vonImma Luise Harms 31.03.2016

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

Was Aristoteles zum epischen Erzählen sagt, ist nicht überliefert. Er grenzt es in seiner Abhandlung über die Poetik vom dramatischen Erzählen ab, also vom richtigen Aufbau der Tragödie. Unklar, aber interessant ist, wie sich dieses „richtig“ versteht. Es kann „folgerichtig“ heißen oder „sinnvoll“ oder „wirksam“ oder „gewöhnlich wird es so gemacht“. Tatsächlich leitet Aristoteles seine Regeln aus der Analyse einer Reihe von Dramen ab, die er betrachtet. Diese Regeln wendet er dann zur Beurteilung wiederum auf die zeitgenössischen Dramen an. Ist das nicht ein Zirkelschluss?

Aber um die Dramen geht es mir hier gar nicht, sondern um das epische Erzählen. Es ist in Aristoteles’ Argumentation nur als Abdruck vorhanden, also als das, was er nicht meint.

Wir liegen nebeneinander auf dem Gras am Oderufer. Es ist Ostersonntag. Wir haben uns direkt neben den Weg gelegt, der über den Deich zur Wasserkante führt. Drei Frauen mit Lebenserfahrung, deren gereifte Rundlichkeit im Gras verflacht. Wir sehen die zarten Wolken, die zwischen den hohen, noch kahlen Zweigen der Weiden daher treiben. Sie sind wie eine Spiegelung der Flussströmung, die außerhalb unseres Gesichtsfeldes ist, die aber auch, wenn man direkt an der Wasserkante steht, in der trägen, unter dem Himmel ausgebreiteten Wasserfläche nur sichtbar wird, wenn ein Zweig eilig dahertreibt oder das Wasser sich an einem Hindernis bricht. Dann sagt man: „Ist aber ne ganz schöne Strömung“ und erzählt Geschichten davon, wie man mal in der Oder gebadet hat und nicht gegen die Strömung anschwimmen konnte. Und dann folgt eine andere Geschichte von der starken Strömung in einem anderen Fluss, zum Beispiel der Aare, in der man sich um Bern herumtreiben lassen kann, und dann fällt einer etwas zu einem Fluss ein, der auch sehr schön ist, und dann zu der Landschaft, durch die man bei der Gelegenheit gereist ist. Und dann sagt eine: „Wolln wir noch nen Kaffee trinken?“ Und man wendet sich ab vom strömenden Wasser und auch die Geschichten strömen für eine Weile nur unterirdisch weiter.

Wir trinken später Kaffee, jetzt liegen wir hier. Die Osterbesucher ziehen an uns vorbei. In ihren Gesprächen sind sie woanders. Was sie neulich zur Kollegin gesagt haben, was sie für den Urlaub planen, wo sie ihren Blumendünger kaufen. Die Kinder ziehen so mit. Die Gesprächsfetzen schwimmen ineinander, unscharf und mit vagem Ausgang des Erzählten. Wir sehen die Leute nicht, aber sie sehen uns, es fallen dann auch mal Bemerkungen. „Ist doch noch zu feucht, das Gras.“ „Da würd ich mich aber nicht hinlegen, so dicht am Weg.“ Sie meinen uns nicht direkt, denken vielleicht sogar, dass wir das gar nicht hören, weil wir, so daliegend, keine Adressatinnen sind, sondern einfach Objekte.

Wir reden über Serien, also Fernsehserien. Ich habe vor ein paar Jahren, als das mit dem Seriengucken so exessiv wurde, nicht verstanden, wie das funktioniert. Fernseh-Serien gibt es ja schon lange. Auch den Hype darum, die Identifikation. Ich habe das auch vor längerer Zeit schon mal durchdacht, weil mir da ein Unterschied aufgefallen war. Deutsche Serien bildeten hübsche kleine Häkelmuster – ein paar Luftmaschen an Problemen, dann wieder zurück ins Ausgangsloch und rüber ins nächste Loch und immer schön in der Reihe bleiben. Amerikanische Serien wie „Dallas“ oder „Denver“ spielten mit dem Verruchten. Jede Bosheit war Ausgangspunkt von Handlungskomplikationen; nichts wurde gelöst, nur immer weiter verstrickt und dabei die Bindung der Zuschauer an die Hauptpersonen im Guten wie im Schlechten immer enger gezurrt.

