vonImma Luise Harms 31.10.2016

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Neulich sitzen wir abends im Garten des alten Hauses, an dem wir bauen. Es war einer der heißen Septembertage gewesen. Jetzt, am Abend ist es samtig lind. Und es ist dunkel; das Haus hat keinen Strom, alles ist abgeklemmt, die Elektrik wird neu verlegt.

In der alten Garage ist eine Bauküche eingerichtet, drinnen auf dem Tisch brennt eine Kerze, deren Schein aber an der Toröffnung hängen bleibt. Wir sitzen um ein kleines Feuer, das zwischen unseren Füßen glimmt. Sein rotes Licht spiegelt sich auf unseren Bierflaschen.

Wir bewundern, wie der Mond, der auf der anderen Seite der Straße über den Feldern aufgeht, so groß ist. Noch hat er diese weizengelbe Farbe. Das Rund ist am rechten oberen Rand etwas unscharf; Vollmond ist erst morgen.

Ich denke, wie wir so dasitzen, sind wir doch eine Gruppe. Um ein Feuer entsteht eine Gruppe. Wir haben zusammen gebaut, da entsteht eine Gruppe.

Ich denke an mein Bild von Schwärmen, von der Innenansicht der Schwärme, und dann fällt mir wieder Schopenhauer ein, der mich gerade beschäftigt. Seine Idee vom Willen (ich würde das eher als „Wollen“ bezeichnen) als das einzige, was unhintergehbar gegeben ist, quasi das Ding an sich oder die Ur-Kraft. Aber können wir sie erkennen? Nein eigentlich nicht; das ist schon abgeleitetes Wissen. Schopenhauer meint aber, wir fühlen sie doch im Leib. Tun wir das?

„Könntet ihr euch vorstellen, dass wir, also unsere Körper, tatsächlich keine Einheit, sondern was Zusammengesetztes sind? Also ein Schwarm, der aus Organen besteht, die zusammen agieren, mit Unterschwärmen aus Zellen, die zusammen agieren, mit Unterschwärmen aus Molekülen, die zusammen agieren, usw?“ fange ich an, einen Faden zu spinnen.

Die anderen zögern, ehe sie ihn aufnehmen. „Du meinst, dass Ich eigentlich ein „Wir“ bin?“

„Ja, genau. Und dass das Ich-Gefühl und alle daran geknüpften Gefühle und Überlegungen die emergente Gestalt, sozusagen die Form des Schwarms sind.“

„Was ist Emergenz?“, fragt O.

„Das Zusammenwirken von was, was dann aber in der Summe irgendwie noch was mehr ist, eine neue Qualität annimmt“, versuche ich zu erklären.

„Also wäre die Identität, das Personenhafte eine Erscheinung.“

„Ja, so wie das Feuer, also die Gestalt der Flammen, die resultierende Emergenz aus dem chemischen Verbrennungsprozess ist. Ich kann die Flammen nicht direkt beeinflussen, nur den zugrunde liegenden Prozess.“

„Ok, aber was würde das bedeuten? Das Feuer ist dadurch ja nicht unwirklich.“

„Das würde bedeuten, dass wir als Personen, als Individuen keine Entscheidungen fällen, sondern dass auch die Entscheidungen, und alle Gedanken, die wir uns machen, Resultierende aus den freien Schwarmbewegungen der Organe sind, Erscheinungen also.“

„Wie? Ich soll mir vorstellen, die Organe fliegen frei herum wie die Vögel in einem Schwarm? Dann wär ja ganz schön was los in meinem Bauch!“, mischt sich B. ein.

„Nein, du musst den Begriff ‘Schwarm’ etwas abstrakter auffassen“, erkläre ich, „das sind vernetzte Individuen, die sich eben nicht frei bewegen, also zwar Entscheidungen treffen, aber in ihren Entscheidungen von einander abhängig sind. Aber allesamt wechselseitig, ohne Entscheidungshierarchie. Das ist das Charakteristische beim Schwarm.“

„Wir, also unsere Köpfe, unsere Gehirne, entscheiden also nichts, meinst du?“, fragt O., um ihren Widerspruch vorzubereiten.

„In diesem Modell wäre es so“, sage ich. „Dann kommt es uns so vor, als steuerten wir unseren Körper mit unseren Überlegungen. Tatsächlich wäre es aber so, dass das durch das Zusammenspiel der Organe im Körper und vielleicht auch der Erinnerungskonstellationen im Gehirn längst entschieden ist, und dass unser Ich-Gefühl im Gehirn sich in diesem Bewegungsprozess sozusagen als „Entscheider“ selbst konzeptualisiert.“

B. pfeift auf ihrer Bierflasche und trällert dann: „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst…“, ein Schlager aus den 80er Jahren.

T. erschlägt eine Mücke auf seinem Bein. Zu spät, denke ich; sie hat schon zugestochen, sonst hätte er sie gar nicht bemerkt. Es ist also Vergeltung, und nicht Selbstverteidigung. „Das hab ich neulich auch in der Zeitung gelesen“, meint er, „dass die Selbstwahrnehmungen im Gehirn verzögert zu den körperlichen Prozessen laufen, das haben Wissenschaftler herausgefunden.“

„Das heißt, wenn ich mir überlege, ob ich mir noch ein Bier aufmachen soll, dann hat mein Körper, also das Zusammenspiel von, sagen wir: Magen, Leber, Armen, Gehirn mit seinen Erinnerungen das schon entschieden?“, bohrt O. weiter.

„Also ich kenn das sogar: ich denke, ach, eigentlich bin ich satt. Und dabei sehe ich mir sozusagen selbst zu, wie ich noch ein Brot abschneide“, erzählt B.

L. guckt skeptisch; ich sehe, wie sie das Modell prüft. „Also gut, der Körper ist ein Schwarm, unser Identitätsgefühl ist die resultierende Gestalt davon. Das gleiche müsste dann ja logischerweise auch für die Unteridentitäten stimmen. Warum sollte eine Leber eine geschlossene, mit einem eigenen Willen begabte Identität haben?“

„Ok, dann ist die Leber die resultierende Gestalt des Schwarms der Leberzellen“, gestehe ich zu.

„Und dann die Enzyme, und dann die Moleküle…“ ergänzt T.

„Aber wo werden dann überhaupt noch Entscheidungen gefällt? Dann wäre alles Leben einfach die fantastischen Formen aus Zufallsprozessen?“, wendet L. ein.

„Erzähl doch noch mal, wie du das mit den Schwärmen meinst“, schlägt B. vor. „Was heißt das denn, Teil eines Schwarms zu sein. Denn das hieße doch auch, dass es sowas wie kollektive Entscheidungen gar nicht gibt. Also Entscheidungen in unhierarchischen, selbst organisierten Kollektiven.“

„Nochmal“, sage ich, „das Charakteristische eines Schwarms ist, dass es kein Zentrum und keine Hierarchie gibt…“

„Wieso, ein Schwarm hat doch ne Mitte“, wendet B. ein.

„Ja, von außen betrachtet, die ist aber aus dem Innern des Schwarms nicht zu erkennen“, setze ich nach. „Jedes Element des Schwarms kennt zwar seine Umgebung, die übersichtlicher oder weniger übersichtlich sein kann. Es stellt darin unterschiedlich starke Verdichtungen fest und zieht daraus Schlüsse. Aber jede Vorstellung davon, welche Form das Ganze hat, sind Konzeptualisierungen aus lokalem Wissen heraus, Projektionen aus dem eigenen Erfahrungshorizont.“

„Ok, das Schwarm-Individuum weiß, dass es nichts Gesichertes weiß; trotzdem will es aber was. Es will sich selbst erhalten, es will sich entwickeln, es will sein,“ sagt O.

„Ja, und in dem Sinne gleicht es ständig seine Bewegungen, kannst auch sagen: Entscheidungen, mit dem Verhalten der Nachbar-Individuen ab, stellt sich in seinen Entscheidungen auf sie ein.“

„Gut. Dann sind wir wieder bei den Entscheidungen. Was heißt das dann aber überhaupt noch?“

„Genau. Das ist die Frage. Also nehmen wir die Entscheidung: Will ich noch ein Bier? Wir sind hier ne Gruppe, ne Art Schwarm, sagen wir. Ich gleiche mich in der Gruppensituation ab: Wie lange werden die anderen noch bleiben, trinken die auch noch eins? Wieviel Bier gibt es überhaupt noch? Soll ich erstmal klären, wer sonst noch eins will? Sollte ich das ansprechen oder ist das blöd? Wie kommt das rüber, wenn ich das vorletzte Bier nehme? Wie kommt das rüber, wenn ich erst frage? Und so weiter. In dieser Gemengelage fälle ich meine Entscheidung.“

„Wie? Ich denke, du fällst keine Entscheidung, dein Körperschwarm hat das schon entschieden?“ unterbricht O.

„Gut, formuliere ich es anders: In dieser Situation muss sich mein Körper irgendwie verhalten, sich entscheiden. Auch nichts tun in einem Moment, in dem etwas getan werden könnte, ist eine Entscheidung. Es kommen also bestimmte Strebungen im Körper zusammen: der Magen signalisiert ein Völlegefühl, das Lustzentrum sagt: Ja, mehr Alkohol!, die Blase: erst aufs Klo! Der Kopf, also das Erinnerungsvermögen spiegelt das Bild vom letzten Kater in die Entscheidungslage, undsoweiter.“

„Die Entscheidung der Person wäre demnach sozusagen das Abstimmungsergebnis der beteiligten Organe?“ fasst L. zusammen. „Das hieße, jede Entscheidung wäre eine Zusammengesetzte. Das läuft aber in einen Widerspruch hinein.“

„Wieso?“ frage ich.

„Zusammengesetzt aus was denn? Aus anderen Entscheidungen auf einer anderen Ebene? Woraus sind die dann zusammengesetzt?“

„Konsequenterweise müsste man das Modell dann auf jeder Ebene ansetzen“, gebe ich zu.

„Das hieße, dass es überhaupt keine Entscheidungen gibt, sondern nur Konstellationen von, sagen wir: Bedürfnissen…“

„Mit wird das zu viel“, sagt T. „Was habe ich denn eigentlich davon, wenn ich mir selbst die Entscheidungsfähigkeit abspreche?“

„Na, vielleicht eine Erklärung dafür, dass du Dinge tust, die du eigentlich nicht tun willst, oder tun wolltest, einen Tag später betrachtet. Zum Beispiel Suchtverhalten, zum Beispiel bipolare Störungen.“

L. stochert in der Glut. Die glimmenden Holzstücke reagieren auf die Bewegung, als würden sie gekitzelt. Sie erwachen aus ihrem Dämmerschlaf, leuchten kurz auf, das rote Glühen erfasst auch die Ränder. In den Zentren gibt es gelbe und blaue Lichterscheinungen. Sie lassen die schwarzen, schon verglühten Holzteile umso deutlicher hervortreten. Dann senkt sich die farbige Bewegtheit wie eine samtene Decke über der kleinen Feuerstelle, und in den verkohlten Hölzern zerfällt auch die Erinnerung an die Flammen, die heute abend über ihnen getanzt haben.

„Es kommt mir also nur so vor, als wenn ich was entscheide,“ fasst O. für sich zusammen und fährt fort: „Tatsächlich sind das Konstellationen von unterschiedlichem, mit einander vernetztem Wollen. Da komme ich aber in einen unendlichen Regress: Wenn jede Entscheidung nur die Summe unterschiedlichen Wollens der Beteiligten ist, dann gilt das ja auch für die Ebene darunter, und für die darunter. Dann gibt es an keiner Stelle mehr eine wirkliche Entscheidung. Ist alles Zufall? Ist alles vorherbestimmt? Du würdest damit bestreiten, dass es die Möglichkeit der Freiheit zum Handeln aus Erkenntnis gibt“.

Ich habe meine Spekulationen eigentlich schon zur Seite gelegt. Mir sind die Widersprüche auch klar. Ich betrachte, wie sich die verschiedenen Lichtquellen überlagern: der Feuerschein, der schwache Widerschein der Kerze hinter der Garagentür, das inzwischen silbrig gewordene Mondlicht. Vielleicht ist Überlagerung die Antwort; die Lichtquellen überlagern sich ungestört. In unserer Wahrnehmung mischen sie sich, aber nicht in ihrer eigenen, da sind sie alle noch da.

„Es ist ja nur ein Gedankenexperiment,“ sage ich. „Es gibt so viele Gründe, daran zu zweifeln, dass das „Ich“ die Freiheit hat, aus Erkenntnis zu entscheiden und danach zu handeln; es führt einfach zu großen Widersprüchen.“

„…die anderen Widersprüchen entgegen stehen,“ beharrt O., „wie der, dass die Möglichkeit der individuellen freien Entscheidung angenommen werden muss oder es überhaupt keine Entscheidungen, sondern nur Zufälle gibt – oder eben sowas wie die Vorsehung.“

„Na gut,“ sage ich, „dann legen wir das für heute damit bei, dass man sich nur zwischen den Widersprüchlichkeiten verschiedener Modellvorstellungen entscheiden kann…“

„…oder eben nicht entscheiden kann“, macht O. den letzten Punkt.

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