vonImma Luise Harms 30.06.2013

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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(Teil 2)

Das Scharnier ist ausgerissen, weil das gespante Material im Inneren der Resopalplatte aufgeweicht ist, weil der Kasten ja nicht für außen bestimmt ist; ein Arzneischränkchen hängt im Badezimmer, wo es vielleicht auch ein bisschen feucht ist, aber normalerweise keine Regenschauer über ihm niedergehen. Ich habe feine Gewindeschräubchen und dazu passende runde Muttern gefunden; die Muttern werden von der Vorderseite in das Resopal gedrückt; ich hoffe, dass das Scharnier jetzt nicht so schnell wieder ausreißt. „Wolltest du nicht einen Zeiger auf die Klappe machen?“, erinnert Toni. Ja, das wollte ich, weiß aber noch nicht so recht, wie. Bisher habe ich immer einen Zettel auf den Kasten geklebt: „Der neue Kleine Zeiger ist da!“ Aber das ist eine unbrauchbare Information, denn im März ist der neue Kleine Zeiger genauso neu, wie der vom Februar einen Monat vorher. Das sagt also nichts, man muss die Botschaft anders visualisieren.

Ich denke an einen hölzernen, in der Mitte angeschraubten Zeiger, den man im Kreis jeweils auf den aktuellen Monat stellen kann. Toni hat recht, besser ist, ich mache das jetzt gleich mit. Wir schrauben also die Scharniere wieder ab; Toni fängt die Schrauben auf. Aber sie ist abgelenkt, eine Nachbarin fährt auf dem Fahrrad vorbei und ruft uns etwas zu. Eine von den winzigen kreisrunden Kontermuttern fällt ins Gras. Ich folge ihr blitzschnell mit den Augen, als wäre sie ein Meteor, dessen Anblick ich nicht verpassen darf, weil seine Lichtbahn mir einen Wunsch gewährt. Das Schräubchen findet sich wirklich unter einem Blatt, zwischen Borkenstückchen und Tannennadeln. Wir sammeln alle Einzelteile sorgfältig ein und nehmen die Klappe mit; das von mir ausgebaute Innere des Zwei-Wege-Briefkastens liegt entblößt da.

Eine Mini-Zeitung mit kleinen Texten in kleinen Buchstaben, einmal im Monat auf dem weißen Streifen des Baiz-Programms kostenlos mitgedruckt, von A. aus Freundschaft montiert und zurechtgeschnitten. Eine Zeitung für Reichenow, an keine Fördergelder gebunden, auch nicht an Anzeigen oder den Verkauf, komplett kostenneutral. Wir machen ein so genanntes Leporello daraus – fünf Seiten in Zick-zack-Faltung. Das Falten besorge ich mit bereitwilligen Menschen, die gerade in der Nähe sind. Auf der Titelseite ist eine Uhr, statt der zwölf Stunden stehen die zwölf Erscheinungsmonate in der Runde. Den Zeiger stelle ich mit Photoshop in jedem Monat weiter.

Die Idee war, ich mache die Zeitung, d.h., ich redigiere die Texte, mach das Layout, sorge dafür, dass sie gedruckt wird, falte sie und lege sie in dem Kleiner-Zeiger-Kasten zur Abholung bereit. Dazu gibt es zwei passgenaue Schächte im Kasten. Darüber ist ein abschließbares Fach, in das die Reichenower und Reichenowerinnen kurze eigene Texte werfen sollten – kleine Berichte, Ankündigungen, LeserInnenbriefe, Anzeigen. Irgendwas sollten sie auch beitragen, wenn sie die Zeitung so unbedingt haben wollen. Aber da habe ich die Dorfbewohner falsch eingeschätzt. Sie kennen und beherrschen die mündliche Mitteilung, früher im Konsum, jetzt am Bäckereiwagen, über den Gartenzaun, im Wartezimmer der Ärztin. Sie brauchen ein Stichwort, um sich ihres Bedürfnisses, sich mitzuteilen, überhaupt bewusst zu werden.

