vonImma Luise Harms 24.05.2015

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ein dicker Holzbalken liegt quer vor meinen Augen. Ich nehme alle seine Einzelheiten wahr. Er scheint richtig alt zu sein; überall sind kleine Löcher von Würmern, die sich im Laufe von Jahrhunderten da durchgenagt haben. Ein Riss klafft der Länge nach, tief und breit, aber die Holzfasern sind nicht gerissen, sondern nur bündelweise auseinander getreten, wie alte Familienlinien sich über Generationen-Zeiträume entfremden oder gar verfeinden und trotzdem nicht anders können, als zusammen zu gehören. In den Riss ist irgendeine Masse geschmiert worden, auch das vor langer Zeit. Die Masse zeigt ihrerseits Risse, bröckelt, scheint nur oberflächlich Halt zwischen den Fasern zu haben. Alles ist mit einer dicken Schicht zementgrauer Farbe überzogen. Die Farbe verbindet Füllmasse und Holz und hält das Ganze vielleicht auch zusammen.

Dieser zementgraue Balken, mit dessen Einzelheiten ich mich beschäftige, ist die Brüstung der Empore in der Reichenower Kirche. Ich sitze eingesunken in der ersten Stuhlreihe und habe ihn direkt vor meinem Kopf. Wenn ich mich aufrichte und den Hals recke, sehe ich den Altar und davor den Kopf des Pfarrers.

Zuflucht

Es ist sehr heiß in der alten Kirche, selbst hinter den meterdicken Mauern aus Feldsteinen. Diese Bauart, die aus dem frühen Mittelalter stammt, wird Wehrkirche oder Fluchtkirche genannt. Das lässt die Vorstellung entstehen, wie sich die Dorfbewohner beim Einfall von Feinden in ihrer dicken Kirche verschanzt haben, bis die Gefahr vorüber war. Die massiven Mauern, die niedrige, leicht zu verbarrikadierende Pforte und die schmalen Fensterschlitze sehen ganz danach aus. Experten bezweifeln zwar, dass die Kirchen aus diesem Grund so gebaut wurden. Aber es ist eine schöne Vorstellung: Gott, der eigentlich die Idee von einem gesicherten Zuhause in einer festen Burg ist.

Pfarrer K. lässt die Gemeinde singen. Er selbst wendet sich zum Altar um, auf dem er mit der linken Hand das bereit liegende Buch aufschlägt, während die rechte Hand mit einem Taschentuch unter die Brille fährt, um den Schweiß abzuwischen. Von der Empore aus sieht man das. Wir sind auf einer Beerdigung.

Weg

Rosi P.’s Körper ist bereits verbrannt. Ihr Bild ist neben der Urne aufgestellt, die ihre Asche enthält. Die Urne ist auf einem zierlichen, mit Blumen bekränzten Ständer platziert, der auch einen Sektkühler halten könnte. Ich mustere das Arrangement der Blumen, um herauszufinden, ob sie echt sind. Automatisch suche ich nach dem Abgeschmackten.

Ich mochte Rosi P. Sie war laut und rücksichtslos fröhlich, sie war eine, die den Mund aufmacht und Kontakt aufnimmt, sie war die Friseuse im Dorf. Das Holzschild „Frisierstübchen“ an ihrem Gartenzaun kannte ich lange, bevor ich sie selbst kennen lernte. Ich traf sie auf einem Tauschmarkt, den wir organisiert hatten. Den eigenen Überschuss abzugeben oder gegen anderes zu tauschen, das hat ihr eingeleuchtet. Ein paar Tage später hat sie einen Zettel an das Büro des Gutshofs gehängt, mit der Frage, wem sie den Rest ihrer Dillernte geben kann.

Ich mache mir keine Gedanken darüber, wo Rosi Pachal jetzt ist; sie ist weg, so wie jemand weg ist, der woanders hin gezogen ist. Der Pfarrer zeichnet ein anderes Bild: ein Schiff, das am Horizont des Ozeans verschwindet – aber nur für die Zurückbleibenden. Es wird woanders landen, im Jenseits, im ewigen Leben, bei Gott. Er zeichnet es nicht, er beschwört es herauf und ruft Zeugen dafür auf, deren Aussagen im Alten und im Neuen Testament überliefert sind.

Leidtragende

Eine Beerdigung auf dem Dorf ist ein gesellschaftliches Ereignis, das fast so gut besucht ist wie das Erntefest. Aber während man auf dem Erntefest über die Wiesen wandert oder durch das aufgeschlagene Festzelt strömt, sich für oder gegen eine Currywurst entscheiden und der Blaskapelle zur Not ausweichen kann, ist hier die Dorfgemeinschaft zwischen den Wänden der Wehrkirche eingeschlossen. Und zwar Christenmenschen und überzeugte Atheisten. Unter mir sehe ich ein eng aneinander gefügtes Muster aus schwarzen und weißen Stoffen. Viele Frauen haben sich wegen der Augusthitze für weiße Blusen entschieden. Im Allgemeinen trägt man schwarz. Ich habe mich zuhause ein paar Mal umgezogen, bis ich meine Garderobe passend fand.

Ich war sechs Jahre, als mein Onkel Walter starb, der Bruder meines Vaters. Meine Eltern machten sich für die Beerdigung fertig. Meine Mutter im schwarzen Kostüm und mit der von mir geerbten, heute probeweise angezogenen ärmellosen Seidenbluse. Schwarze Strümpfe hatte sie nicht, stattdessen hautfarbene mit schwarzer Naht. „Ich glaube, das geht so“ sagte sie meinem Vater und sich selbst, „wir sind ja nicht die direkt Leidtragenden“.

Eine Tasche braucht man eigentlich nicht auf einer Beerdigung. Allenfalls ein Taschentuch. Als Willi Selle im letzten Jahr gestorben ist, habe ich in der Kirche maßlos geheult. Da löst sich einfach was, man kann das nicht steuern. Und ich hatte kein Taschentuch und musste hochziehen. Ein Taschentuch brauche ich. Ich suche eines aus den unteren Schichten meiner Sammlung heraus, aus viel weißer Spitze und wenig zartem Batist in der Mitte besteht. Da darf ich zwar heulen, aber mir nicht zu oft die Nase putzen. Als ich schon auf dem Rad sitze, um zur Kirche loszufahren, fällt mir ein, dass manchmal Geld für irgendeinen, von den Angehörigen bestimmten Zweck gesammelt wird. Ich gehe noch einmal zurück, hole einen Euro und wickle ihn in das Spitzentaschentuch, das zur Wurst zusammengerollt, in meiner linken Faust steckt. Und da steckt es noch, jetzt und hier auf der Empore, während wir von Pfarrer K., dessen Stimme hinter dem zementgrauen Balken ertönt, mit Vorhaltungen überzogen werden. Alles, was er sagt, klingt ein bisschen beleidigt.

Mission

Ostdeutschland ist Missionsgebiet. Nirgendwo auf der ganzen Welt glauben so wenig Menschen an Gott wie in der ehemaligen DDR, im Durchschnitt weniger als die Hälfte. Das hat sicher mit dem realsozialistischen Staatsatheismus zu tun, aber auch vorher standen die Menschen hier nicht besonders im Bann der Kirche. Und so wie zurück gestutztes Unkraut umso üppiger neu ausschlägt, wachsen die Ungläubigen in der jungen Generation prächtig nach. Mehr als 70 Prozent aller jungen Leute können mit der Vorstellung von Gott nichts anfangen, heißt es in einer besorgten Kirchenmitteilung. Theologieprofessor Tiefensee nimmt das als sportliche Herausforderung. In Ostdeutschland treffe die christliche Verkündigung erstmalig nicht auf andere Religionen, sondern auf ein stabiles areligiöses Milieu, stellt er mit Genugtuung über die schöne Aufgabe fest. Dafür haben nicht alle Missionare ein Händchen.

Pfarrer K.’s Gesicht ist zwei geteilt. Augen und Stirn sind wässrig-melancholisch; der Mund ist zwischen Falten zum Strich gespannt, die Mundwinkel dauerhaft nach unten gezogen. Ich lese in ihnen die Verbitterung über jahrelang erlittene Ignoranz. Aber jetzt hat er die Leute mal beisammen! Ein weihevolles Begräbnis wollen sie alle, und das kann die Kirche. „Liebe Familie, liebe Angehörige, liebe Mitchristen, liebe Bewohner der Gemeinde Reichenow“, differenziert er gleich zu Anfang.

Hinter mir sitzt W., der Bürgermeister der Gemeinde. Er hat die Hände nicht gefaltet, aber übereinander gelegt, wie es respektvolle Ungläubige tun, die zwar auf ihrer Distanz bestehen, aber die Rituale der Christenmenschen nicht stören wollen. Seine Frau ist der Veranstaltung fern geblieben; auch ein Todesfall kriegt sie nicht in die Kirche. W. singt nicht und betet nicht, aber er steht auf und setzt sich, wie Pfarrer K. es mit kleinen, aber bestimmten Gesten anzeigt.

Bei einer Beerdigung ist die Kirche voll, viel voller als an Weihnachten oder anderen Feiertagen. Denn eine Beerdigung ist eine soziale Zwangslage. Was soll man tun, wenn der Sarg oder die Urne des Menschen, von dem man Abschied nehmen will, in der Kirche aufgebahrt wird? K. weiß das, und er nutzt die Gelegenheit auf seine Weise: „Sie, die Sie sonst immer gerne diesen Ort aufsuchen“ – Pause, Aufblicken – „…jedenfalls einige von Ihnen! Sie sind heute nur schweren Herzens gekommen, um Rosemarie Pachal das letzte Geleit zu geben.“

Inszenierung

K.’s vorwurfsvolles Gesicht ist von einem Kranz lachender Köpfe umrahmt. Sie sitzen körperlos auf den Rändern des barocken Altars, der in wunderbaren grün-rot-goldenen Farben die in der Mitte dargestellten Marterszenen umrahmt. Die Köpfe erinnern an Clowns- oder Puppengesichter. Ihr aufgemaltes Lachen wirkt wie ein hintergründiges, fast boshaftes Grinsen. Barocke Ironie gegenüber der christlichen Glaubenseinfalt, auf die sich Pfarrer K.’s Predigt beruft. Die Gegenreformation hat es gezeigt: nicht Vorwurf, nicht Zwang, nein: eine mitreißende Performance und das Angebot, nicht auf Rettung jenseits des Todes, sondern Teil einer macht- und prachtvollen Glaubensinszenierung sein.

Pfarrer K. setzt auf ein anderes Konzept. Glauben, vertrauen, gehorchen. Unterwerfen unter den Gott, der dafür das Weiterleben in einem anderen unerfahrbaren Land in Aussicht stellt. Ich frage mich, wie funktioniert der Deal? Wer will denn da unbedingt weiterleben?

Das ist ein ideologischer Eingriff und ein rhetorischer Trick. Wenn man anderen eine Überzeugung einschreiben will, die Zumutung zur Eigenmotivation umformen will, redet man so, als wäre es bereits klar, dass das ihr eigener dringlichster Wunsch ist – um ihnen dann hinterrücks Bedingungen dafür zu diktieren. Die zelebrierte Zuteilung („Du kriegst es nur, wenn du das und das tust“) überwältigt die Wahrnehmung des eigenen Bedürfnisses („Will ich das überhaupt?“) Das geht mit Gummibärchen los, setzt sich über gute Schulnoten fort, hält sich ein Leben lang mit allen von außen durchgesetzten Belohnungssystemen (der Arbeitsplatz, der Arbeitsplatz!) und soll nun auch noch das „Jenseits“ regieren – ein irrealer Raum, eine zeitlose Zeit, die als Fluchtpunkt der Sehnsucht eigens konstruiert scheint, um Menschen gefügig zu machen. In vielen Kulturen, vielleicht muss man sogar sagen: in fast allen Kulturen, greift das perfekt. Und besonders in Zeiten, in denen die Menschen sich bedroht fühlen, sich Hilfe suchend umsehen, ihren eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen und daher nicht wissen, wie sie sich selbst helfen könnten. Aber dazu geht es den Leuten in den ostdeutschen Ländern, und so auch hier in Reichenow, wohl doch nicht schlecht genug.

Taumel

An der Decke baumelt ein dunkelroter Weihnachtsstern. Mitten im Sommer. Er erinnert unangenehm an die dunkle Jahreszeit. Es war so kompliziert, ihn da oben anzubringen, dass der Gemeindevorstand beschlossen hat, ihn das Jahr über hängen zu lassen. Von einer der roten Tüten, die einen Sternenstrahl darstellen, löst sich ein Schmetterling, ein hellgelber Zitronenfalter. Er gleitet, flattert, taumelt durch den Altarraum. Er wird von hereinfallenden Sonnenstrahlen getroffen, verschwindet vor der bunten Kulisse des Altars, taucht später auf den künstlichen oder nicht künstlichen Blumen des Urnenständers wieder auf, wo er sich niedergelassen hat. Die zusammen geklappten Flügel bewegen sich ganz langsam.

Die Orgel wird angetreten. Sie schleppt den Gemeindegesang hinter sich her, wie ein Ackerpferd treu und ergeben die Pflugschar durch den schweren lehmigen Boden zieht. Das Lied handelt davon, dass wir Gott lieben, dass wir ihm vertrauen und dass er uns deswegen errettet. Wieder dieser Trick. Jetzt trifft er einen Nerv. Ich kenne die Melodie. Der Posaunenchor in der Dorfkirche, unter deren Einfluss ich aufgewachsen bin, hat sie oft gespielt. Ich spüre ein Kribbeln in der Nasenwurzel, Feuchtigkeit in den Augen, die kurz davor ist, über den Rand der unteren Augenlider zu treten. Das war immer schön, das hat sich eingebrannt. Oder vielmehr, das hat sich als schön eingebrannt. Man nennt das Rührung.

Simulation

Die Rührung ist Talmi. Sie ist die Simulation eines Gefühls und damit sein Gegenteil. Gruseln geht nur, wenn man eben gerade keine Angst hat, und Rührung kann man nur empfinden, wenn man nicht von Glück oder Freude, Verzweiflung oder Trauer bestürmt wird. Während das Gefühl etwas mit uns macht, uns öffnet, uns geradezu bloß legt, ist die Rührung die abgesicherte Variante. Sie lässt sich auch ganz einfach erregen. Alles, an dem der Affekt des Althergebrachten, Heimatlichen, des Vereinenden hängt, in dem zu wurzeln man fantasieren kann, setzt die Tränen der Rührung frei: ein brennender Weihnachtsbaum, ein schmetternder Posaunenchor, ein schutzlos offenes Kindergesicht.

Ein hohler Schädel produziert Grusel, nicht Angst, und ein nackter Arsch löst Geilheit aus, die das Gegenteil von Begehren ist. Die Rührung ist das Geschäft der Zukunft für die Kirche. Sie hält keine wirklich einschüchternden Waffen mehr bereit, weder im Diesseits – Kirchenbann und Inquisition sind abgeschafft – noch im Jenseits, sonst würde Pfarrer K. mit seinen Argumenten nicht so hilflos herumfuchteln. Aber sie kann unsere Fantasie anfüttern, so dass wir spielen können, dass wir uns im Glauben geborgen fühlen. Die Kirche wird darin zum Dienstleister für die Ausrichtung würdiger Feiern, Expertin in der Stimulierung von Rührung. Über entsprechende Tarife wird im kirchlichen Apparat nachgedacht.

Ich betupfe mit der Taaschentuch-Rolle meine Augenlider. Der Moderator der Veranstaltung kommt zum Ende. Die, die wollen, können jetzt noch ihren Glauben bekennen. Aber alle sollen dazu aufstehen, bitte. Zwischen den liturgischen Formeln hat Pfarrer K. vorher noch ein paar Regieanweisungen für den nachfolgenden Gang zum Urnengrab gegeben. Die Angehören bäten, von Beileidsbekundungen Abstand zu nehmen, was bedeutet, man soll am Grab nicht an ihnen vorbeiziehen und „Herzliches Beileid“ sagen. Es wird auch für nichts gesammelt, weder während der Schlussmusik noch am Ausgang, durch den die Gemeinde, ungefähr in der Reihenfolge ihrer Betroffenheit, ins Freie strömt.

Austritt

Im Theater am Rand wird bei Veranstaltungen der Eintritt beim Austritt erhoben, als Spende, um die allerdings deutlich gebeten wird. Der Theaterleiter sagt dazu in seiner Schlussansprache: „Geben Sie uns, was Ihnen diese Veranstaltung wert war und was wir brauchen, um sie für Sie machen zu können“. Das wäre hier doch auch nett gewesen. Pfarrer K. sagt: „Gehen Sie mit Gott und lassen Sie als Kollekte da, was Ihnen meine Performance und Ihre Rührung wert war.“

Aber nein. Mein Euro steckt noch im Taschentuch. Ich würde ihn jetzt gerne loswerden. Doch ich finde nicht mal einen Opferstock, mit dem für irgendeine Kirchenglocke gesammelt würde.

Gaben

Draußen ist es jetzt siedend heiß. Die mitgebrachten Blumen wurden während der Andacht vor dem Kircheneingang abgelegt und werden jetzt wieder aufgenommen. Sie hängen schlapp da, sie müssen aufs Grab.

B. drückt mir einen Strauß in die Hand. Sie hat gesehen, dass ich ohne Blumen gekommen bin. Der Strauß ist die offizielle Anteilnahme vom Dorfverein MöHRe, in dem auch ich Mitglied bin. B. hat außer ihrem privaten Strauß auch den Vereinsstrauß besorgt und findet es besser verteilt, wenn ich den nehme.

Wieder steigt ein Bild aus meiner Kindheit auf. Eine große Dorfhochzeit. Ungefähr in der Zeit, als mein Onkel Walter gestorben ist, hat meine Tante Gisela geheiratet. Ich wurde in ein rosa Kleid gesteckt, bekam einen Kranz auf den Kopf und ein Körbchen in die Hand, um Blumen zu streuen. Ich teilte mir die Aufgabe mit meiner Kusine Erika. Ich streute freigebig den langen roten Kirchenläufer voll. Erika ließ nur ab und zu eine Blüte fallen. Vielleicht hatte sie ihre Aufgabe anders verstanden: dem Brautpaar einen Korb voll Blumen vorantragen. Als wir am Altar ankamen, war mein Korb leer. Nach der Trauung mussten wir uns zum Gruppenfoto vor der Kirchentür aufstellen. Der Fotograf arrangierte uns. Erika und ich ganz vorne. Wie selbstverständlich griff er in ihren Korb und verteilte die restlichen Blüten auf beide Körbe. Erika protestierte, aber es nützte nichts, und es verstand auch keiner.

Ich gebe dem Strauß an M. weiter, die auch keine eigenen Blumen dabei hat, schon zuständigkeitshalber. Sie ist im MöHRe-Vorstand, ich nicht mehr.

Die Abschiednehmenden formieren sich zu einem großen Bogen, der am offenen Urnengrab endet und sich dahinter auflöst. Der Rand des kleinen Lochs im Boden ist mit einem Blumenkranz umlegt; er sieht genau so aus wie der auf dem Ständer in der Kirche. Alle treten paarweise an, ich nicht, ich bin alleine. Das spürt man hier doppelt. Familie P. ist schon durch und hat sich weit weg am Friedhofszaun aufgestellt, damit ja keiner kondolieren kommt. Pfarrer K. steht daneben, um den Ablauf zu überwachen und beizustehen.

Dann kommt die erwachsene Tochter noch einmal zum Grab zurück. Sie hat das vierjährige Enkelkind an der Hand. Es trägt ein großes Blatt Papier, auf das es ein Flugzeug gemalt hat. Das Papier wird als Grabbeigabe in das Erdloch gesteckt. Tränen der Rührung rollen durch die Gesichter. Ein Hinweis an Pfarrer K., seine Beerdigungs-Performance zeitgemäßer zu gestalten: Man verschwindet heute nicht mehr mit dem Schiff ins Nirgendwo, das er „Jenseits“ nennt, sondern mit dem Flugzeug!

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