Neulich, als ich krank war, hat mir jemand einen Packen DVDs geliehen. Ich habe in einer Woche zehn DVDs mit ungefähr dreissig Folgen von „Borgen“ gesehen, das ist eine dänische Serie über eine Politikerin. Da habe ich begriffen, wie der Sog entsteht. Er wirkt eben ganz wesentlich darüber, dass die Folgen nicht mehr wöchentlich zugeteilt werden, sondern ständig verfügbar sind, entweder in so einem DVD-Schuber oder einfach im Internet. Man kann sie haltlos in sich reinfuttern. Märchen aus 1001 Nacht, Cliffhanger; man will immer wissen, wie es weiter geht, aber es löst sich nichts, die alten Problematiken werden nur von neuen überlagert. Man wird von der ersten Erwartungsfährte weggelockt auf eine andere, der man genau so begierig hinterher schnüffelt. Erschöpft lässt man nach der letzten verfügbaren Folge vom Mitfiebern mit der Protagonistin ab, wartet auf die nächste Staffel. Inzwischen wird man von einer anderen Serie ergriffen.

Jammer und Schaudern“ soll von der Erzählung erregt werden, postuliert Aristoteles. Und bei der Tragödie soll diese an den Helden gekettete Empfindung in einem schönen, ausgewogenen Bogen von der Exposition über den Spannungsanstieg, den Handlungsumschlag hin zur Katharsis und Lösung in der Katastrophe geführt werden. Dann geht man gereinigt und entspannt nach Hause. Genau das wird dem Leser des Epos und der Zuschauerin der Serie vorenthalten. Es gibt immer einen Rest. Odysseus wird, auch wenn das einzelne Abenteuer bestanden ist, weiter vom Meer festgehalten, kommt nicht nach Hause. Und auch Birgitta, die charismatische Politikerin aus „Borgen“, kann ihren ekligen Widersacher von der Arbeiterpartei nie endgültig abschütteln. Man kann weiter hoffen und bangen.

G. erzählt von einer englischen Serie „Downton Abbey“, sie spielt im viktorianischen Adelsmilieu, zwischen Keller, Belletage und dem Obergeschoss mit den Privaträumen. Die Anordnung kenne ich aus „La Regle du Jeu“ und „Gosford Park“. Das kann ich mir gut vorstellen; durch den Repräsentationsbau zieht sich ein endloses Band aus Ehrgeiz und Verfall, lustvollen Intrigen, opferbereiter Loyalität, aus feinem Benimm und proletarischem Kontrapunkt. C. erinnert sich bei der Erzählung an eine andere Serie, die in Grönland spielt. Ein paar Pointen, ein paar Bilder daraus mischt sie der Erzählung von G. unter, bis das Interesse zu der neuen Serie abgewandert ist. Konkurrierende Erinnerungen, eine Assoziationskette, die sich zu einem eigenen Fluss verbindet.

Neben mir liegt ein Gummihammer. Er hat drei Euro gekostet. Auf der anderen Seite des Deichs stehen ein paar Häuser. Als wir auf dem Hinweg daran vorbeigekommen sind, haben wir gesehen, dass eines zum Verkauf steht und leergeräumt wird. Die Besitzer oder Erben haben in der Garage einen Trödelmarkt eingerichtet. Viele Ostertouristen schauen da mal rein. Es sind nur noch Reste da. K. kauft einen Spiegel, den wir auf dem Rückweg abholen werden. Mein Blick fällt auf den Gummihammer. Ich nehme ihn in die Hand, bewege ihn hin und her. Brauch ich den? Will ich den? Ist drei Euro billig? Eigentlich wäre der Rindenabzieher daneben noch viel interessanter, zwei Griffe, dazwischen eine scharfe Klinge. Aber wievielen Bäumen werde ich noch die Rinde abziehen? Man könnte damit auch einen Tannenbaumfuß anspitzen. Acht Euro, ist das viel? Andererseits ein schönes Werkzeug, irgendwie sehr handwerklich. Ich kaufe schließlich den Gummihammer als Abblenkung von dem Rindenabzieher. Einen Gummihammer kann man immer brauchen.

