben/

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kommentare

  • liebe imma, bist wieder einmal hinreissend präzise, bilderreich und witzig bis sarkastisch! beim lesen schwankte ich zwischen anflügen ohnmächtiger verzweiflung und wut (davon brauchen wir mehr…) – du solltest den text an ver.di schicken und an die zahnaerztekammer und an die gesundheitsministerin.
    meine zahnaerztin in karlsruhe, seinerzeit aus leipzig gekommen, kann dich gut beraten – komm uns doch mal besuchen… liebe grusskuesse! lena

  • das ist eine wahrlich gelungener über eine Alltagserfahrung, gespickt mit präzisen Beobachtungen. Voller Mitgefühl empfinde ich nach, wie Du die Wut und den Zorn in Worte verwandelst und so der Demütigung mal wieder ein Schnippchen schlägst. Bei aller Malaise macht das Mut. Danke.

  • “Wir haben uns entschieden, ein Leben in selbstbestimmter Armut zu führen.” Selbstbestimmte (Zahn-)armut?

  • Meine herzliche Anteilnahme! Und mal wieder Glueckwunsch zu einem gelungenen Text, den ich in kleinen Schlueckchen, immer wieder innehaltend und den Worten nachspurend genossen habe wie einen guten Wein. Bitte schreiben Sie noch lange weiter, und hoffentlich finden Sie bald wieder einen Zahnarzt Ihres Vetrauens. Beste Gruesse aus Singapur!

  • wenn auch sehr traurig und zugleich witzig-sarkastisch: diesmal einfach wunderbar! ich kenne auch keinen zahnarzt in polen :-(((

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