vonImma Luise Harms 30.11.2016

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

Leben ist Atmen. Wer lebt, atmet. Das kann man sich gar nicht aussuchen, das machen die Lungen eigenmächtig. Der Schrei nach Sauerstoff aus den Muskeln geht über die Nervenbahnen zu den Lungenflügeln; sie weiten sich, saugen aus der Umgebung, was an Luft zu kriegen ist. Der Sauerstoff wird verbrannt, der Mensch wird tätig: er denkt, er bewegt sich, er handelt. Der Rest wird ausgeatmet.

Und wer atmet, lebt. Das testet man durch den Spiegel, der den fast schon Toten vor die Nase gehalten wird. Ich habe es noch nicht selbst gesehen, aber es wird wohl so sein. Der letzte Seufzer ist ein Ausatmen. Die Lungen fallen zusammen, die letzte Rechnung ist beglichen.

Menschen atmen, Tiere atmen, die ganze Natur atmet. Aus den Pferdenüstern dampft es, und es schnaubt. Der Mensch schnarcht, wenn er schläft; daran hört man, dass er lebt. Wenn er wach ist, redet er, oder lacht, oder schreit. Kann auch sein, dass er stöhnt oder singt. Alles das braucht Luft, also Einatmen und dann moduliert ausatmen. Die Stimmbänder vibrieren, sie kräuseln die vorbeiströmende Luft. Die Schallwellen werden im Mundraum geformt und in die Welt entlassen, als Botschaft, die sich geneigten Ohren mitteilt. Auch weniger geneigten, denn die Ohren kann man ohne Hilfsmittel nicht verschließen.

Jedes Atmen ist also die Voraussetzung und auch die ständige Bereitschaft, eine Botschaft mündlich zu überliefern. Das Hirn wird gereizt durch das, was das Ohr übermittelt, die Antwort will raus. Die Stimmbänder werden in Stellung gebracht, der Mund geöffnet.

Die Schallwellen haben sich kugelförmig ausgebreitet, viele Ohren haben sie aufgefangen, viele Hirne gereizt, viele Lungen haben sich für ein Argument gefüllt und treiben nun Töne der Antwort heraus.

Schallwellen überlagern sich ungestört. In der Kakophonie einer hitzigen Diskussion sind alle Einzelargumente aufbewahrt, aber nur physikalisch gesehen. Tatsächlich gibt es irgendwann eine Verstehensgrenze. Die Botschaften zerstückeln sich gegenseitig. Das Ergebnis ist ein Nichts und ein Alles. Im Stimmengewirr suche ich vergebens die Mitteilung, auf die ich gewartet habe. Ich erwarte sie, ich suche sie, aber ich kann sie nicht finden.

Auch die unbelebte Natur atmet, allerdings, vom Blasebalg einmal abgesehen, strömt die Luft meist nur in eine Richtung. Bei diesen Luftströmen geht es auch nicht um die Entnahme des Sauerstoffs, sondern um den Transport von Wärme oder von Partikeln. Der Staubsauger atmet ständig ein, der Föhn atmet ständig aus. Der Heizlüfter atmet, die Stereoanlage atmet, der Rechner atmet. Kleine Motoren treiben Ventilatoren an, die die Luft zur Kühlung oder zur Erwärmung herbeifächern. Mit dem erwärmten oder gekühlten Luftstrom entlässt das Gerät auch die Geräusche und damit das Zeugnis über seine Tätigkeit.

Ich lasse den Luftstrom des Föhns durch meine Haare gleiten. Die Haare bauschen sich und biegen sich im Strom und fallen in  eine beschwingte Elastizität. Ich lausche dem Föhn und versuche, die Töne zu erkennen, die Motor und Ventilator von sich geben. Das Brummen und Heulen sammelt sich um bestimmte Frequenzen, die einen Klang erzeugen, so etwas wie eine Oktave.

Der volle Ton verschluckt alle Geräusche meiner Umgebung. Wenn jetzt jemand klingeln würde, würde ich es nicht hören. Ich schalte aus und lausche. Es ist nichts. Ich schalte wieder an. Dieses Hineinlauschen in die Stille nach dem Föhn habe ich mir angewöhnt, seit ich vor vielleicht dreißig Jahren  an Liebeskummer erkrankt war. Ich litt an einer Beziehung zu jemand, der ab und zu kam, der sich weder zu mir bekennen, noch mich loslassen wollte. Er wollte wieder anrufen und ich wartete. Tage, Wochen des Wartens. War das nicht das Telefon im Flur? Gerade, wenn ich mir die Haare trocknete? Immer wieder stellte den Föhn ab und lauschte. Nein, nichts zu hören. Aber jedes Mal, wenn ich den Föhn wieder anschaltete, hatte ich die Angst, dass sein Geräusch das Telefonklingeln verschlucken könnte. Er ruft an und ich höre es nicht.

