vonImma Luise Harms 14.04.2015

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Die Fliegenklatsche nehme ich mit in das Zimmer, in dem ich schlafe. Aber nicht für die Fliegen, die verhalten sich ruhig, sondern für die Mücken. Ich suche die weißen Wände ab; die Mücken setzen sich gern auf was Weißes. Ich mache extra das Deckenlicht an, damit die Wände richtig gut weiß sind zu dieser Nachtstunde. Ich sehe keine Mücken. Die portugiesischen Mücken sind auch klein. Aber sie stechen wie große. Der Giftstoff, den sie einem für ihre kleinen Schlückchen in die Haut spritzen, löst die gleichen üblen Juckreize aus wie jeder Mückenstich überall auf der Welt.
Man muss sich zusammenreißen, streng unter Kratz-Kontrolle halten, dann ist der Juckreiz am nächsten Tag weg. Aber wie soll das gehen, wenn man sich zum Einschlafen ganz der eigenen Körperlichkeit überlassen will? Da kratzt man sich einfach gern. Wenn ich wie ein Wachtposten auf mich aufpasse, kann ich nicht einschlafen. Die Aussicht erbittert. Der Kampf gegen die Mücke nimmt an Härte zu.
Ich ändere die Taktik. Nun mache ich nur die Leselampe an, damit ein Wandsegment deutlich heller ist als der Rest, also relativ gesehen sehr weiß, was die Mücken verleiten soll, hier Platz zu nehmen, wo ich sie besser erreichen kann. Dies sind nicht die Mücken, die dafür verantwortlich sind, dass mir Arme und Beine jucken. Mein Krieg gilt den Rechtsnachfolgerinnen derer, die mich zerstochen haben. Und er ist Prävention gegen die Stiche der nächsten Nacht. Das ist ja der andere Grund, warum man nicht schlafen kann. Die Angst vor der nächsten Attacke.
Tatsächlich erwische ich zwei oder drei; eine vierte summt durch die Ecken, setzt sich aber nicht; ich finde keine ruhige Ansprache, waidmännisch ausgedrückt.
Ich habe keine Lust mehr und wechsele zur Taktik der Selbstberuhigung: vielleicht sticht die gar nicht; die ist schon satt oder ist ein Männchen oder so eine Sorte, die sowieso nicht sticht.
Ich mache das Licht aus und ergebe mich dem Schlaf, vergesse meinen Körper, lasse die Bilder aus den Tiefen meiner Erinnerung aufsteigen.

Das weiße Doppelband der Autobahn, leer und gerade und breit durch die Landschaft gelegt wie eine Schärpe. Noch ziemlich neu; die abgesprengten Berghänge sind offene unverschorfte Wunden. So eine schöne, neue Autobahn. Fahren die Portugiesen nicht gerne Autobahn? Oder ist das zu teuer hier? Wir warten auf die erste Mautstelle, damit wir das besser beurteilen und unsere Pläne darauf einstellen können. Aber es kommt keine. Wir fahren einfach so weiter, unbehelligt. Da stimmt was nicht. Wir müssen rausfinden, wie das hier funktioniert.