Während wir liegend über Serien reden, knibbele ich das Preisschild ab, das noch am Stiel klebt. Jetzt kann ich den Hammer erst in seiner ganzen Schönheit sehen. Ich halte ihn auf Armlänge in die Luft. Der Schaft hat kurz unter dem Gummikopf eine ganz leichte Verjüngung. Man kann sie kaum wahrnehmen. Sie macht eigentlich keinen Sinn, denn man fasst den Stiel ja weiter unten an, wenn man zuschlägt, wegen der größeren Hebelwirkung. Aber die unmerkliche Taille gibt diesem derben Werkzeug einen Hauch von Eleganz. Das ist irgendwie rührend.

Der Gummihammer ist mir ins Auge gesprungen, weil mein Kopf noch voller seltsamer Werkzeuge ist. Vor dem Ausflug an die Oder waren wir in Altranft im wieder eröffneten Museum. Der neue Museumsverein hat nach langen Reibereien das Schloss und andere Ausstellungsorte im Dorf übernommen und will die Ausstellungen neu einrichten.

Ich hatte schon von K. und L. gehört, wie schwer es ist, aus der unglaublichen Menge von gesammelten und eingelagerter Gegenständen eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Da haben sie sich klug entschlossen, erstmal alles zu zeigen und auf Kommentare zu warten, bevor mit der Aussortierung angefangen wird.

Und da liegt also ein ganzer Tisch voll mit Hämmern – Maurerhammer, Zimmermannshammer, Schusterhammer, große, kleine, Metall-, Holz-, Gummihammer. Voller Genugtuung stelle ich fest, dass ich viele davon auch habe, und jetzt eben auch den Gummihammer.

Der Tisch mit den Hämmern steht neben anderen Werkzeug-Ansammlungen im ersten Stock des Schlosses, in einem Hinterzimmer, das früher nicht für den Besuch geöffnet war. Hier waren wahrscheinlich die Schränke mit den dicht gepackten zusammengesammelten Gegenständen, die sich jetzt über das Haus ausgebreitet haben. Die Schränke sind auseinander gerückt und geöffnet. In einem sehe ich alle möglichen Garderobenständer und Hakenleisten, aus Holz, Metall und Kunststoff, manche auch kaputt.

Die Mitarbeiterinnen aus der DDR-Zeit und den zwei Jahrzehnten danach haben wohl mehr oder weniger alles entgegen genommen, was ihnen angeboten wurde. Sie haben sich anscheinend ratlos gegenüber der Entscheidung gefühlt, welcher der Garderobenhalter denn nun typisch für welche Epoche ist und ob ein billiger Nachbau eines wertvolleren älteren Teils nicht auch auf eine bestimmte Weise typisch und damit aufhebenswert ist. Das finde ich eine schöne Vorstellung. Vielleicht wollten die Verantwortlichen aber auch einfach nichts verkehrt machen und deshalb eigene Entscheidungen vermeiden oder auf eine spätere Zeit verschieben; das finde ich nicht so eine schöne Vorstellung.

In diesen Hinterzimmern waren vielleicht auch die Schreibtische der Museumsangestellten, die die hergebrachten alten Kochtöpfe oder Stiefelknechte entgegen genommen und in Ordner eingetragen haben. Dann haben sie für jedes Teil mit der Hand eine Karteikarte beschrieben und sie mit einem Bindfaden daran befestigt. Auf der Karte steht nicht, von wann, von wo und von wem die Gegenstände sind, sondern einfach nur, was es ist, zum Beispiel „Topfdeckelhalter“.

Der Witz ist, dass die Pappzettelchen schon vorher Karteikarten waren, offenbar aus einer aufgelösten Bibliothek. Auf der Rückseite steht mit Maschine geschrieben eine andere Signatur und ein Buchtitel. Die Karteikarten bilden so janusköpfige Verweise in zwei unterschiedliche Erzählräume, die sich unabsichtlich gegenseitig kommentieren. An einem grünen Rucksack hängt ein Kärtchen, auf dessen Rückseite der Buchtitel „Die Nacht von Stalingrad“ steht. Und schon sieht man den Träger des Rucksacks nicht mehr zum Angeln gehen oder einen Jagdausflug machen, sondern durch einen Schützengraben robben.

L. hat uns später erzählt, dass sich die letzten Schlossbesitzer in den Hinterzimmern mit den Werkzeugen umgebracht haben, als die Russen kamen. Die Kinder haben sie mit den Dorfbewohnern auf den Treck nach Westen geschickt und sich selbst erschossen.

Mit dem Rücken im Gras am Oderdeich, mit den Augen im Himmel, mit den Gedanken im Schloss Altranft können wir das Geschehen mühelos in eine Serie wie „Downton Abbey“ einbauen. Der Treck ist schon halb über den Hügel, aus dem Schloss hört man zwei Schüsse, die ältere Tochter sieht sich noch einmal um, erzählt dem kleinen Bruder, dass das die Jäger sind und dass Mama und Papa bald nachkommen.

In der nächsten Folge ist die russische Kommandantur im Schloss. Die rauhen, ungehobelten Soldaten fangen an, auf den Stuck in der Eingangshalle zu schießen. Als die ersten Brocken herunter fallen, schreitet der Hauptmann, Klavierspieler und Liebhaber der deutschen Romantik, ein; strenge Disziplinarmaßnahmen folgen. Das Schloss bleibt intakt und wird heil der nachfolgenden DDR-Verwaltung übergeben. Die lässt die bedrohte Stuckdecke notdürftig und auch ein bisschen verständnislos flicken. Die feudale Klasse, das ist doch längst vorbei. Warum nicht runter mit dem ganzen Plunder? Aber man ist inzwischen vorsichtig. Eilfertigkeit ist angebracht, Voreiligkeit nicht. Also wird das Ganze notdürftig repariert und bleibt für die nächsten Jahrzehnte so.

In der folgenden Staffel halten feine Metallspangen  das Monumentalfries mit der Jagdgesellschaft zusammen; weiß übertüncht übersteht es die DDR-Zeit, die Nachwendezeit. Immer wieder gleitet die Kamera zur Decke, wenn eine Szene in der Eingangshalle auf dem farbenprächtigen Terrazzoboden endet. In der letzten Folge kündigt sich eine Wende an. Man denkt inzwischen anders über die Feudalzeit. Die übermalten Metallspangen werden entfernt, die einzelnen Stuckelemente katalogisiert, numeriert und mit Kreuzschlitzschrauben an der Decke befestigt. Später soll das alles runter und sorgfältig überarbeitet werden. Die junge Restauratorin steht auf dem Rollgerüst. Eine der herausgezogenen Metallspangen fällt ihr herunter. Der alte Museumsdirektor hebt sie auf und steckt sie lächelnd in die Tasche. Er ist durch den neuen Museumsverein ersetzt worden, er geht in den Ruhestand, unter Protest der anderen Ehemaligen. Keiner weiß, dass er schwer krank ist…

In Aristoteles’ verschollenem Text über die Epik, stelle ich mir vor, könnte etwas über das Ineinandergreifen der Erzählformen stehen, über die große Form, die kleine Form und die Textur. Die Textur, das hat er in der Poetik angedeutet, können Versformen sein, Hexameter wie in Homers Dichtungen, eben eine bestimmte Ausdrucksweise im einzelnen Satz. Die kleine Form, das sind die Bögen, in denen die Erwartungen der Zuhörenden in den einzelnen Episoden geführt werden, durch eine episodenhafte Entwicklung, aber eben nicht zum Ende, man könnte sagen, dialektisch auf eine andere Ebene gehoben.

Die große Form, das ist das Zusammengefügte, die Synergie der einzelnen Episoden, mit den beinahe unmerklichen Verschiebungen von Perspektiven und Aufmerksamkeitsschwerpunkten. Die große Form ergibt sich mehr, als dass sie komponiert wird. Wer nach langer Zeit vom Epos ablässt oder von ihm losgelassen wird, ist nicht gereinigt und entspannt, wie als Ergebnis des Dramas gefordert wird, sondern erschöpft und traurig und auf eine unmerkliche Weise verändert. Die Geschichte selbst ist ein Epos. Nur wie erzählt man sie?

(es geht noch weiter, Teil 2 folgt bald)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2016/03/31/epischer-blog/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert