vonImma Luise Harms 22.11.2010

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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*(aus Auma Obamas Buch „Das Leben kommt immer dazwischen“, nachträglich eingeschoben von Imma Harms)

Ein feuchter kalter Novembertag auf der Autobahn. Es ist das Jahr 1994. Wir fahren nach Dänemark. Direkt hinter der Grenze liegt die kleine Gemeinde Bov, eine Art Gretna Green, ein Hochzeitsparadies. Ich bin unterwegs, um zu heiraten.

Seit vielen Jahren lebte ich in Deutschland – mit einer auf die Dauer meiner Ausbildung befristeten Aufenthaltserlaubnis. Seit meine langjährige Verbindung mit Karl zu Ende gegangen war, hatte ich keine feste Beziehung mehr. Karl war nicht bereit, mich zu heiraten, um mich vor einer möglichen Ausweisung zu schützen; er hätte nur aus „Liebe“ geheiratet, sagte er mir, die offenbar bei ihm nicht groß genug war. Seit dem schwebte ich immer in der Angst, dass meine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert würde. Ich wollte mein Studium an der Berliner Filmakademie dffb abschließen und hatte zu der Zeit keine Perspektive in meinem Heimatland.
Ich wusste von deutschen Männern und Frauen, die eine andere Person durch Eheschließung vor der Abschiebung schützen. Mir kam das immer ein bisschen erbärmlich vor, so von dem Großmut der deutschen Passbesitzer abhängig zu sein. Und außerdem, wer garantierte mir, dass ein deutscher Ehemann dann nicht plötzlich anfängt, seine „Rechte“ einzufordern? Zwei Jahre musste man damals verheiratet sein, bevor man vom Ehemann unabhängig eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekam. Eine lange Zeit der Abhängigkeit von einem Fremden.
In einem dffb-Seminar lernte ich Thomas kennen. In einer der politischen Diskussionen, die es dort öfter gab, deutete er an, dass er bereit wäre, eine „Schutzehe“ einzugehen, wenn er damit helfen könnte. Sein Argument: Er habe das Privileg, in diesem Land leben zu dürfen, und er fühle sich verpflichtet, anderen von diesem Privileg abzugeben, wenn er kann. Ich fand das nobel, aber auch ein wenig befremdend, denn die Ehe ist doch mehr als das Teilen eines Aufenthaltsrechts.
Im Herbst aber lief meine Aufenthaltserlaubnis ab. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Da fasste ich mir ein Herz, rief Thomas an und fragte ihn, ob ich ihn beim Wort nehmen dürfte. Thomas sagte spontan zu und wollte es noch am selben Tag mit seiner Freundin Imma besprechen. Ich war doppelt erleichtert, einmal, weil ich vielleicht schon bald in Sicherheit vor der drohenden Ausweisung sein würde, außerdem, weil die Freundin im Hintergrund mich absicherte, dass Thomas keine weitergehenden Vorstellungen mit der Heirat verband.
Ein paar Tage später rief Thomas an. Er war ein bisschen verlegen. So einfach war das Gespräch mit seiner Freundin wohl doch nicht gewesen. Sie hatte schließlich akzeptiert und gleichzeitig vorgeschlagen, dass sie als Trauzeugin mit nach Dänemark kommen könne. In Dänemark war (und ist auch heute noch) die Heirat einfacher, unbürokratischer als auf deutschen Standesämtern. So kam es also, dass wir an diesem Novembertag auf dem Weg zur dänischen Grenze waren.
Thomas schläft auf dem Rücksitz. Wir sind sehr früh aus Berlin aufgebrochen, weil wir noch an diesem Tag das Aufgebot in Bov bestellen wollen. Ich fahre, Imma sitzt neben mir. Ich spüre, wie sie mich verstohlen von der Seite mustert. Mir ist unbehaglich. Wie muss es in ihr aussehen, wenn sie vielleicht selbst den Wunsch hat, ihren Freund zu heiraten? Ist sie wirklich einverstanden, oder fügt sie sich nur in die Entscheidung von Thomas? Sie ist nicht mal die „Erstfrau“, sondern nur die Freundin.
Bei uns Luo in Kenia ist die Polygamie ja Teil der Tradition, wobei das auch nicht immer zu einem harmonischen Nebeneinander der Ehefrauen führt. Ich muss an meine eigene Mutter denken, der von meinem Vater zwei andere Ehefrauen vorgesetzt wurden, beide US-Amerikanerinnen. Die erste Frau, die Mutter von Barack, die mein Vater noch in den USA heiratete, ließ meine Mutter noch in ihrer Rolle als Erstfrau. Die zweite Frau aber wollte die kenianische Eheschließung nach europäischem Recht. Das bedeutete, dass mein Vater sich vorher von meiner Mutter trennen musste – mit verheerenden Folgen für meine Mutter und schließlich auch für mich. Seine vierte Eheschließung wurde sogar nach dem Tod meines Vaters vollzogen, damit seine letzte Gefährtin und Mutter seines letzten Kindes an seinem Begräbnis teilnehmen durfte. Also Eheschließungen hatten auch in unserer Luo-Tradition nicht immer den Charakter, zwei Liebende zusammen zu führen. Vielleicht lag es daran, dass meine Mutter Verständnis für meine formale Verbindung mit Thomas gezeigt hatte.
Andererseits die glanzvolle Hochzeit von Barack und Michele von zwei Jahren, an der ich als Brautjungfer teilgenommen habe, damals noch mit Ian, meinem englischen Freund. Was würde die kluge und gebildete Michele von mir denken? Aber ist nicht gerade für eine intellektuelle und selbstständige Frau die Eheschließung aus formalen Notwendigkeiten der einzig wirklich akzeptable Grund? Wir glauben nicht daran, dass es unsere Bestimmung ist, ein liebendes und sorgendes Anhängsel der Männer zu sein. Und wenn wir es doch tun, dann wird das Maß an Selbstverleugnung, das wir uns selbst abverlangen müssen, umso größer. Michele würde es nicht leicht haben, wenn Obama seinen Weg in die Politik fortsetzt.

Imma ist etwa in meinem Alter, sie ist Journalistin und studiert jetzt Philosophie. Was denkt sie? Das Schweigen zwischen uns fängt an, bedrückend zu werden. Ich spüre, wie sie nach einem Anknüpfungspunkt sucht. Ich komme ihr entgegen: „Warst du schon einmal verheiratet?“ „Nein. Ich war mal verlobt, um in Berlin eine Wohnung zu kriegen.“ Ich wusste von Thomas, dass Imma ein Kind hat. „War das der Vater deines Kindes?“ Nein, erklärt sie mir, das lag noch weiter zurück. Mit dem Vater des Kindes stand eine Heirat nicht zur Debatte. Auch zwischen ihr und Thomas scheint das kein Thema zu sein. Trotzdem ist sie offenbar nicht frei von dem ambivalenten Wunsch, verheiratet zu sein.
Als Nachkriegskind war ihre Erziehung noch ganz von alten Werten geprägt. Die sogenannten Mädchenbücher, die lange ihre einzige Lektüre waren, stellten das Leben als Ehefrau und Mutter als das einzig wahre, alles überstrahlende Ziel eines jeden jungen Mädchens dar. Erst viel später, als erwachsener Frau, sei es ihr gelungen, sich aus dieser Doktrin-haften Lebensbestimmung zu befreien, und auch immer nur unvollständig, mit Rückfällen von Sehnsucht nach der scheinbaren Geborgenheit in einer Ehe. Die kindliche Sozialisation wird man eben nie ganz los. Das kann ich gut verstehen, und so versuche auch ich, von meiner eigenen Bedrücktheit zu sprechen. Dass ich mit Eheschließung eigentlich andere Wünsche verbinde. Dass es mir schwer fällt, den Status der Schutzbedürftigen zu akzeptieren. Dass es mir auch vor meiner Familie peinlich ist, so und unter diesen Umständen zu heiraten. Von Karl spreche ich nicht.

Es ist nett, wie Imma versucht, solidarisch zu sein. Sie erzählt davon, wie in ihrer Familie immer die bürgerliche Ordnung der Verhältnisse propagiert wurde und wie aber in Wirklichkeit so vieles anders lief, das dann unter den Teppich gekehrt wurde. Die Mutter unehelich geboren; ihre Eltern haben erst Jahre später unter dem Druck der Verwandten geheiratet. Der Großvater im Ausland unehelich geboren. Auch dessen Eltern, also Immas Urgroßeltern, heirateten erst, kurz bevor der Urgroßvater starb, um der Mutter seiner drei Kinder einen Versorgungsanspruch zu sichern.
Ich überlege kurz, ob ich von den komplexen Ehe- und Vaterschafts-Beziehungen meines eigenen Vaters erzähle, und entscheide mich dann dagegen. Ich glaube nicht, dass sie die Bedeutung dieser Familienstrukturen in der Luo-Tradition beurteilen kann.

