vonImma Luise Harms 30.04.2016

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ich möchte heute über den Mund sprechen. In zweifacher Weise. Innen und außen.

Die Lippen oder eigentlich der ganze Haut- und Muskelkomplex, von dem sie das Ende, die Öffnung sind, umschließen die Mundhöhle. In die Mundhöhle schieben wir unser Essen. Die Lippen erfassen es; die Zähne kauen es; die Zunge wälzt es hin und her; der Gaumen schmeckt es und sendet Signale der Freude; der Speichel macht die Brocken gefügig. Sie rutschen dem Schlund entgegen, wo sie durch eine unversehens ausgelöste Schluckbewegung in die Speiseröhre geschoben werden.

Was danach kommt, wollen wir nicht wissen; es ist die Hölle, eine stinkende Hölle. Im Magen wartet das Säurebad. Das Essen wird geätzt, gespalten, nach schnell Verwertbarem durchsucht; der Rest wird weiter gedrängt. Was da los ist, ahnen wir, wenn wir mal in die elende Lage kommen, erbrechen zu müssen. Süßlich-säuerlich, fürchterlich.

Von dem, was zum Schluss vom Essen bleibt, wollen wir erst recht nicht reden. Man kann über den Kot, also die bis dahin nicht verwerteten Reste des Essens, in wissenschaftlicher oder sonstwie distanzierter Weise reden, über den Mineraliengehalt zum Beispiel wenn es um Dünger geht. Man kann von Biomasse reden, was dann in Terra Preta verwandelt wird, die Wundererde, aus der Füllhorn-mäßig das neue Gemüse sprießt. Das geht aber nur deswegen, weil die Masse inzwischen weit genug vom Körper weg ist, eine Substanz an und für sich. Andererseits ist dauernd von „Scheiße“ und „Arsch“ die Rede; das lässt sich selbst aus der medialen Hochkultursprache nicht raushalten. Aber eben nur in metaphorischer, also ebenfalls distanzierter Weise. Niemand will konkret wissen, wie die Ausscheidung den Körper verlässt, niemand will sehen, wie die Körperöffnung von den Resten des Ausscheidungsvorganges gereinigt wird. Dazu schließt man sich im Klo ein.

Warum, warum, warum ist es dann Mode geworden, sich in aller Öffentlichkeit die Zähne zu putzen? Ich meine, nicht alle Nahrung rutscht durch den Schlund ins Unsägliche; vieles bleibt auch in den Zähnen hängen – Körner, Salatblättchen, Fleischreste. Da liegt es nicht etwa wie in einem Kühlschrank-Seitenfach. Nein, es wird in ähnlicher Weise wie im Magen von den körpereigenen Säften angegriffen und zersetzt. Es gärt und fault. Wenn man sich nicht die Zähne putzt, stinken die Essenreste in den verschiedenen Winkeln der Mundhöhle vor sich hin, und die Zähne greift es auch an. Deshalb also Zähne putzen. Schon die Kleinstkinder kriegen Bürsten in die Hand gedrückt, an denen sie die ersten Jahre auch noch herumlutschen dürfen. Wichtig ist, dass es zur Gewohnheit wird. Morgens, abends, und manchmal auch noch mittags nach der Mahlzeit. Mutter und Vater stehen daneben, freuen sich und sagen: „Schön machst du das!“ Und das Kind ist stolz.

Die Zähne werden mit Zahnpasta einshampooniert, es bildet sich Schaum im und teils auch vor dem Mund, der nach dem Schrubben auch die fauligen, jedenfalls mit Speichel durchsetzten Essensreste enthält. Ich beuge mich dazu über das Waschbecken und ich finde es selbstverständlich, dass ich zu diesem Zahnreinigungsakt, der ja von dem Vorgang des Erbrechens gar nicht so weit entfernt ist, allein bin.

Warum kommen meine Gäste mit der Zahnbürste im Mund aus dem Bad, stellen sich an den Tisch, an dem wir vor den leer gegessenen Tellern sitzen, weil sie sich bei dieser Verrichtung noch ein bisschen weiter unterhalten möchten? Und dabei tritt ihnen dann womöglich noch etwas von dem gärenden Geifer aus dem Mund. Ich versteh es nicht und es verursacht mir einen Brechreiz. Meine Magensäfte werden von dem Anblick fremder Spuckeblasen osmotisch nach oben gesogen.

Je nachdem, wie gut ich die Menschen kenne, die mir dies Gesabber zumuten, bitte ich, doch solange im Bad zu bleiben, oder verdrücke mich selbst unter einem Vorwand. Ich kann mich aber trotz des Ekelgefühls nicht davon abhalten, heimlich zu beobachten, wo sie denn mit der Mischung aus Zahnpasta, Essensresten und Spucke bleiben. Schlucken die das runter? Oder behalten sie es im Mund, bis sie die Zahnbürste zurückbringen, und spucken sie dann unbeobachtet ins Waschbecken?

Ich habe aber gelernt, man kommt nicht dagegen an. Die Gewohnheit wird durch jede Familienserie im Fernsehen, in der natürlich ständig Zähne geputzt werden, weiter eingeschliffen. Dort wird sie regelrecht als Botschaft platziert: Gemeinsames Zähneputzen ist Ausdruck von Offenheit und Vertrauen und wird damit zum Code.

Gestern habe ich einen Film über die senile Margret Thatcher gesehen. Selbst da steht ihr Ehemann, der eigentlich schon tot, also ein Gespenst ist, neben ihr, lüllt an seiner Zahnbürste und redet auf sie ein. Das kann erstens nicht sein; ein Gespenst isst nichts und muss sich folglich auch nicht die Zähne putzen. Es ist außerdem nicht nur unappetitlich sondern auch historisch falsch. Selbstverständlich sind die Menschen aus dieser Generation zum Zähneputzen diskret ins Bad gegangen. Durch die Historisierung wird der öffentlich-Zähneputzen-Codes wird er noch unangreifbarer. So gucken mich auch meine Gäste erschrocken an, wenn ich sie bitte, ihren Schaum vorm Mund im Bad zu lassen. Sie schämen sich nicht für ihr Benehmen sondern für mich, was ich da für einen rätselhaften Ausfall habe, machen aber höflich kehrt und tun mir den spleenigen Gefallen.

Warum, warum, warum? Das muss doch einen Grund haben, dieser gezielte, medial ständig verstärkte Eingriff in unser Alltagsverhalten? Mir fallen düstere Deutungsmöglichkeiten ein, denen ich hier nicht weiter nachgehen möchte.

Und nun komm ich zum Außen des Mundes. Die Lippen liegen aufeinander – weich und entspannt, erwartungsvoll leicht geöffnet oder entschlossen zugepresst, zum Lächeln auseinander gezogen oder nachdenklich gekräuselt. Die Lippen nehmen nicht nur das Essen entgegen, formen die Sprache und signalisieren die Stimmung. Sie sind der rätselhafte, im Gegensatz zu anderen Körperöffnungen sich offen darbietende Eingang zum leiblichen Gegenüber. Sehnsuchtsvolle Blicke hängen an den Lippen: wie komm ich in dieses Wesen rein?

Der Kuss: Lippen möchten sich berühren. Als Kind habe ich vom Küssen gelesen – ich konnte sehr früh lesen – und es mir vorgestellt, noch ehe ich es selbst genauer beobachten konnte. Wenn sich Lippen auf Lippen legen, ist die Nase doch im Weg! Erst später, als der Filmkuss nicht mehr ausschließlich von hinten gezeigt wurde, hat sich mir die Kulturtechnik des Küssens erschlossen: Die Nasen weichen sich aus, die Münder liegen dadurch schräg übereinander. Eigentlich überkreuzen sie sich. Ein Kusskreuz. Noch später habe ich praktisch gelernt, dass das nur der Anfang ist. Die Lippen öffnen sich im Verborgenen, die Zungen nehmen Kontakt auf, betasten sich. Wer besucht wen dabei? Ist auch nicht zu viel Spucke im Spiel? Jetzt bloß nicht an die Zähne stoßen (und nicht an die Essensreste denken)!

Vor dem Kuss kommt das Verlangen nach dem Kuss. Da spielt das Rot eine Rolle – angeblich, irgendwie. Daher der Lippenstift. Vielleicht, weil man sich dabei dem Körperinneren, dem blutdurchpulsten einen Schritt näher fühlt? (Ich übernehme hier die männliche Perspektive, denn es ist in unserer Kultur nicht üblich, dass die Männer mit bemalten Lippen locken.) Für mich als Frau war Lippenstift noch nie was. Man fühlt sich übertüncht und behindert – beim Essen, Trinken und Reden. Und beim Küssen sowieso.

Bei meinem ersten Rendezvous mit Thomas habe ich Lippenstift aufgetragen: ich wollte nicht geküsst werden. Nach einer langen Nacht unterwegs in Kreuzberg haben wir uns dann aber doch geküsst. Da war der Lippenstift längst durch die Lebensgeschichten abgetragen, die wir uns gegenseitig erzählt haben.

Weich, rot und feucht, das ist der lockende Mund. Wieso feucht? Und wie feucht? Ein kleiner Spuckefaden, der durch den Mundwinkel läuft, das ist falsch feucht. Die Feuchtigkeit muss gleichmäßig über den Lippen verteilt sein. Durchfeuchtung verheißt Erwartung, da sind die Lippen wohl das Bild einer anderen, verborgenen weiblichen Körperöffnung. Erwartung verheißt Willfährigkeit, verheißt „leichte Beute“. Und warum, warum, warum wird das signalisiert, warum wollen Frauen leichte Beute sein?

An dem Tag, als ich den Film mit dem historisch falsch zähneputzenden Mr. Thatcher gesehen habe, stand ein Bericht über das neue Album einer gewissen „Beyoncé“ in der Zeitung. Auf den Artikel wurde mit einem Portraitfoto der Künstlerin hingewiesen, auf der ihr Gesicht im Halbprofil abgebildet war, sehr deutlich, sehr plastisch und sehr farbig. Im Grunde war es ein Portraitfoto ihrer Lippen. Die Zweideutigkeit des Bildes hat den Anstoß für die Überlegungen zu diesem Text gegeben. Anziehung und Abstoßung.

Die Einzelheiten der Lippen haben alle lateinische Namen, die dünnere, durchscheinende Haut über den wulstigen Lippenmuskeln, die leichte Kerbe in der Mitte der Oberlippe, der doppelzackige Ansatz der Hautpartie, die sich in einer leichten Furche bis zur Nasenscheidewand zieht. Dieser Doppelzack wird je nach dem Geschmack der Zeit mit Lippenstift herausgearbeitet oder eingeebnet.

Lippen von der Seite oder schräg von vorn betrachtet: Die Lippenhaut wölbt sich in einer Rundung nach außen und stößt in einer deutlichen Kante auf die Gesichtshaut, die in der Mundumgebung eher nach innen gewölbt ist, bei der Oberlippe stärker als bei der Unterlippe. Der Mund hat also, sowohl von vorn als auch von der Seite gesehen, eine klare Grenze. Und diese Grenze ist umkämpft.

Manche Lippen sind von Natur aus schmaler, manche werden im Alter dünner. Aber der Code ist: volle Lippen gleich jugendlich-sinnlich-schmachtende Erwartung. Dazu ist ja der Lippenstift da, um das herzustellen. Die Grenze wird nach außen verschoben – Landnahme im Gesicht. Die Feuchtigkeit, ja Sabbrigkeit stellen Lippenglanzmittel her. Und durch die wird, das kann man bei der Aufnahme von Beyoncé sehr schön erkennen, die Grenzüberschreitung der Lippenzone besonders deutlich akzentuiert. Über den Rand geschmiert, heißt das, wenn es dilettantisch passiert. Systematisch und professionell ist es eine Lippenerweiterung.

Eine Lippenerweiterung, die aber deutlich erkennbar ist, ja, die sich, so möchte ich fast vermuten, sogar absichtlich zu erkennen gibt. Und da muss ich wieder fragen: Warum? Was ist die Botschaft dieser roten, ins Gesicht überlabbernden Fettschicht, dieses überkochenden Topfes, dieses überschäumenden Latte Macchiato in rot? Heißt es: Ich will Kusswünsche auslösen und hoffe, dass du nicht so genau hinguckst! Oder heißt es: Ich kenne die Codes, ich kenne meine Mängel und ich gehe souverän damit um, das kannst du ruhig sehen! Oder: Ich locke und verwehre dabei und fessele dich mit meiner Zweideutigkeit!

Eine andere Erklärung: Der rote Mund saugt den Blick an und hält ihn vom Rest des Gesichtes fern, schützt so die Gesichtszüge davor, betrachtet und interpretiert zu werden. Also kann ich mich hinter meinem Mund verbergen, meine eigenen Augen sind dadurch frei. Lippen als Maske. Und die rätselhafte Zweideutigkeit der sichtbar überschmierten Lippenränder macht die Tarnung und Ablenkung umso wirkungsvoller.

Ein Mann schenkt seiner Geliebten ein Gedicht, dass von einem Mann handelt, der sich vorstellt, eine Fliege zu sein, die die wunderschönen roten Lippen der Geliebten umschwirrt, und dann „würd’ mich, ohn’ dich zu verletzten, auf deine roten Lippen setzen.“ Die Fliege, als die der Mann sich vorstellt, sinkt in die rote Farbe ein, kann sich aber, nachdem sie auf den Lippen ordentlich gekribbel-krabbelt hat, noch wieder frei machen und schwirrt ab nach Hause. Das bemerkenswerte Gedicht endet mit den Zeilen: „Und fragt mich meine Frau, die Süße: ‘Warum hast du so rote Füße?’, da würd’ ich rot auch im Gesicht. Doch dich verraten würd’ ich nicht!“ Das macht die mit dem Gedicht beschcnkte Geliebte sehr nachdenklich. Sie meidet in Zukunft sowohl den Lippenstift wie den Liebhaber.

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