vonImma Luise Harms 31.07.2011

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ada geht mit dem Hund. Und der Hund geht mit Ada. Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Er ist mit einer Leine an sie gebunden.

Es ist Vormittag, als sie vor die Tür treten. Der Hund hat geduldig gewartet, bis die ihm fremde Person herausgefunden hat, wie das Halsband über die Ohren zu streifen ist. Die Straße ist leer. Der Gehweg dehnt sich rechts und links an den Fassaden aus blanken Klinkern entlang. Vor diesen Häuserfronten wird kein Geschäft erledigt. Das weiß der Hund. Er zieht nach rechts. Ada wollte nach links, aber der Hund ist groß und schwer und entschieden; so geht Ada mit dem Hund.
Er schnüffelt und geht weiter.

Ada sieht auf das helle, dichte Fell, das bei jedem der tänzelnden Schritte rhythmisch hin und her fällt. Adas Herz ist schwer. Die Mutter. Ihr schwerer Abschied vom Leben. Die Mutter sieht und hört kaum noch etwas. Sie kann sich nur unter Schmerzen auf den Beinen halten. Sie kann sich nichts mehr merken. Jeder Gesprächsfetzen zerfällt, bevor sie ihn in Verwahrung nehmen kann. Sie verzweifelt beim Versuch, die Kontrolle über ihre Situation zu behalten, und versucht es doch immer wieder mit der gleichen Energie. Denn auch ihr Scheitern hat sie im nächsten Moment vergessen.

Der Hund bleibt vor dem Gebäude einer Naturheilpraxis stehen. Eckige Blumenkübel trennen den winzigen, mit zähen Sträuchern bepflanzten Vorgarten vom Gehweg. Der Hund schnüffelt und entscheidet sich. Hier kann er. Die Ecke des Kübels und das Pflaster davor sind dunkel vom vielen Markieren. Jetzt werden sie noch etwas dunkler.

Die Straße des Wohngebietes mündet in einen Park. Der Hund will auf der Straße bleiben, aber er soll in den Park. Ada zieht an der Leine. Der Hund ist stark. Er ist von einer Rasse, die als gutmütig gilt. Er gibt keine Widerworte, setzt nur stumm sein Körpergewicht im Tauziehen mit der Hundehalterin ein. Der Park ist der Ort für die Notdurft der Hunde. Ada muss sich durchsetzen, und sie tut es.
Der Park besteht aus einem Weg, der in einer Schleife ein feuchtes, mit Dickicht bestandenes Biotop umrundet. Am Wegrand stehen Parkbänke. Auf beiden Seiten des Weges und um die Bäume herum ist ein zwei Meter breiter Streifen der Wiese kurz gemäht. Auf dem Weg begegnen sich die Anwohner und Anwohnerinnen, die joggen, den Hund oder das Kind ausführen.

Gestern hat Ada ihre Mutter angeschrieen. Das tut ihr heute noch weh. Die Mutter hat gleich wieder vergessen, worum es ging, aber das Gefühl, misshandelt worden zu sein, ist in ihr zurück geblieben. Und wieder hat sie angefangen: Ich brauch doch meine Augentropfen! Was mach ich bloß, dass ich das nicht vergesse? – Mama, du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Die Pflegerin denkt schon daran. – Woher weißt du das? Wenn sie es aber doch vergisst? Ich muss sie doch erinnern. Wer steht mir denn da bei? – Wir können es ihr ja gleich noch einmal sagen. – Kann ich mich darauf verlassen? Denkst du auch daran? – Ja, Mama, wir machen das gleich. – Was machen wir gleich? – Ach, ist nicht so wichtig. – Doch. Ich wollte mir was merken. Warum sagst du mir das nicht? – Mama, mach dir nicht so viele Sorgen. – Das sagst du so. Ich wollte mir was merken, und jetzt habe ich es vergessen. Ich werd noch verrückt!

Ada hat die Leine entriegelt. Der Hund kann sich jetzt sieben oder acht Meter von ihr wegbewegen. Die Leine läuft ganz leicht aus dem Griff heraus, wenn der Hund im Gebüsch schnüffeln geht, und wenn er zurückkommt, zieht sie sich sanft wieder zusammen. Er könnte sich frei fühlen, denkt Ada.

Hinter einem Rosenbeet sind drei Parkbänke. Hier war die Mutter, als sie noch alleine laufen konnte, einmal mit einem Bier trinkenden Mann ins Gespräch gekommen. Das hat sie nicht vergessen. Immer, wenn Ada den Rollstuhl an dem Rosenbeet vorbei schiebt, sagt die Mutter: Hier haben wir doch immer gesessen! Merkwürdig, dass sie den Ort erkennen kann. Sehen und Wahrnehmen ist doch wohl zweierlei.