Der Hund auf der Autobahn
In der nächsten größeren Stadt halten wir bei einer Touristen-Information. Man sagt uns: ja, es gibt sowas wie eine Vignette für einen bestimmten Zeitraum; die Verkaufsstelle dafür ist an der nächsten Autobahn-Auffahrt. Da sind wir beruhigt, freuen uns, dass wir uns ehrlich machen können.
Die Boxen zum Einchecken sind da, wo es von der Raststätte zurück auf die Autobahn geht. Wir fragen zur Vorsicht an der Kasse der Tankstelle. Die Frau erklärt in gebrochenem Englisch, dass wir eine Kreditkarte in den Apparat an der Schranke einführen müssen. Wir fahren also ran, ein rotes Licht vor uns zeigt an, dass erst ein Vorgang abgeschlossen sein muss, bis uns der Weg freigegeben wird. Der Apparat lutscht an meiner EC-Karte von der Berliner Sparkasse, ohne dass es weitere Anweisungen auf dem Display gibt. Stattdessen fängt er an, mit lauter Stimme zu uns zu reden, in portugisisch erst, dann in englisch. Wir verstehen den Sinn nicht, nur soviel, dass der Vorgang irgendwie anders ablaufen soll. Von “Error” ist die Rede, von “Insert”. Aber das machen wir ja. Andere Möglichkeiten werden nicht angeboten, es ist auch weit und breit niemand zu sehen. Nur vor uns die rote Ampel wie ein böses Auge. Und darüber eine Kamera.
Zurück geht es nicht, eine Abfahrt gibt es auch nicht. Wir sitzen in der Falle. Augen zu und durch. Eine rote Ampel zu überfahren, kostet schon Überwindung. Warum eigentlich? Eine Ampel ist strukturelle Gewalt. Ein Hoheitszeichen wie der Gesslerhut, jedenfalls wenn kein Grund zu sehen ist, der ein Innehalten rechtfertigt.
Thomas ist mulmig; ich werde rebellisch. Die spinnen doch! Was können wir mehr machen als nachfragen und unsere werthaltige deutsche Chipkarte anbieten? “Jetzt fahr!” sage ich und wir preschen durch, mit einem Gefühl, als würde die Ampel uns als Suchscheinwerfer nachgeschwenkt und als mache sich die Kamera zum Schuss klar.
Begleitet von einem Gefühl, das zwischen Empörung und Angst schwankt, benutzen wir die Autobahn, die weder Bargeld noch eine Abbuchungsgenehmigung von uns will, sich anscheinend nur Notizen für später über uns macht. Alle zwanzig, dreissig Kilometer kommt ein Hinweisschild, wieviel der befahrene Abschnitt gekostet hat, oder gekostet hätte, oder noch kosten wird. Dann kommt jedesmal eine Brücke aus Gestänge; an ihr sind kleine Apparate aufgehängt, die Rauchmelder, Sprenkler, Kameras oder Gasaustrittsdüsen sein könnten, exakt auf jede Fahrspur ausgerichtet. Ein bisschen wie in einer Autowaschanlage. Also wir werden wieder erfasst. Schwupp, sind wir drunter durch. Aber was hilft es, wir wurden gesehen, wir werden erkannt, wir werden verfolgt. Das Beängstigende ist, dass wir nicht wissen, welche Regeln wir übertreten haben, wie schwerwiegend das Durchbrechen der unerkennbaren Anordnungen ist. Wir rechnen mit Strafen, ja, wir fangen an, uns selbst die Strafen zuzumessen; das beharrliche Erfassen unserer Fahrt mit dem Gestänge reicht, uns zu disziplinieren. Inzwischen wären wir bereit, einen hohen Preis zu bezahlen, wenn man ihn uns nur nennen würde.
“Strukturelle Gewalt!”, ermutige ich uns zum Widerstand. Wir haben das Recht zur Übertretung. Das bricht doch alle Regeln des menschlichen Umgangs, uns in ein Geschäft hinein zu zwingen, ohne dass wir dessen Konditionen erfahren. Wir hätten natürlich an der nächsten Ausfahrt runterfahren können und aus Vorsicht nur noch Landstraße fahren. Aber das ist das Wesen des Widerstandes, dass in der defensiven Maßnahme gerne noch ein bisschen Landgewinn realisiert wird, wenn es denn möglich ist, gewissermaßen als Tribut, als Wiedergutmachung für die Zumutung der Selbstdisziplinierung. Genau so: Wir können auch anders!
Merkwürdig, dass die Definitionen von Gewalt immer an der Seite der Ausübenden ansetzen: Eine Handlung, deren Wirkung auf die Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität anderer ausgerichtet ist, formuliert Benjamin. Entscheidend ist doch dabei, wie sie wirkt, also was als Verletzung erlebt wird.
Diejenigen, die Macht und Reichtum anhäufen, etwa Autobahnbetreiber-Gesellschaften, gebrauchen ihre Gewalt entweder rechtlich sanktioniert oder subtil. Rechtlich sanktioniert heißt, dass bei einem Vertragsabschluss beide Seite ihre Zusage einhalten müssen und einzuhalten sich bereit erklärt haben. Ansonsten erfolgt Zwang, Strafe, Disziplinierung, und das mit Recht, weil sich beide Seiten dem vorher unterworfen haben. Sie hätten eine Alternative gehabt, eine Abfahrt sozusagen. Die subtile Gewalt wirkt heimlich, sie erschließt sich erst über ihre kalkulierte Wirkung auf die Adressaten. Sie gibt sich harmlos, stellt Fallen, verwickelt in Umstände oder sie operiert auf der Angst ihrer Opfer, droht mit Folgen. Die Angst, also die Erwartung von Gewalt, ist ein Vergrößerungsglas. Von überall her und zu jedem Zeitpunkt kann der Angriff kommen. Das Schemenhafte, das Unwägbare ist das Fahrwasser der subtilen Gewalt. Weil wir nicht wissen, was uns passieren kann, weil wir alles mögliche schon mal gehört haben an schrecklichen Ahndungen auch unabsichtlich begangener Übertretungen, sind wir bereit, das Schlimmste anzunehmen und große Anstrengungen zu machen, um es abzuwehren.
Aber übertreibe ich hier nicht maßlos? Was gibt es Friedlicheres als eine leere Autobahn, die sich einladend vor uns ausstreckt? Ich schimpfe mit Thomas, weil er mal wieder so katholisch ist und immer das strafende Gottesauge über sich halluziniert. Ich selbst wehre die an mir saugende Bedrohung mit Trotz ab. Was soll schon passieren? Was kann schon passieren? Die spinnen doch wohl! Aber auch ich wäre bereit, an der nächsten Mautstelle zu zahlen, auch größere Beträge, auch im Voraus. Ich würde nicht lange nachrechnen, ob das überhaupt angemessen ist. Ich wäre einfach froh, wieder ein Gefühl von Sicherheit zu haben. Und das ist sie, die subtile Gewalt: Wir werden gezwungen, uns selbst abzukassieren. Dabei verschwimmen die Proportionen, weil plötzlich nicht mehr für die Benutzung der Autobahn bezahlt wird, sondern für die Wiedergewinnung der Sicherheit vor Kontrolle und Verfolgung.