Stichwort-ausgelöste Kommunikation geht so. Vorlage: „Bei G.’s hat der Fuchs drei Hühner geholt, schon das zweite Mal in diesem Monat.“ Stichwort: Fuchs. Ausgelöste Kommunikation: „Mein Horst hat ja jetzt ne Falle aufgestellt…“, und dann weiter von der Falle, von dem Ärger über die Schonzeit-Bestimmungen, dann vielleicht von den Waschbären oder Mardern, die auch schon in die Falle gegangen sind. Oder Stichwort: Hühner. Ausgelöste Kommunikation: „Wir haben ja auch schon fünf Stück dieses Jahr verloren“, wie viel Hühner es jetzt noch sind, dass die jungen noch gar nicht legen, dass der Wagen mit den neuen Küken erst in drei Monaten wieder kommt. Und so weiter.
Direkte Antworten auf Fragen sind selten, weil Fragen selten sind, Impuls-gesteuerte einseitige Äußerungsbedürfnisse noch seltener. Und wenn, dann auf jeden Fall mündlich: „Schreib ma’ in dein’ Klein’ Zeiger, dass ick ’n Nummernschild unten an See jefunden hab. Det muss doch jemand vermissen“. Nein, schreib ich nicht. Schreib selbst. Du weißt, wo der Briefkasten ist! „Kannste nicht das Neue-Dorfstraßenfest ankündigen, im Kleinen Zeiger?“ Könnt ihr doch selbst! Macht doch mal!

Demonstrative Verstocktheit auf meiner Seite. Ich will sie nicht bedienen, will nicht auch noch alles selber schreiben müssen. Auch Provokation ist dabei: Mal sehen, wie wichtig ihnen das Erscheinen der Zeitung ist! Ich lasse Seiten weiß, bringe reine Fotostrecken, Anleitungen zum Verfassen von kurzen Texten oder Einstellungsdrohungen im Vorwort. Wenn dann doch ein Text kommt, besteht er oft aus Danksagungen. Alle danken allen, vor allem fürs Kaffeekochen und Kuchenbacken bei den einschlägigen Dorffesten. Das wird ihnen dort jedes Mal vorgeführt, und das können sie. Aber ist das etwa eine Nachricht?

Was ist denn eine Nachricht? Was ist des Erzählens wert? Jahrelang sind wir zu Demos gegangen, haben die herrschenden Verhältnisse, inklusive der kollaborierenden Medien beschimpft, sind dann schnell nach Hause gerannt, um nicht zu verpassen, wenn die Abendschau etwas darüber bringt. Das ist hier auch nicht anders. Das Erntefest oder der Weihnachtsbasar werden noch ein Stück wirklicher, bedeutender, wenn sie im Druckerzeugnis gespiegelt werden. Die Benennung des Kuchens im Dank hat Abbildfunktion für den Kuchen; der Kuchen wird in seiner Abbildung wiedergekäut.

Manchmal liegen handgeschriebene Zettel im Postkastenfach, auf denen der Kleine Zeiger gelobt, seine Bedeutung hervorgehoben und den Machern gedankt wird. Das ist schön. Aber wenn die Danksagung so großen Raum einnimmt, stimmen die Proportionen nicht mehr, dann dankt der Dank dem Dank. Ein Mitteilungskonzept, das sich selbst genügt.

Wir feilen einen harthölzernen Zeiger, malen ihn brandrot, befestigen ihn in der Mitte des Deckels mit Schraube und Mutter, kontern die Mutter mit einer zweiten, damit der Zeiger zuverlässig die Stellung hält, fahren zurück zum Standort und bringen den Deckel wieder an. Jetzt kann der neue Kleine Zeiger, der vom Mai, eingefüllt werden. R. tritt aus ihrem Haus und nimmt mir einen Stapel ungefalteter Exemplare aus der Hand. Sie verteilt die Zeitung in der Schäferei. „Weißt du denn, wie man den faltet?“ frage ich. „Na klar, bin doch nicht blöd. Hab ich doch schon oft gemacht!“ Sie zeigt mir, wie sie den Papierstreifen in der Mitte knifft und einschlägt und dann noch mal knifft und faltet. Nix mit Leporello. Aber egal, die Nachbarn werden schon herausfinden, wo der Anfang ist und wie man das Blatt aufklappt. Andere haben eben ein anderes ästhetisches Programm.