Ein großer, dicker, glatzköpfiger Mann steht auf dem Weg. Er schaut mit unbewegtem Gesicht geradeaus. In seinem Gesicht ist ein schmaler senkrechter Streifen Barthaar zwischen Unterlippe und Kinn. Die Aufteilung zwischen Bartbestand und rasierter Haut ist wie eine Spiegelung der Parkwiese, in der Flächen mit langem Gras von kurz gemähten Streifen umgeben sind. Der Mann hält einen Hund in der gleichen Größe und Farbe wie der von Ada ausgeführte, allerdings mit kurzem Fell und geringeltem Schwanz. Ada lässt zu, dass die Tiere sich beriechen, vermeidet dabei, den Mann anzusehen oder gar ihm ein Zeichen zu geben, das er als Gesprächsbereitschaft verstehen könnte. Es ist gar nicht nötig; der Mann hat sich hinter der gleichen Feindseligkeit verschanzt.

Früher ist die Mutter mit jedem ganz leicht ins Gespräch gekommen. Sie hat sofort die Kontrolle über den Gesprächsverlauf übernommen. So konnte sie herzlich und interessiert sein und sich mit einem Gefühl der Genugtuung aus der Begegnung lösen. Gesprächspartnern mit einer ähnlich offensiven Strategie ist sie aus dem Weg gegangen. Am letzten Nachmittag haben die alten Frauen im Heim ein Ratespiel gespielt. Falsche Titel alter Schlager sollten korrigiert werden. Wenn die Mutter die Frage endlich verstanden hatte, hat sie sie mit einer Stimme, die vor Verachtung über so viel Unwissenheit dröhnte, richtig gestellt.

Der Hund hat seine Fährte wieder aufgenommen. Er riecht an der Parkbank, er riecht am Brückenpfeiler. Er riecht noch einmal und hebt dann das Bein. Man sagt, die Hunde markieren ihr Revier. Vielleicht ist das zu männlich-dominant gedacht, geht es Ada durch den Kopf, vielleicht kommunizieren sie über die Körperausscheidung miteinander, hinterlassen Botschaften, die sich aufeinander beziehen. Jede Urinspur ein Argument, das eine Erwiderung herausfordert. Im begegnenden Hund wird der Urheber erkannt und zugeordnet. So hat jeder Laternenpfahl eine lange Diskursgeschichte. Und den Hund interessiert nicht sein Revier sondern der Verlauf der Diskussion.
Manchmal macht der Hund, wenn er ins Gras gepinkelt hat, Kratzbewegungen mit den Beinen. Will er seine Spuren verwischen, statt sie zu hinterlassen? Spricht dies gegen die Theorie vom Kreuzen der Argumente? Es ist dies vielleicht eine relativierende Geste, um dem eigenen Beitrag eine transiente Leichtigkeit zu geben und so das letzte Wort zu behalten.

Auf der Bank nahe dem kleinen Teich hat Ada mit der Mutter gesessen. Sie haben Lieder gesungen, Kinderlieder, Abendlieder, Weihnachtslieder. Die Mutter hat dabei mit einem konzentrierten Gesicht nach innen geschaut. Später hat Ada ihr Strickzeug herausgeholt, einen roten Wollstrumpf, den sie nur angefangen hat, um die Geduld für die Mutter aufzubringen. Das hat die Mutter gleich gemerkt, sie hat den Strumpf als ihren Rivalen betrachtet und von sich gewiesen, ihn etwa geschenkt zu bekommen. Ada hat weitergestrickt und die in kurzen Abständen wiederholten, immer gleichen Fragen beantwortet. – Was arbeitest du denn jetzt? Und kommst du mit deinem Geld denn aus? Wo ist denn dein Partner? Kenn ich den? Wann fährst du denn zurück? Und wie viel Uhr ist es jetzt? Für wen sind denn die Strümpfe? Für mich?! Ach. Aber ich brauche keine roten Strümpfe. – Ada hat Maschen gezählt, sie hat laut gezählt, damit die Mutter es hören kann.

Der Hund streicht durch das tiefe, feuchte, Gras. Ada steht auf der geschorenen Rasenfläche und gibt ihm von dort aus so viel Raum, wie möglich ist. Die leicht durchhängende Leine ist jetzt nicht mehr das Instrument von Herrschaft, Kontrolle und straffer Führung, sondern das Band der Beziehung zwischen zwei Wesen. Die leichten Bewegungen, Zug und Entspannung des Seils, sind Signale, die Mitteilungen über auseinanderdriftende Interessen enthalten und bereitwillig ausgeglichen werden.
Der Hund ist ganz bei sich. Er beißt in die Halme, kaut ein bisschen auf ihnen herum, wendet sich hier hin und dort hin. Dann beugt er den Rücken, bis das Hinterteil im Gras verschwindet, hält still, schaut versonnen den Weg entlang. Das wäre also auch erledigt. Ada zieht den Hund zu sich heran.