Inzwischen ist Thomas erwacht und hat das Steuer übernommen. Als wir die dänische Grenze passieren, kommt es mir so vor, als wenn mich der Grenzbeamte mit einem höhnischen Blick streift. Mein Pass ist in Ordnung, auch das Visum ist noch ein paar Tage gültig. Vielleicht deshalb.
In der Nähe von Bov finden wir eine Unterkunftsmöglichkeit in einer Jugendherberge. Imma und ich teilen uns ein Doppelzimmer. Dann machen wir uns auf den Weg zum Standesamt. Es ist ein modernes Gebäude mit Licht-durchfluteten Glaswänden. Im Warteraum sitzen noch zwei andere Paare. Männer, die ich ihrem Aussehen nach für deutsch halte, und Frauen, die offenbar aus anderen Kontinenten stammen. Die eine sehr junge Frau mit langem schwarzem Haar hat asiatische Gesichtszüge, und die andere hat wie ich eine dunkle Hautfarbe. Der eine der Männer lässt seinen dicken Bauch zwischen die gespreizten Beine hängen und spielt mit einem Kettchen, das ihn vielleicht doch eher als einen Immigranten aus Südosteuropa ausweist. Der andere geht ruhelos auf und ab. Die beiden Männer wechseln ein paar Worte miteinander. Die Frauen schweigen und schauen zu Boden.
Die ganze Erbärmlichkeit dieser – ja irgendwie – Zwangsheirats-Institution legt sich bedrückend auf meine Stimmung. Schutzehe, Scheinehe oder Zwangsehe? Die beiden Männer sehen nicht so aus, als wenn ihnen die Freiheit der Frauen, sich dort aufzuhalten, wo sie es möchten, besonders am Herzen läge. Handelt es sich um Sextouristen, die sich in einem fremden Land eine Ehefrau nach ihrem Geschmack mitgebracht haben? Oder sind das eingeschleuste Frauen, die mit dem Trauschein und der Aufenthaltserlaubnis in die Prostitution gezwungen werden?
Wie stehe ich da? Mir wird hundeelend. Glücklicherweise arbeiten auf dem Standesamt fast ausschließlich Frauen. Ich weiß nicht, wie sie mich einordnen, aber sie erledigen die Formalitäten des Aufgebots mit dezenter Leichtigkeit.
Den Abend verbringen wir in diesem merkwürdigen, winzig kleinen dänischen Gretna Green mit einem Spaziergang und einem Abendessen in einer Pizzeria, wo wir unverfängliche Gespräche über Film führen.