Texte schreiben wollen die MitbürgerInnen von Reichenow nicht, aber nützlich machen für das Blättchen, irgendwie beitragen möchten sie schon sehr gerne. So hat sich, ohne mein Zutun, ein Netz von Verteilerinnen gebildet, die die Reichenower mit dem Kleinen Zeiger per Hausbriefkasten bedienen. Das hatte ich mir nicht so vorgestellt. Sie sollten ihn eigentlich aus dem roten Kasten holen.

Abends im Gemeinderat schlägt mir hilfsbereite Empörung entgegen. „Hast du das gesehen, der Deckel vom Zeitungsbriefkasten ist ja ab. Wer macht denn so was?!“ „Alles müssen’se kaputt machen!“ „Hab ich selbst gemacht. Ist schon wieder dran“, beruhige ich, gerührt über die Anteilnahme. Wenn die Mitbürger auch die journalistische Zuarbeit verweigern, ordnungspolitisch stehen sie hinter dem Projekt, oder vielmehr davor, wenn’s sein muss.

Vor einigen Monaten hat auch die Beitragsgewährleistung für den Kleinen Zeiger neue Sicherheit gewonnen. Das Hängen und Drängen vor jeder Ausgabe hat ein Ende. Eine Schreiberin war mir aufgefallen, die öfter mal kleine bis mittellange Texte einschickte, die meistens von der Feuerwehr handelten, in einem flüssigen und dabei resoluten Ton, so dass ich die Autorin bei einer sich bietenden Gelegenheit ansprach. C. ist eine junge Reichenowerin mit blondem Lockenkopf und schmalem, energisch geschnittenem Gesicht, in dem große blaue Augen stählern blicken. Sie gehört zur freiwilligen Feuerwehr, leitet dort die Kinder- und Jungendabteilung schnittig und zackig und hält wohl auch zuhause ihre Familie auf Trab. Meine Frage: Hat sie Lust, öfter für den Kleinen Zeiger zu schreiben, auch bei anderen Gelegenheiten? Sie sagt sofort ja.

Jetzt geht C. zu Dorfereignissen, stellt Fragen, macht sich Notizen und liefert mir per Email brauchbare Texte, die das Wesentliche enthalten. Was das Wesentliche ist, ist natürlich Ansichtssache. Es geht weiter viel ums Kuchenbacken und Danksagen. Ich spreche mit C. über die Beschreibung von Situationen, auch über die Möglichkeit abseitiger Beobachtungen, standardmäßige und besondere Aspekte beim Verfassen von Berichten. C. nimmt es bereitwillig, aber durchaus selbstbewusst auf. Ich habe eine richtige Reporterin, die mich wiederum mit dem Gefühl beschenkt, eine richtige Verlegerin zu sein. Ich versichere sie ihres Standes durch das Geschenk selbst gedruckter Visitenkarten, die sie als Vertreterin des Kleinen Zeigers ausweisen.

In der nächsten Woche steht der rote Zeiger am Kasten auf „sechs“, also auf Juni, was falsch ist. Es ist zwar schon Juni, aber der Kasten enthält noch die Restauflage der Maiausgabe. Ich prüfe den Zeiger; er sitzt fest und kann nicht von allein nach unten gerutscht sein. Ich stelle ihn zurück. Am nächsten Tag steht er wieder auf „sechs“. Ich ärgere mich. Das sind Eigenmächtigkeiten, etwa Störmanöver von Zeitungsfeinden? Wer macht denn so was? Toni wird lakonisch: „Vielleicht ne Aufforderung: Es ist Juni! Wo bleibt der Kleine Zeiger?“ Nett gedacht, aber das kann ich nicht akzeptieren. Ich stell hier den Zeiger! Ich denke über eine technische Lösung des Problems nach.

C. schreibt, wie sie denkt. Und sie denkt, wie sie erzogen ist. Begriffliche Finessen sind ihr fremd und erscheinen ihr unnötig. Sie ist Feuerwehrfrau, als solche stellvertretender Wehrführer und ein guter Kamerad. Die Beugung des Wortes zum gemeinten Geschlecht hin käme ihr als Notwendigkeit nicht in den Sinn. Das männliche Prinzip ist nicht machtvolles Gegenüber sondern gewohntes Terrain, auf dem sie sich souverän bewegt. Es wird nicht sprachlich perforiert, sondern besetzt. Ich redigiere ihr den Besucher, den Bürger, den Reichenower nicht um, auch wenn sich praktisch nur Frauen versammelt hatten; wer bin ich denn, dass ich die sprachliche Sichtbarmachung des Geschlechtes, das nicht eins ist, zum zwingenden Gebot machen sollte?

A. sieht das anders. Neulich hat er den Druckbogen angeknurrt und gedroht, den Beidruck abzuhängen, wegen des ignoranten Sprachgebrauchs im Kleinen Zeiger. A. ist durch und durch metropolitan; das heißt, er achtet auf eine Begrifflichkeit à la mode, sprich, eine Ausdrucksweise, die den jeweiligen politischen oder soziokulturellen Erkenntnissen Rechnung trägt. Konsequent nennt er seine Tanzschülerinnen und Tanzschüler nicht „Damen“ und „Herren“, wie an vielen Orten noch üblich, sondern „Führende“ und „Folgende“, eine Zuordnung, die quer zur Geschlechtszugehörigkeit liegt und diese Queerness auch akzentuieren soll. Eine Sprache, die noch immer das Männliche für das Allgemeine und das Weibliche für den Sonderfall ausgibt, findet er reaktionär, verharmlosend, verschleiernd.

Ich kann ihm von der Sache her gar nicht mal widersprechen. Und doch: sie ist ja auch zwischen uns, die Geschlechtergrenze, und auch zwischen A. und C. Tut mir leid, für mich ist es nun mal nicht das gleiche, ob ein Mann das Weibliche sprachlich verschwinden lässt, oder eine Frau. Was in der männlichen Sprache mir als reaktionär, verharmlosend, verschleiernd vorkommt, erscheint mir, von einer Frau gesagt, oft eher naiv, arglos, unschuldig. Wenn aber ein Mann eine Frau zur Ordnung ruft, weil sie nicht ordentlich gendert, da kommt mir etwas nicht richtig vor. Doch wer bin ich, dass ich mich in diesen Disput einmische?

Ich weiß jetzt, wie ich mir die Hoheit über den großen Zeiger des Kleinen-Zeiger-Briefkastens zurück erobern kann. An den Stellen der zwölf Ziffern bohre ich Löcher, in das Zeigerende ebenfalls. Mit einem Stift kann ich den Zeiger jetzt in seiner Position befestigen. Toni gibt zu bedenken, dass die Löcher, auch wenn sie nur 5 mm groß sind, Einfallstore für Regen und damit für Holzspan-Aufweichung und Resopalplatten-Anhebung sein können. In meinem Arsenal für Kleinstvorrichtungen – Stiftchen, Knöpfchen, Hebelchen – suche ich nach Abhilfe. Ich entdecke kleine Plastikhülsen, Durchmesser 5 mm, die beim Abbauen eines Regals übrig geblieben sind und von mir vorsorglich wegsortiert wurden. Meistens finde ich so was dann nicht, wenn ich es brauchen könnte. Diesmal finde ich es.

Die kleinen Hülsen sind aus durchsichtigem Plastikmaterial, sie waren dazu gedacht, dass man in die üblichen Löcher der Billy-Regale etwas mit Schrauben befestigen kann, ohne dabei die Löcher auszuleiern. Der Nachteil ist, sie gehen schwer rein. Man braucht eine Zange. Aber der Nachteil ist jetzt ein Vorteil, denn das heißt, ohne Zange kann der Zeiger an der Klappe nicht mehr umgestellt werden. Die mitzunehmen, wenn die neue Ausgabe da ist, wird man sich ja wohl merken können. Hülse aus dem Zeiger, Hülse aus der nächsten Ziffer, Zeiger weiterdrehen, Hülse wieder rein, die andere auch. Fertig. Vandalen haben keine Zange dabei, auch Vandalinnen nicht.

Ich habe A. gebeten, zur Problematik der nicht-gegenderten Sprache einen Leserbrief zu schreiben. Oder einen LeserInnenbrief. Oder einen Leser_innenbrief. Oder einen Leserinnenbrief. Ganz wie er will.

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