vonImma Luise Harms 29.06.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Das Großraumbüro der Deutschen Bahn rollt mit 200 kmh. Mein Arbeitsplatz für die Stunde zwischen Hannover und Bremen kostet 28 Euro, Steckdose inclusive. Wie meine Nachbarn habe ich, noch bevor der Zug den Bahnhof verlässt, meinen Laptop herausgezogen. Der Tisch reicht gerade für die drei Geräte. Mein Tischnachbar macht sachfremde Arbeiten: ein kriegerisches Strategiespiel, bei dem mit Zielkreuzen gespickte Landkarten überflogen werden; am Kartenrand tauchen Kolonnen von Sodaten und Panzern auf und verschwinden wieder: mittels Zählbilanz wird über Sieg und Untergang entschieden. Nebenbei verrichtet der Feldherr seine berufliche Tätigkeit mit Handy und Headset. Verabredungen werden getroffen, Projekte durchgesprochen, Bestellungen aufgegeben. Es scheint, als werden da neue Panzer für das Spiel geordert.
Man ist im Großraumbüro der Bahn leicht von seiner Tätigkeit abgelenkt, weil überall telefoniert wird; mit erhobener Stimme werden Fahrtrouten abgestimmt und Positionen durchgegeben. Zum Glück hält der Laptop viele Angebote bereit, z. B. kann man mit Audioprogramm und Kopfhörer ein Klangzelt um sich errichten. Das hilft, um die verwirrende Vielfalt an Botschaften zur Geräuschkulisse herabzustufen. Die telefonierenden Büronachbarn klingen gedämpft hindurch. Auch die Stimme des Zugbegleiters, der über die Lautsprecheranlage zweisprachig begrüßt und um Entschuldigung für die Zugverspätung bittet, erreicht das Ohr als einschläfernder Bahn-spezifischer Soundbrei.
Plötzlich eine Mitteilung, die nicht ins Muster passt: „Meine Damen und Herren, ich weiß, Sie sitzen auf Kohlen, weil Sie den Anschlusszug Norddeich Mole erreichen wollen.“ Der Zugführer, mehr als die Stimme seines Herrn? Ein mit Wollen und Mitfühlen begabtes menschliches Subjekt? Ich nehme die Stöpsel aus den Ohren und lausche. „Bisher kann ich Ihnen noch nicht sagen, ob der Zug in Bremen wartet. Ich werde die Informationen über die Fahrgäste nach Norddeich sammeln und an die Transportleitung weitermelden. Im Laufe der Fahrt kann ich Ihnen hoffentlich mehr sagen. Von meiner Seite werde ich alles unternehmen, damit Sie rechtzeitig an Ihr Ziel kommen.“
Der größte Teil der Mitreisenden sieht nicht so aus, als führe er in Urlaub. Auch ich will nicht nach Norddeich Mole, aber das interessiert mich trotzdem. Schlauer Mehdorn. Soviel demonstratives Gekümmer um die Belange der Reisenden, und nebenbei eine Kostenoptimierung: die Züge warten nur dann, wenn es sich lohnt.
Tatsächlich eilt kurz danach ein Mann in Dienstkleidung durchs Abteil und fragt in jede Sitzreihe, wer umsteigen muss. Ich hätte gern meinerseits gefragt, wie viele es denn sein müssen, damit der Zug wartet, aber da ist der Mann schon weiter. Das wird jetzt spannend; der Zug hat fünf Minuten Verspätung. Schaffen wir’s oder schaffen wir’s nicht? Auch der Feldherr neben mir hat sein Headset von den Ohren geschoben. Dann spricht die Stimme zu uns, sie könne uns die freudige Mitteilung machen, der Anschluß sei gesichert. Und sie fährt fort: Im Bordrestaurant gebe es noch leckeren Kuchen, den man in der ersten Klasse auch gern an den Platz bringe.
Da begreife ich. Es geht weder um Service noch um Kostenminimierung, nicht mal um Verhinderung von Regress-Forderungen. Es geht um die Schaffung neuer Aufmerksamkeitsumgebungen für zukünftige Werbe- und Verkaufsbotschaften. Wenn man Zug fahren will, muss man nun einmal auf Mitteilungen achten. Die Bahn nutzt ja bereits jeden Zoll der optischen Aufmerksamkeitsflächen, um Werbung zu platzieren – im Internet oder in Faltblättern mit Reiseinformationen, in den Bahnhofshallen oder auf den Bahnsteigen. Genau so erschließt sie sich jetzt den akustischen Raum als Werbeträger. Dazu müssen Gewöhnungseffekte überwunden und neue Aufmerksamkeitsreize geschaffen werden. Was eignet sich dazu besser als der Wettlauf um einen Anschlusszug?
Als wir in Bremen ankommen, stellt sich heraus, dass der Zug nach Norddeich fahrplanmäßig noch fünf Minuten im Bahnhof steht.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2008/06/29/ressource_aufmerksamkeit_i_der_anschlusszug/

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