vonImma Luise Harms 21.09.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ich laufe durch die Pflaumenallee. Die Landstraße nach Marienberg. Es gibt nicht mehr so viele Bäume wie früher, als wir diese Straße vom Bahnhof nach Reichenow gegangen sind. Der Bahnhof ist stillgelegt, die Hälfte der Pflaumenbäume ist abgesägt. Nicht mehr windfest. Die letzten Bäume sind so hoch ausgeastet, als wolle man sie zu Palmen veredeln. Reinklettern ist nicht mehr möglich. Die Baumlücken weiten sich zur Landschaft. Auf dem geschwungenen Acker kurvt in der Ferne ein Jauchewagen herum. Ich höre das Brummen. Der Geruch von Schweinestall liegt überall.
Flach atmen ist beim Laufen schwierig. Ich zähle die Schritte, um mich von der Anstrengung abzulenken. Zwei Schritte einatmen, drei ausatmen. Rauf bis nach Marienberg und zurück sind sechs Kilometer. Meistens bin ich hier abends unterwegs. Dann fahren so gut wie keine Autos. Heute laufe ich mal vormittags, denn oben, wo die Landstrasse in die Hauptstraße nach Wriezen einmündet, ist gesperrt. Die Straße ist bis Schulzendorf aufgerissen.
Der Straßenrand ist eine Küstenlinie. Der immer wieder ausgebesserte Rand aus schwarzem Teer brandet an die alte, überall löchrige und rissige Asphaltdecke. Mein Blick gleitet wie ein Tiefflieger über die Oberfläche. Unter den Bäumen sind braune Flecken. Das sind die Reste von heruntergefallenen Pflaumen. Es gab nicht viele in diesem Jahr. Die meisten sind schon früh abgefallen, wurmstichig und notreif. In den Kronen ist nichts mehr zu erkennen. Vielleicht mit einer Leiter? Und dann schütteln? Ich hab noch gar keinen Pflaumenkuchen gebacken.
Ein Auto fährt von hinten an mich ran. Ich will nicht angesprochen werden. Es überholt und fährt langsam vor mir weiter. Berliner Kennzeichen. Die Leute haben die Köpfe in den Nacken gelegt. Fraßfeinde. Sind auch hinter den letzten Pflaumen her. Aber es gibt nichts.
Am Straßenrand liegt ein Knieschoner. So ein hartschaliges Teil, das man zum Scaten oder zum Fliesenlegen nimmt. Seltsam, wie die Dinge ihren Charakter verändern, wenn sie im Straßengraben liegen. Irgendwie dreckig, auch wenn sie ganz in Ordnung sind. Wie kommt der Knieschoner in den Straßengraben? Ein paar Schritte weiter liegt der zweite. Jetzt kommen andere Gedanken auf. Erstens eine Erklärung: jemand hat die Dinger aufs Autodach gelegt und dort vergessen. Beim Losfahren fallen sie nach und nach herunter. Ich hab schon öfter im Abstand von ein paar hundert Metern Handschuhe an der Straße gesehen. Und der zweite Gedanke: kann man die noch brauchen? Wenn die Dinge paarweise auftreten, erheben sie gleich wieder den Anspruch, Gebrauchsgegenstände zu sein. Nein, du brauchst keine Knieschoner! Und du kennst auch niemanden, der gerade welche braucht! Und du musst auch nicht jeden Gegenstand adoptieren, um ihn vor dem Verfall zu retten!
Ich trabe weiter, vorbei am Haus der Ärztin. Ein einsames Gebäude mitten im Acker, das zu DDR-Zeiten eine Stasi-Filiale war. Rechts zweigt der Weg nach Möglin ab, dort geht es zur Schweinefarm. Schweine-KZ soll man nicht sagen, das ist zynisch. Aber wem gegenüber eigentlich genau?
Die Straße knickt ein bisschen nach links. Wieder einzelne Pflaumenbäume. Dann sehe ich einen Schuh im Straßengraben. Das glaubt mir doch keiner! Doch, ein Turnschuh, schwarz mit so einem Gummizug-Verschluß. Er liegt auf der Seite, als hätte er sich zum Schlafen ein bisschen bequemer hingelegt. Natürlich halte ich jetzt nach dem zweiten Schuh Ausschau. Auf dem Rest der Strecke finde ich die Abdeckung von einem Autolautsprecher und eine tote Maus. Ganz oben, an meinem Wendepunkt liegt eine leere Sporttasche, Marke Addidas. Der zweite Schuh ist nicht drin.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2008/09/21/der_zweite_schuh/

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kommentare

  • Eine stille Impression die in ihrer Unverbindlichkeit nur Bitternis kennt.
    Sie mag das Land und ist doch fremd.
    Übrigens verändern die Dinge nicht ihren Charakter.
    Nur dem Betrachter obliegt die Wertung.

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