Die Heirat findet in einem Saal statt, in dem das erhöhte Pult der Standesbeamtin und ihrer Schriftführerin die Stirnseite einnehmen; es wirkt ein wenig wie der Altar in einer modernen Kapelle. Wir empfinden alle drei eine Mischung aus Feierlichkeit und Unbehagen und stoßen uns gegenseitig an, um die Stimmung zu lockern. Ich sehe meinen „Bräutigam“ von der Seite an. Er hat sich mit einem sachlichen, fast trägen Gesichtsausdruck maskiert. Der Schritt, den er jetzt mit mir oder eigentlich für mich gehen will, ist für ihn nicht ungefährlich. Mir auf diese Weise Sicherheit in Deutschland zu verschaffen, ist in seinen Augen vielleicht legitim, aber nach geltendem Recht illegal. Mit dieser formalen Ehe ein Aufenthaltsrecht zu erwirken, heißt „Beihilfe zur Aufenthaltserschleichung“ und wird unter Umständen sogar mit Gefängnis bestraft. Auf jeden Fall könnte Thomas seinen Brotberuf als Taxifahrer nicht mehr ausüben, weil er ganz sicher kein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis mehr bekäme. Zum Glück ist die „Straftat“ inzwischen verjährt, so dass ich freimütig darüber berichten und auch Thomas an dieser Stelle danken kann für das, was er für mich riskiert hat.
Die Standesbeamtin fragt uns noch einmal nach unserem Einverständnis und wir antworten beide mit „Ja“. Sie fragt, ob wir einen gemeinsamen Ehe-Namen wählen: „Obama“ oder „Winkelkotte“. Wir verneinen das; wir hatten uns vorher darauf geeinigt, dass wir beide unsere Namen behalten, wie wir auch alle weiteren Konsequenzen in einem Ehevertrag geregelt haben. Sich „Obama“ zu nennen, fand Thomas für eine kurze Zeit eine verlockende Vorstellung. Nicht, dass zu diesem Zeitpunkt irgendjemand etwas mit diesem Namen verbunden hätte, aber er fand das so hübsch exotisch. Vielleicht war Imma auch daran beteiligt, dass er sich dann doch anders entschied. Und auch mir wäre der gemeinsame Name nicht angenehm gewesen.
Wir unterzeichnen das Eheschließungsdokument also mit unseren Geburtsnamen. Imma und die Schriftführerin als zweite Zeugin zeichnen gegen, und damit ist die Ehe geschlossen. Wir stehen ein wenig ratlos in dem großen Saal herum, wissen nicht, ob wir jetzt einfach gehen sollen. Da kommt die Schriftführerin aus dem Hinterzimmer zurück. Sie hat ein kleines Tablett mir fünf Gläschen Likör geholt. Die beiden Standesbeamtinnen prosten uns zu und wünschen uns alles Gute für unsere Zukunft, in dem sicheren Wissen, dass das nicht die Zukunft von Eheleuten ist. Diese kleine Geste soll unsere Würde wahren, die Würde des Augenblicks und vielleicht auch ihre eigene.

An der dänisch-deutschen Grenze gibt es noch einmal einen Moment von Angst. Meine Aufenthaltserlaubnis läuft in wenigen Tagen ab. Reicht die Heiratsurkunde für die Wiedereinreise? Ich halte sie zusammengefaltet unter meinem Reisepass bereit. Aber auch der deutsche Grenzbeamte fragt nicht danach. Nur wieder dieser höhnische Blick, der mich auszuziehen scheint.
Ein paar Tage später sind wir auf der Berliner Ausländerbehörde. Thomas hat alle meine biografischen Eckdaten auswendig gelernt; er hat für alle Fälle sein Zimmer mit ein paar meiner Kleidungsstücke und sein Bad mit meiner Zahnbürste ausstaffiert. Es geht alles glatt. Als wir den Schein haben und wieder draußen stehen, falle ich ihm erleichtert um den Hals.
Einige Zeit später traf ich meinen früheren Freund Ian wieder, der mich nicht vergessen hatte. Wir verliebten uns aufs Neue und wollten miteinander leben – in England. Jetzt sollte es eine echte „Liebesheirat“ sein, die mir das Netz in Europa aufspannte. Im Sommer 1996 konnten Thomas und ich uns scheiden lassen. Ein paar Wochen nach der Scheidung wurde ich Ians Frau und bekam ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in Großbritannien.

Ich schreibe all dies, weil ich nicht nur das Glück hatte, Hilfe für die freie Wahl meines Aufenthaltsortes zu bekommen, sondern auch, weil ich jetzt die Möglichkeit habe, in aller Öffentlichkeit dazu zu stehen. Stellvertretend möchte ich allen danken, die bereit sind, ihr Aufenthaltsrecht zu teilen, und allen Illegalen Mut machen, sich einer Schutzehe nicht zu schämen.

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kommentare

  • Seit dieser CDU/FDP- Koalition sind es wieder drei Jahre, die eine Ehe halten muss, bevor ein/e ausländische/r Ehegatte/in einen eigenständigen Aufenthaltstitel erhalten kann (immer vorausgesetzt, dass der Lebensunterhalt eigenständig erwirtschaftet werden kann). Damit soll die Scheinehe erschwert werden – als ob das auf diese Weise zu regeln wäre! Wer als Ausländer/in in einer Ehe lebt, die sie/er besser auflösen sollte, um sich zu schützen und nicht krank zu werden, muss drei Jahre durchhalten, bevor sie /er gehen kann – ist das der im Grundgesetz hoch gehaltene “Schutz der Familie”?

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