Es summt. Es klingt wie das Geräusch, das die Reifen auf der weißen Fahrbahnmarkierung machen. Die Autobahn verblasst. Ich wälze mich im Bett. Die Mücke, die ich nicht erwischt habe, sucht einen Landeplatz. Es ist heiß unter der Bettdecke und die Stellen an den Beinen jucken, aber zur Kühlung raushängen lassen heißt, neue Angriffsfläche bieten. Es summt. Ich ziehe die Bettdecke bis an die Nase, auch keine Lösung, weil zu heiß. Und dann das plötzliche Ausbleiben des Summens. Jetzt sticht sie! Aber wo? Licht an. Wo, wo ist sie? Die Klatsche in der Hand setze ich mich auf und warte. Sie kommt nicht. Ich nehme ein Buch, das vom Krieg in Mozambique handelt; ich lese unkonzentriert, ein Auge empfangsbereit für bewegliche kleine Punkte. Da gondelt sie gemächlich über die Bettdecke. Die Klatsche scheucht sie nur auf, dieses Tötungsgerät braucht eine Wand als Hintergrund, kein weiches Bettzeug. In meinem Buch werden Straf- und Vernichtungsoperationen gegen die aufständischen Makonde unternommen, oder vielmehr gegen alle, die schwarz sind. „Säuberung“ heißt das. Das muss man sich mal vorstellen. Auch heute noch wird ganz harmlos von „Durchkämmen“ geredet, wenn missliebige Personen gesucht werden. Die SEK-Kombattanten, wenn sie im Tatort durch die Zimmer stürmen, mit ihrem Gewehr im Anschlag, sagen auch „sauber“, wenn sie niemanden gefunden haben.
Da kommt sie wieder, trudelt zwanzig Zentimeter vom Buch entfernt über das Kopfkissen. Diesmal lasse ich das Buch fallen, um beide Hände freizuhaben und sie zwischen meine Handflächen zu kriegen; das war aber den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Und das Buch ist verschlagen. Allmählich kriege ich einen Hass auf die Mücke. Sie soll sterben, sie wird sterben, wenn nicht heute dann morgen. Wirst schon sehen. Das Buch lege ich weg, sitze einfach nur da, an die Wand gelehnt und denke wieder an meinen Groll über die portugiesischen Wegelagerer.

