vonImma Luise Harms 31.12.2013

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Draußen ist es warm und es regnet. Oder vielmehr: es ist diese wassergesättigte Luft, man könnte sie stehenden Regen nennen. Die Zeit zwischen den Jahren. Man soll nicht Wäsche waschen, weil sonst einer im nächsten Jahr stirbt. Lächerlich, es stirbt doch immer einer! Vorsichtshalber hat man aber vor dem 24. schon alles durchgewaschen. Das haben sich die Frauen und Mägde so ausgedacht, damit sie mal eine Zeit Ruhe haben, damit sie Zeit zum Feiern haben.

Am 29. sind die Weihnachtstage vorbei, die Jahresendfeiern stehen noch bevor. Essen, Einladungen, Spaziergänge, Partys. Großinszenierungen mit Motto und Kleiderordnung. Noch schläft der Hof. In den Pfützen liegt er bruchstückhaft gespiegelt. Der „Märkische Sonntag“ steckt in der Zeitungsröhre, das Ende guckt heraus und ist voll gesogen von stehendem Regen. Es ist mehr die Idee von einer Zeitung. Sie knüpft an die Erwartung einer Zeitung an, ist in Wirklichkeit die Hülle für eine Sammlung an Prospekten, die den letzten Ansturm von Panik-Einkäufen vor Jahresschluss absahnen sollen. Aldi hat immer was. Ich suche den Aldi-Prospekt heraus und nehme ihn und den Morgenkaffee mit ins Bett.
Auf dem Umschlag ist ein Crosstrainer. Wusst’ ichs doch – Aldi kennt meine Wünsche! Im vorletzten Jahr hatte ich diesen heftigen Wunsch, einen Crosstrainer zu besitzen. Dann würde das Fit-Bleiben ganz einfach, quasi nebenbei. Ich fand ihn dann aber doch zu teuer, hab mir stattdessen ein olles Gestell von einem Trödler geholt. Bin ein paar Mal draufgestanden, habs dann wieder vor die Tür gesetzt. Jetzt bietet sich noch einmal die Gelegenheit, zum günstigen Aldi-Preis. Aber nein: die Schwungscheibe wiegt nur 8 kg. Die Guten fangen bei 15 kg an; das hab ich damals ermittelt. Vergisses.
Ich nehme einen Mund voll Milchschaum und blättere weiter. Nachtwäsche für Sie. Nachtwäsche für Ihn. Jogginghosen für die Kinder. Ein Stromkosten-Messgerät. Da! Die Leiter! Das ist exakt die Leiter, die ich immer gerne haben wollte! Eine Teleskop-Leiter, ausgezogen 3 Meter 20, eingeschoben unter einem Meter. Fast kein Gewicht. Ein idealer Begleiter durch dickes und dünnes Unterholz. Aber auch hier: wenn ich der Sache auf den Grund gehe, ist kein echtes Bedürfnis mehr da, eher der Kondensstreifen vergangener Bedürfnisse. Draußen steht die dreifach-Klappleiter; sie ist auch über drei Meter, wenn man sie ganz ausklappt. Vor einem Jahr war sie geklaut, wir wissen nicht, ob vom Acker oder vor der Haustür. Jedenfalls war sie weg. Wir haben sie eine Zeitlang gesucht, eine Zeitlang noch vermisst und uns dann nach Alternativen umgesehen. Ja, wenn es damals die Teleskop-Leiter gegeben hätte! So haben wir einfach das gleiche Modell Klappleiter nachgekauft. Das war ja auch ganz richtig, es ist multifunktional. Man kann es zur Standleiter und auch zur Arbeitsbühne umklappen. Aber etwas ist an der Teleskop-Leiter, das die dreifach-Klappleiter nicht hat, so etwas Schmales, Leichtes, Graziles, und doch hoch hinaus Strebendes. Etwas aus sich selbst heraus Wachsendes. So stellt man sich eine Himmelsleiter vor.

Mit einer Klappleiter kommt man nicht in den Himmel. Trotzdem hat sie eine beachtliche Reichweite und Anwendungsbreite. Baumentastungen, Deckenlicht-Reparaturen, Renovierungen, Obsternten, Hochstapel-Aktionen. Ihre Vorgängerin war sogar mal Gegenstand einer Gerichtsverhandlung. Sie war vor vielen Jahren Thomas’ und Franzens Kino-Lastwagen Mirona irgendwie zugefallen und als fester Bestandteil beim Wagen geblieben. Der Kinowagen wurde bei der großen Heuchler-Demonstration 1992 eingesetzt, als nach dem Brandanschlag in Rostock-Lichtenhagen die politische Klasse Deutschlands der Welt ihre weiße Weste präsentieren wollte, allen voran Kohl und Weizsäcker. Die Empörung über die Heuchelei benötigte Mitteilungsfläche, so stand Mirona am Rande der Demo-Route, und an der LKW-Wand hing ein gut sichtbares Plakat mit der Aufschrift: „Heuchler!“ Die Leiter wurde gebraucht, um das Plakat anzubringen, dann auch, damit sich die Aktivisten vor den heranstürmenden Putz- und Aufräumtrupps der Polizei auf das Autodach flüchten konnten. Die Leiter konnte nicht so schnell in Sicherheit gebracht werden. (Ja, wenn es damals die Teleskop-Leiter gewesen wäre!) Die Polizisten rissen die vorgefundene Leiter aus den sie umklammernden Händen ihres Besitzers und Beschützers Thomas und rupften mit Leiter-Hilfe das Plakat herunter. Der protestierende Thomas wurde zu Boden gerungen.
Auf wundersame Weise wurde aus diesem Vorfall ein „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ konstruiert, der ein Jahr später zur Verhandlung kam. Thomas, das Unschuldslamm, auf der Anklagebank, ein liberaler Richter, der entschlossen war, Recht zu sprechen, ein zotteliger, deshalb unterschätzter Anwalt und zwei arglose Polizisten als geladene Zeugen.
Ausführlich wird der Vorgang abgefragt und rekonstruiert. Die Geschichte konzentriert sich auf die Leiter. Wo stand sie, wer hielt sie, wer hat sie wem abgenommen, und wem gehörte sie überhaupt? Die Polizisten gestehen, dass sie sich der vorgefundenen Leiter bedient haben. Der Anwalt insistiert, dass sie sie nicht vorgefunden, sondern ihrem rechtmäßigen Besitzer mit Gewalt weggenommen haben. Er macht eine Pause und herrscht sie dann an: „Wie kommen Sie dazu, anderer Leute Leiter einfach wegzunehmen?!“ Alle im Saal fahren zusammen, die Polizisten sagen nicht mehr „piep“. Das Verfahren endet mit einem Freispruch erster Klasse: erwiesene Unschuld.

Ich träumte in dieser Zeit der politischen Bekenntnisse von einer Teleskop-Leiter. Die richtige Parole zur richtigen Zeit am passenden Ort – das brennt sich in die Köpfe ein! Das verändert das Bewusstsein! Die richtigen Parolen hatten wir, da waren wir uns sicher.
Passende Orte gab es viele. An den Häuserwänden musste man sich allerdings sehr kurz fassen und gute Fluchtwege haben. Brandwände, Fassaden und Hausgiebel waren geeignete Orte, an denen man in Ruhe seine Botschaften anbringen könnte, aber sie waren meist unerreichbar.
Als planender Mensch hatte ich die Vorbereitung der Parolen-Aktion in Einzelaspekte zerlegt, die systematisch angegangen wurden: Problem 1: Über dem Dachrand hängen und über Kopf schreiben. Also Hilfestellung, d.h. mindestens zwei Personen und Fixierung an einem Schornstein oder so was. Problem 2: Große, wirklich große Buchstaben schreiben. Mit einer Sprühdose ging das auf keinen Fall. Wir kauften einen 5l-Behälter für Pflanzenbesprühung. Dazu gab es Verlängerungsstangen, so dass man zwei Meter runterreichen konnte. Auf harmlosen Institutsdächern übten wir das über-Kopf-Schreiben mit der langen Sprühstange. An die Parole kann ich mich nicht mehr erinnern, irgendwas gegen Institutionen. Das Ergebnis war ernüchternd: die Stange wackelte und erzeugte mit dem Sprühkopf eine krakelige Schrift, die Farbe labberte außerdem nach, weil sich das Rohr natürlich noch entleerte, wenn man den Entriegelungsgriff losließ. Außerdem lernten wir dabei, dass sich das N, das S und das Z über Kopf genauso schreibt wie richtig rum.
Die Schrift sah traurig aus, zaghaft und sabbernd; es fehlte ihr jede Entschlossenheit. Die Stange müsste kürzer sein oder stabilisiert werden. Dann kam noch das Problem Nr. 3: Wie auf die Dächer kommen? In den meisten Häusern gibt es einen Dachausstieg, oft vom obersten Treppenabsatz aus. Damit kein Unfug getrieben wird, ist die Luke entweder zugeschlossen, oder die Zugangs-Leiter ist weggesperrt oder angeschlossen. Ist man doch glücklich auf das Dach gelangt, muss man von Dachvorsprung zu Dachvorsprung, um zu einer der auffällig in die Stadtlandschaft ragenden Fassaden zu gelangen. Da sind dann auch mal zwei oder drei Meter zu überwinden.
Die silhouettenhafte Figur, die sich geschmeidig über die Dächer bewegt und mit spielerischer Leichtigkeit von Vorsprung zu Vorsprung hüpft, ist eine Ikone, ein Traumbild. In einem dieser eleganten Gangsterfilme habe ich gesehen, wie dabei im Bedarfsfall eine Leiter quasi aus dem Ärmel gezogen wird. Die Teleskopleiter könnte in einem unauffälligen Futteral durch die Treppenhäuser getragen werden und würde mit einem knappen Handgriff zur vollen Länge auseinander geschlagen, ungefähr wie das Fernrohr von Käptn Sparrow. Der ganze Plan mit der Dächerbeschriftung hing also an dieser Leiter. Die selbstverständliche Eleganz des Vorgehens, die ich mir dabei vorstellte, sollte auch der politischen Aktion die Leichtigkeit und Souveränität geben, die erst die Botschaft beflügelt und sie Vertrauen erweckend und einleuchtend macht.

Die Leiter war nicht da, die Parolen blieben ungeschrieben, das Bewusstsein hat sich nicht verändert. Jetzt wäre die Leiter zu haben, aber mir fällt nichts mehr ein, was unbedingt allen mitgeteilt werden muss.

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