Es ist immer noch derselbe Föhn, der in meinen Nacken pustet. Er liegt glatt und dunkelblau in meiner Hand. Auf der Innenseite des Griffs ist das Plastik klebrig, eine stockige Schicht vom jahrelangen Benutzen, eine Mischung aus Hautfett und Staub. Die beiden Knöpfe zum Einstellen der Temperatur und der Blasstärke sind schon halb im Griff verschwunden. Es funktioniert nur noch das Ein- und Ausschalten.

Meinen Laptop habe ich auch schon lange, wenn auch bei weitem nicht so lange wie den Föhn. Neuerdings macht er Schwierigkeiten. Das inwendige Gebläse jault manchmal in rhythmischen Abständen auf. Es klingt tatsächlich wie regelmäßige, kleine, mit einen Seufzen verbundene Atemzüge. Neulich habe ich die Lesungen zum Ingeborg-Bachmann-Preis gehört, während ich in der Küche zu tun hatte. Der Laptop ist mit der Audioanlage und die Anlage mit Boxen in beiden Räumen verbunden.

In der Küche höre ich, wie Marco Dinic aus Serbien liest. Er deklamiert seine Erinnerungen an eine vom Krieg zerrissene Kindheit. Jetzt singt er sogar; es ist eine serbische Hymne, in die er als Kind zur Bewahrung seines Nationalstolzes wie in einen Kokon eingewickelt wurde. Dinic setzt seine Erzählung fort, die Zeit nach dem Krieg auf dem Balkan. Seine Abiturzeit, zwischendurch immer wieder Gesangsteile. Plötzlich macht es „popp“ aus dem Küchenlautsprecher, und dann ist Stille. Es ist eine atemlose Stille, das Totsein des Spiegels, der nicht mehr beschlägt. Ich laufe ins Arbeitszimmer; der Bildschirm ist dunkel. Der Rechner hat sich ausgeschaltet. Notabschaltung, zu heiß. Der Laptop muss besser kühlen. Das Seufzen ist vielleicht ein Indiz.

Ich untersuche die Lüftungsschlitze. Unten und an der Seite finde ich kleine Roste, durch die die Luft ein- oder ausströmt. Ich suche nach den Schrauben, es sind Spezialschrauben, die nur mit Spezialwerkzeug herauszudrehen sind. Rechnerwartung wird von einem Fachgeschäft angeboten, sie kostet 100 Euro. Das ist schon ein Viertelrechner. Wie kann ich den Lüfter sauber machen? Wenn es ein Flusensieb gibt, ist es jedenfalls für mich nicht erreichbar. Einen Staubsauger soll man nicht verwenden, weil sein Einsaugen die Lüfterlamellen verletzen könnte.

Ich nehme einen Strohhalm, versuche, ihn durch die Ritzen zu schieben, und sauge daran. Es ist eklig, ich muss husten und einen Brechreiz bekämpfen. Außerdem scheint es keinen Effekt zu haben. Das Saugen muss schon eine Maschine machen, die den Dreck nicht einatmet, sondern ihrerseits in einem Flusensieb sammelt. Eine Maschine, die saugen kann, aber kein Staubsauger.

Darüber denke ich nach, während ich vor dem Spiegel stehe. Es stimmt ja nicht ganz, dass die Geräte nur ein- oder nur ausatmen. Sie machen es nur nicht stoßweise, sondern im stetigen Strom wird die Luft hier eingesaugt, dort ausgestoßen. Der Föhn ist immer auch ein Staubsauger. Das beweist das Flusensieb an seiner Rückseite. Wer pustet, der muss auch saugen. Ich müsste die Rückseite des Föhns verkleiden, so dass ich daran den Strohhalm befestigen kann.

Ich schalte das Gerät aus. Man muss inzwischen schon sehr kräftig auf den runden, halb in der Wölbung des Griffs verschwundenen Kippschalter drücken. Dann schraube ich den runden Plastikrost auf der Rückseite ab. Dort ist das Flusensieb. Der Staub liegt wie eine feste Filzmatte darauf. Eine kleine graue Matte von kondensierten Erinnerungen aus Badezimmergedanken, Badezimmergefühlen, und Badezimmerplänen.

Ich kratze ihn ab und lasse ihn unter dem Mülleimerdeckel verschwinden. Dann setze ich den Deckel wieder auf. Hier muss ich so eine Art Trichter-Vorrichtung anbringen, damit ich mit dem Föhn den Lüfter vom Laptop aussaugen kann. Ich schalte das Gerät wieder ein, der Kippschalter rutscht unter dem Druck meines Fingers in den Griff. Endgültig. Kippen nicht mehr möglich. Ich will es nicht glauben und versuch noch ein paar Mal. Aber da ist nichts mehr zu machen, der Schalter ist im Griff und schaltet nicht mehr.

Ich muss den Föhn reparieren, damit ich den Laptop reinigen kann. Nach vielen Schwierigkeiten finde ich die verborgenen Schrauben, die den Griff zusammenhalten. Der kleine Schalter baumelt im Gehäuse. Ein Plastikzacken, der ihn in Stellung gehalten hat, ist ausgebrochen. Vielleicht kann mal doch nichts mehr machen. Kleben erscheint mir sinnlos, zu groß ist der Druck, den man zum Schalten braucht. Aber ich will nicht aufgeben. Auf den beiden anderen Seiten hat der Schalter einen kleinen Überstand zum Gehäuse. Ich suche und finde winzige Schräubchen in der Werkstatt. Ich leihe mir vom Nachbarn einen 1-mm-Bohrer. Ich schaffe es wirklich, die Löcher zu bohren und mit den kleinen Schrauben den Schalter von der Innenseite wieder an das Gehäuse zu befestigen.

Nun stehen die Schräubchen aber auf der Außenseite seitlich vom Schalter heraus. So kann man nicht kippen. Ich hobele sie vorsichtig mit einer Eisenfeile ab, Strich für Strich, bis auf beiden Seiten der runden Schalteröffnung nur noch kleine silberne Punkte übrig sind, hübsche kleine Nietknöpfe, die den Schalter nicht nur zu halten vorgeben, sondern ihn tatsächlich halten. Ich schalte und der Föhn bläst und tönt dabei in der vertrauten Oktave.

Jetzt zum Laptop. Um die Rückseite des Föhns, die Saugeseite, klebe ich einen Gefrierbeutel. Eine Ecke schneide ich ab und befestige den Strohhalm in dem Loch. Die andere Seite des Strohhalms zwänge ich durch den Lüftungsschlitz des Laptops. Ich schalte an, der Föhn saugt sich die Plastiktüte vor seine Rückseite; er hat Schwierigkeiten, durch den Strohhalm einzuatmen. Das soll er aber, kräftig einatmen, und dabei den Staub aus dem Lüfter herausholen und mit seinem Flusensieb sammeln.

Während ich überlege, ob ich auf der Laptop-Seite auch den Rest abdecken muss, damit der Strohhalm richtig saugt, macht es plötzlich „popp“ und der Föhn ist aus. Wieder diese atemlose Stille, dieses Totsein. Der Föhn liegt stumm da. Ausgefallen wegen Überhitzung, ich rieche es jetzt auch. Ich schalte aus, wieder an, es tut sich nichts mehr. Einfach durchgebrannt. Wie blöd bin ich denn, denke ich, dass ich denke, so ein Föhn würde funktionieren, wenn er die Luft nicht richtig einsaugen kann? Ich sacke über meinen Geräten zusammen. Jetzt habe ich gerade mit meiner filigranen Reparatur geschafft, den alten Föhn noch einmal in Gang zu setzen, und dann zerschieße ich ihn mit dieser Schwachsinnsaktion! Der Ärger versinkt in einer aufsteigenden Welle der Trauer. Ich mache mich bereit für den Abschied. Er wird nicht mehr tönen. Aber es ist ja nur ein Föhn.

Ich wende mich wieder dem aktuellen Problem zu. Den Laptop will ich weder aufgeben, noch zur teuren Reparatur bringen. Ich nehme dann doch den Staubsauger, halte den Saugstutzen weit weg vom Lüftergitter, in einer einfühlsamen, geradezu diskreten Entfernung, nur ein leichter Windzug soll dort ankommen, ein ganz zartes Angebot, den Staub mitzunehmen. Ich weiß nicht, ob ich diesen Reinigungsversuch noch richtig ernst meine, packe den Staubsauger wieder weg und sitze ratlos vor meinen Geräten. Da heult der Föhn plötzlich auf. Er hat sich abgekühlt und dann von selbst wieder eingeschaltet. Er ist noch da, er lebt noch. Jetzt singt er wieder.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2016/11/30/einatmen-ausatmen/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert