vonImma Luise Harms 31.07.2015

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Zunächst ist zu fragen: Was ist ein Fleck? Er ist im Allgemeinen von Flüssigkeiten verursacht, die sich dort ausgebreitet haben, wo sie nicht sein sollten. Sie dringen in das Gewebe ein, tränken es sichtbar mit der fremden Substanz. Das sieht unrein aus. Manches geht weg, wenn das Gewebe trocknet, anderes muss mit Gegensubstanzen herausgelöst werden. Es gibt auch Flecken, die sich dem Untergrund nur überlagern, ohne sich verbinden zu können; die wischt man einfach weg. Untertassen schützen das Tischtuch vor Kaffeeflecken. Ich habe keine Untertassen, weil ich auch kein Tischtuch habe.

Die Kaffeetassen stehen leer vor uns. Auf den Kuchentellern sind Spuren der Erdbeertorte. Frau B. wischt mit einer unbewussten Handbewegung die Krümelreste zwischen Teller und Tischkante zusammen. Sie will noch was loswerden.

Wir sitzen schon ein bisschen zusammen. Sie ist gekommen, um für Thomas eine Flasche Wein abzugeben, als Dank dafür, dass er die Rentnerinnen aus Reichenow zur Seniorenfeier gefahren hat. Ich habe sie zu einer Tasse Kaffe überredet. Ein Stück Kuchen hat sie dann auch noch angenommen. Sie sitzt auf meiner Küchenbank und hat ein halbes Stündchen geplaudert. Und jetzt reibt sie die Kuchenkrümel zusammen. „Aber Imma, eins muss ich dir aber nochmal sagen: Die LPG-Verwaltung war kein Schandfleck! Und das war auch keine Baracke. Das war ein ganz richtiges, normales Gebäude, war ja sogar zum Teil unterkellert. In der Zeitung schreiben sie von einer Baracke, und dass es gut wäre, dass dieser Schandfleck jetzt aus dem Dorf verschwunden wäre. Das kann mich richtig aufregen. Da hätte ich fast einen Leserbrief geschrieben!“

Frau B. ist 80. Sie war Chefbuchhalterin der LPG Morgenrot in Reichenow. Und das Gebäude, von dem die Rede ist, war viele Jahre ihr Arbeitsfeld. Das lang gestreckte eingeschossige Gebäude mit der grauen Fassade auf der Grenze zwischen Schloss und Gutshof stand seit der Wende leer und war jahrelang Gegenstand eines Rechtsstreites zwischen der Agrargesellschaft und der Schlösserverwaltung. Der einen gehörte das Gebäude, der anderen das Grundstück. Das Haus lag im Dornröschenschlaf. Immer wieder standen Leute davor und haben gerätselt, was das war und was das werden soll. Manchmal haben sich die Interessierten auch die Schlüssel besorgt und sind durch die Büroräume gegangen. Alles war leer, aber nicht kaputt, eben nur leer. Die Räume, allesamt mit eingebauten Wandschränken, umgaben einen zentralen, T-förmig angelegten Flur und waren gleichzeitig auch alle untereinander verbunden. Nur das Chefzimmer in der Ecke hatte keinen direkten Zugang zum Flur, sondern nur über das davor gelegene kleine Sekretariat oder den großen Versammlungsraum auf der anderen Seite. Man konnte es sich immer noch gut vorstellen: Die Belegschaft der LPG sitzt auf den Stühlen bereit, an der Stirnseite öffnet sich die Tür, heraus tritt der LPG-Vorsitzende und hält eine Ansprache.

Die BesucherInnen haben davon geträumt, was man hier machen könnte: Kindergarten, Vereinsräume, eine große Wohngemeinschaft, Werkstätten, Übernachtungsmöglichkeiten für Touristen. Einige sind bis tief in die Bürokratie vorgedrungen, um herauszufinden, ob es eine Chance auf Verwirklichung gibt. Es gab sie nicht.

Schließlich haben sich Schlösserverwaltung und Agrargesellschaft doch noch geeinigt; das Haus ging an die Schlösser GmbH; die hat es abreißen lassen, um den ursprünglichen, den „historischen“ Zustand des Schlossparks wieder herzustellen.

Die Reichenower haben es geschehen lassen. Was die LPG-Zeit betrifft, sind sie in eine merkwürdige Geschichtsstarre gefallen; das private Festhalten an den Erinnerungen verbirgt sich unter der öffentlichen Ignoranz. Wenn die BesucherInnen nach ihrem Musterungsrundgang auch die Fenster aufgemacht hatten, um zum Beispiel die Rahmen zu prüfen, hat Frau B. sich später manchmal den Schlüssel geholt und hat die Gardinen wieder ordentlich zugemacht. Fehlende oder offene Gardinen sind für sie ein Zeichen von Verwahrlosung.

Das Wort „Schandfleck“ hätte nicht kommen dürfen. Das ist ein schmachvoller Tod für das Gebäude und ein unrühmliches Ende für eine lange Ära im Leben der Chefbuchhalterin. „Es war alles noch in Ordnung“, beklagt sie sich jetzt. „Das Dach war in Ordnung, alle Fenster heil. Keine Scheibe eingeworfen, keine einzige Schmiererei auf der Fassade“. Aha, das wäre also ein Schandfleck für Frau B. Unbefugtes Beschriften. Wahrscheinlich auch Gebäude, die unautorisiertes Eindringen und unvereinbarte Nutzungen möglich machen. Mein Mitgefühl kühlt wieder ab. Aber was ist eigentlich ein Schandfleck? Und was ist ein Schandfleck in einem Dorf?

Herr Z. ist Gast im Gemeinderat. Er vertritt eine Firma, die Solaranlagen baut. Und zwar nicht auf Dächern, sondern auf so genannten Brachen. Das sind zum Beispiel leer stehende Stallungen auf ehemaligen LPG-Geländen. In der DDR-Zeit wurde praktisch alles mit Beton übergossen. Die Gebäude und alle Mauern waren aus Betonteilen zusammengesetzt, Wirtschaftsflächen wurden plattbetoniert. Überall wachsen jetzt die Pflanzen durch die Ritzen, der Beton bricht, aber verschwindet nicht. Entsiegeln nennt man das Verfahren, wenn die Betonkruste vom Boden entfernt wird. Das ist teuer, das lohnt sich nicht. Felder aus Solarpanelen kann man auf versiegelten Flächen bauen. Sogar besonders gut. Man braucht allerdings trotzdem eine Baugenehmigung – und die Zustimmung des Gemeinderates. „Was haben wir davon, wenn wir Ihnen die Zustimmung zu dem Solarfeld geben?“, frage ich herausfordernd. Herr Z. pariert gelassen: „Sie haben einen Schandfleck weniger die Dorf.“ Damit hat er die Gemeinderatsmitglieder auf seiner Seite. Leer stehende Ställe auf großen betonierten Flächen, die langsam reißen, weil sich Goldrute und Birkenschösslinge durch sie hindurch arbeiten, das sind Schandflecken, das sehen sie auch so. Ich nicht.

Leere Gebäude, ungenutzte Gelände sind Orte des Träumens und der Verheißung. Sie weiten die öde, schnöde, eingespurte Wirklichkeit des nun mal Geschehenen, des faktisch Verfügbaren, des Machbaren und Notwendigen, diesen kargen Zeitstrahl, zu dem zauberhaften kontingenten Doppelkegel, der sich vom gelebten Augenblick in Vergangenheit und Zukunft streckt.

Was hätte gewesen sein können? Wer könnte auf diesem Hof gearbeitet haben, wer in diesem Haus gewohnt haben? Ich betrachte den brüchigen Beton und ich sehe stallwärts trottende Rinderherden, Wagen mit hoch gestapelten Heuballen; ich sehe Handwerker, die ein neues Tor einsetzen, Traktoristen mit schweren Schraubenschlüsseln. Ich betrachte das Haus mit den leeren Fensterhöhlen und den zerschlagenen Eingangstüren, umgeben von wild wuchernden Gestrüpp, und ich sehe wehende Gardinen aus den geöffneten Fenstern, Stimmen aus dem Haus, Kinder, die auf dem Pflaster Seil springen, Menschen, die an gedeckten Tischen unter den Bäumen sitzen.

Oder was könnte noch sein? Wieder betrachte ich den Boden und die baufälligen Gebäude auf dem verlassenen Gelände und sehe was ganz anderes. Man könnte hier doch ein Kinderferienlager einrichten. Dort könnte eine Gokart-Bahn hinkommen, hier eine Riesenwippe. An dem Schuppen können die Kinder selbst bauen. In das Haus da drüben kommt die Küche, dort der Essraum. Der alte Heuschober könnte der Schlafraum werden. Oder ich sehe ein Freiluft-Sommerkino. Dort, die Wand, das wird die Projektionsfläche. Hier kommen die Sitzgelegenheiten hin, dazu kann man die Paletten nehmen, die da hinten noch liegen. Der Rest vom Stall reicht, um die Projektionstechnik darin unterzubringen. Und aus dem alten eisernen Rahmen, die halb überwuchert in der Ecke liegen, machen wir einen Licht-umwobenen Eingangs-Torbogen.

Ja, vielleicht. Warum nicht. Man könnte doch mal nachfragen. Aber selbst wenn man nicht nachfragt, wenn man das Ganze bald wieder vergisst – Wildnis, Brachen und Ruinen gehören zum Traumreich.

Es ist ja nicht so, dass diese Denk-Dimension überhaupt keinen Raum im etablierten Bewusstsein hätte. Es gibt Urwälder und Industriedenkmäler. Und wenn es eine Burg- oder Schlossruine wäre oder eine alte, halb eingestürzte Köhlerhütte im Wald, wären die Schandflecken-Jäger wahrscheinlich entzückt. Das sieht nach Märchen oder wenigstens nach Filmkulisse aus. Warum sind am Strand angespülte Schiffsplanken oder Tonkrüge romantisch, Plastikkanister dagegen einfach Müll?

Aber es ist geht nicht nur um das Dysfunktionale, das halb Zerstörte oder nie fertig Gestellte. Am Dorfende hat sich jemand einen Campingwagen in den Vorgarten gestellt, noch einen Brettervorbau gemacht und den mit bunten Wimpeln geschmückt. Eine Verwandte hat da eine vorübergehende Unterkunft gefunden. Im Gemeinderat heißt es wieder: „Schandfleck – muss weg!“ Wieso Schande, frage ich wieder. Eine Schande für das Dorf, wird mir geantwortet.

Nochmal: Was ist Schande? Es hat etwas mit Ehre zu tun. Und Ehre ist eine Größe gesellschaftlicher, also gegenseitiger Wertschätzung, das wiederum ist ein Vorzeichen, unter dem man sich gegenseitig begegnet. Man kann sagen: Ehre, Schande, so was interessiert mich nicht. Aber das wäre nur überzeugend, wenn man sich von den Menschen seiner Umgebung unabhängig machen könnte. Wer kann das schon? Und wer will das schon? Man kommt also nicht daran vorbei: es muss darüber gestritten werden, was Ehre oder was Schande über ein Dorf bringt, oder was sich als solches in den Köpfen festsetzt.

Schande ist also, was durch unmoralisches, ungerechtes, unsittliches Verhalten hervorgerufen wurde; Ehre das umgekehrte. Nach allgemeinem, unwidersprochenem Verständnis. Oder nach einem zu zeigenden Zusammenhang mit anderen allgemein akzeptierten Grundsätzen des menschlichen Zusammenlebens. Das sehe ich meine Chance. Der Schandfleck verschwindet unter Umständen, wenn man beharrlich genug danach fragt, wer hier aus welchem Grund Schande auf sich geladen hat.

(Fortsetzung folgt)

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