Es ist uns nichts passiert, bisher jedenfalls nicht. Das macht es nicht einfacher. Thomas hat im Internet herausgefunden, dass die Daten gespeichert werden, dass man, wenn man in eine Polizeikontrolle kommt, mit der aufgelaufenen Rechnung konfrontiert werden kann, dazu als Aufschlag für jedes passierte Mautstellentor mit einer zusätzlichen Buße. In Deutschland werden Inkassofirmen mit dem Eintreiben beauftragt. Inkasssofirmen! Das klingt sofort nach Rechtsstreit mit schussendlichem Verlust der bürgerlichen Existenz. Andere Version: wenn man bei der Polizei nicht sofort zahlt, kann das Auto stillgelegt werden. Die Internet-Foren sind voller Horrorgeschichten. Es hilft nichts, dass wir im Recht sind, wenn wir es nicht auch kriegen. Der Plan ist jetzt, sich unauffällig aus Portugal zu verdrücken, querfeldein, unter Vermeidung von Autobahnen und Polizeikontrollen. Und bis dahin hauptsächlich mit dem Fahrrad fahren.

In den Morgenstunden kommt eine gnädige Müdigkeit auf; die juckenden Körperstellen sind erschöpft, die letzte Mücke scheint aufgegeben zu haben. Nein, da ist sie wieder. Ach, was soll’s. Ich krieg sie doch nicht. Dann soll sie stechen. Ich kanns nicht ändern. Ich verschließe meine Ohren mit Wachs, lege mich hin und wünsche Guten Appetit. Eine Strategie gegen die Angst ist, sie zu ingorieren. Die Auswirkungen der real auftretenden Gewalt sind oft harmlos im Vergleich zu den Selbstverheerungen, die ihr vorausgehen. Und darauf setzt die subtile Gewalt – dass sie gar nicht tätig werden muss, ja vielleicht nicht mal tätig werden kann, weil ihr die Mittel fehlen. Sie kann nur drohen und dabei sich der Ängste bedienen, die andere Gewalten an anderer Stelle verursacht haben, bis zurück in mythische Tiefen.
„Ach“, sagt A., einer der hier alt gewordenen deutschen Aussiedler, die sich in den portugiesischen Tälern eingerichtet haben, „die können doch die ausländischen Numernschilder gar nicht dekodieren“. Wir können es kaum glauben. In den Internet-Foren haben wir anderes gelesen. A. ist sich sicher. „Das hab ich noch nie gehört, dass einem in Deutschland ne Rechnung nachgeschickt wurde. Die erkennen nur die portugiesischen Nummernschilder, diese Lesesysteme über der Autobahn.“ Deshalb brauchen sie also die aktive Mitarbeit der ausländischen Autobahnbenutzer, Kreditkarte mit Abbuchungserlaubnis, gemietete Lesesysteme. In den außer-portugiesischen Ländern können oder dürfen die Betreibergesellschaften die Verantwortlichen – Halter oder Fahrer – gar nicht ermitteln.
A. findet das eigentlich nicht richtig: „Da schröpfen sie ihre Landsleute immer mehr, und die Touristen kommen so durch“. Wir fühlen uns nicht gemeint, wir wollten ja zahlen. Aber jetzt nicht mehr. Zur Strafe.
Die Autobahnen sind leer, weil sie den Portugiesen einfach zu teuer sind. „Von Lagos nach Faro zahl ich mit den öffentlichen Verkehrmitteln 5 Euro, für die Autobahn 10 Euro. Da fahr ich doch mit der Bahn,“ sagt A. Das Autobahnnetz wird von einem privaten Konsortium betrieben, einer Investmentfirma, die „Gruppe José de Mello“ heißt und ihr Geld in alles pumpt, das profitabel scheint: Chemieindustrie, Infrastruktur mit staatlich garantierter Rendite, Energieunternehmen, Krankenhaus- und Pflegeheimwesen. Sie pumpt ihr Geld in das Marktsegment wie ein Verflüssigungsgift. Dann kann sie in Ruhe den Profit heraussaugen. Das Recht, die Technik, die Administration übernehmen ihre Rolle darin, sind Varianten des Saugrüssels. Und da wo sie nicht hinreichen, hilft die subtile Gewalt, indem sie Angst vor Strafe oder schlechtes Gewissen mobilisiert und einen Selbstaussaugungsprozess einleitet.

Ich hab dann doch geschlafen. Thomas kommt um 9 Uhr mit dem Frühstück rein. Die Mücken sitzen an der Wand, träge geworden, schwer von Blut, auch gleichgültig, wie es scheint. Wir können sie leicht platthauen. Kleine rote Flecken bleiben zurück, amorphe Rorschach-Kleckse, die ein Bild vortäuschen. Wir wissen, dass sie alles bedeuten können. Oder nichts.

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