Immer, wenn die Mutter in den dämmrigen Flur des Heims zurück geschoben wird, scheint sich der Schleier vor ihren Augen zu verdichten. Die Angst, vollständig zu erblinden, überfällt sie wieder. Sie braucht die Augentropfen. Sie sind die einzige Hoffnung. Ada weiß, dass sie nichts anderes als eine Salzlösung zum Befeuchten der Augen sind, und alle anderen wissen es auch. Doch der Mutter bedeuten sie alles. Warum kann man ihr nicht Augentropfen geben, immer, wenn sie es will? Die Pflegekräfte dürfen nur nach Anweisung handeln. Und darin heißt es: Tropfen morgens und abends. Aber die Mutter hat Angst, bis zum Abend endgültig erblindet zu sein. Warum kann man ihr nicht eine Flasche hinstellen, wenn es doch nur Salzwasser ist? Dann hat sie die Flasche nach ein paar Tagen verbraucht und gerät in Panik, weil sie nicht sicher ist, dass eine neue bestellt wurde. Die Angst, in irgendeiner Frage nicht richtig Vorsorge getroffen zu haben, pulsiert im Körper der Mutter. Ada versucht, abzulenken.
Wenn die Mutter für einen Augenblick die Dunkelheit vor ihren Augen, den drückenden Darm, das schmerzende Bein vergessen hat, fängt sie an, die Tochter zu mustern: Hast du heute einen Rock an? Das ist ja schön. Und welche Schuhe trägst du dazu? Ist es dir nicht zu kalt mit den kurzen Ärmeln?

Der Hund bleibt an der Ecke des Parkausgangs stehen. Links geht es nach Hause. Ada will Brötchen holen. Das kann man ja wohl mit so einem Hund machen, denkt sie, kurz mal was einkaufen gehen. Die Bäckerei liegt auf der anderen Seite der Hauptstraße zwei Querstraßen weiter. Aber den Hund will auf gar keinen Fall über die große Straße. Er sträubt sich und macht sich schwer, er stemmt die Vorderfüße in das Pflaster und spannt alle Muskeln an. Ada zerrt an der Leine und schimpft mit dem Hund. Eine Passantin wirft ihr einen schnellen Blick zu. Ada senkt die Stimme, sie beschwört den Hund und versucht, ihn und sich zu beruhigen. Sie geht bis zur Fußgängerampel vor. Vielleicht ist er gewohnt, die Straße hier zu überqueren. Als es grün wird, reißt sie den Hund auf die andere Seite hinüber.
Er muss mit, er geht neben ihr, versucht aber, nach rechts oder links auszubrechen. Auf der linken Seite ist ein anderer Park. Ada lässt ihn nicht entkommen. Der elastische Teil der Leine, der Spielraum zwischen Hund und Halterin, ist ganz eingefahren und verriegelt. Ada hat den ledernen Teil zusätzlich um ihr Handgelenkt geschlungen.
An der Bäckerei bindet sie den Hund am Pfosten eines Verkehrsschildes fest. Er ist noch da, als Ada mit der Brötchentüte wiederkommt. Sie hat ihm eine Kuchenkostprobe von der Theke der Bäckerei mitgebracht. Der Hund will sie nicht. Er dreht den Kopf und hechelt. Ada schleift ihn auf die andere Straßenseite zurück. Komm, jetzt gehen wir nach Hause! sagt sie. Der Hund weiß nicht mehr, in welche Richtung er ziehen, wogegen er sich stemmen soll. Die Lastwagen donnern an ihm vorbei. Der Hund wirft seinen Kopf hin und her; er versucht, mal zum Radweg, mal in die Vorgärten zu entkommen. Er weiß nicht, woher die Gefahr kommt, wie er sich schützen kann. Er hat kein Vertrauen mehr zu Ada. Er ist in der Irre. Ada fühlt sich schuldig, und sie ist verzweifelt; der Hund ist ihren Erklärungen nicht zugänglich. Wenn sie sagt: Noch zwei Straßen! dann sagt sie es zu sich selbst.
Als der Hund schließlich auf die Spur nach Hause zurückgefunden hat, hofft Ada, dass damit auch die Erinnerung an das Ausgeliefertsein verblasst.

Vielleicht ist ein vergessenes Gefühl nicht real, denkt Ada. Ein Ereignis hat stattgefunden, ob man sich nun daran erinnert oder nicht; dafür gibt es Indizien. Aber ein Gefühl, das dem Gedächtnis entfällt, ist getilgt. Das zu denken, ist eine Erleichterung und gleichzeitig eine Bedrohung. Denn die Spur der Angst im Körper bedeutet auch die Möglichkeit, ihr Wiederauftauchen zu erkennen und ihr gewappnet begegnen zu können. In die erinnerungslose Landschaft fährt der Blitz der Angst aus heiterem Himmel mit ungebremster Gewalt. Es muss die Hölle sein.

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