vonImma Luise Harms 31.01.2017

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ich starre auf den weißen Bildschirm. Der Cursor blinkt im Sekundentakt, als wollte er die Zeit messen, bis meine Überlegungen endlich Form annehmen.

Eine Idee ist eine Wolke aus Gedanken. Assoziationen halten sie zusammen. Manche sind brüchig, manche sind klebrig und zäh. Ein dichtes Gewebe in diesem dunklen Universum aus unzähligen Erinnerungen. Die Verbindungen sind verstrickt, verfilzt; es ist weder möglich, sie zu entwirren, noch ihre Endpunkte herauszufinden. Die Assoziationen sind wie Rhizome im Humus des schon mal Gedachten, die sich unkontrolliert durch die Sedimente winden.

Und doch ist da eine Gestalt, eine Idee, die nach außen drängt. Sie möchte mitgeteilt werden. Aber wie? Mitteilungen brauchen eine Form. Die komplizierten räumlichen Verbindungen müssen in eine Abfolge gebracht werden. Irgendwo liegt ein wüster Haufen von Wörtern, von Begriffen, von Sprachbildern herum; sie müssen paarweise den einzelnen Gedanken zugeordnet und dann zur Tür hinausgeschickt werden. Wie soll das gehen? Wer geht zuerst? Und wer kommt dann?

Ich habe übernommen, ein Referat über das Führen von Filmgesprächen zu halten, und zwar vor den OrganisatorInnen eines Filmfestivals, also vor Leuten, die die Praxis kennen, die sich aber trotzdem ein paar grundsätzliche Gedanken dazu machen wollen. Genau genommen habe ich es nicht übernommen, sondern selbst angeboten. Ich habe dazu einiges in meinen Kopf und wollte mir eine Gelegenheit schaffen, das zu systematisieren, auch um festzustellen, ob andere darin einen Sinn sehen. Das ist es, man möchte die Resonanz mit anderen Gedanken, anderen Erfahrungen. Dazu muss man sich ausdrücken.

Die Schulklasse soll einen Besinnungsaufsatz schreiben. Einen dialektischen Aufsatz, These, Antithese, Synthese. Die Schülerin hat Schwierigkeiten, sich das Verfahren vorzustellen: Wenn ich eine Meinung zum Thema habe, soll ich mir selbst widersprechen? Warum denn das? Nun, wird erklärt, es gibt Sachverhalte, die dafür, und andere, die dagegen sprechen. Das soll sortiert werden. Stichpunkte sammeln, die dann gegliedert werden sollen. Die nächste Schwierigkeit: Wenn ich die Punkte gliedern, ihnen also eine Reihenfolge geben kann, habe ich die Synthese eigentlich schon vollzogen; dann habe ich schon abgewogen und verworfen, was ich nicht einsichtig finde. Wie lässt sich der Erkenntnisprozess zurückdrehen, dass meine Ursprungsthese nicht rein rhetorisch ist?

Die Schülerin murrt, setzt sich aber ans gegebene Thema: Fluch oder Segen der modernen Technik. Zwei Texte. Der eine warnt vor der zunehmenden Komplexität und tendenziellen Unbeherrschbarkeit von technischen Apparaturen. Der andere schwärmt von der Aussicht auf technische Hilfsmittel, die sich durch menschlichen Erfindungsgeist und die Fähigkeit zur ständig besseren Anpassung dem Leben glatt, sauber und widerspruchsfrei einlagern und schließlich wie ein Kieselstein in der menschlichen Hand liegen. Man soll das an einem Beispiel diskutieren.

Die Schülerin hat eine Idee. Starfighter, die 60er-Jahre Errungenschaft der Bundeswehr, stürzen bei ihren Probeflügen immer wieder ab. Das wäre doch ein Beispiel. Sie erörtert das Dafür und das Dagegen der schwer beherrschbaren Technik und eröffnet arglos die Aussicht auf Kampfflugzeuge, die „glatt wie ein Kiesel“ in der Hand der Bundeswehr oder in wessen Hand auch immer liegen könnten, wenn man die von ihnen ausgehenden Gefahren nur ernst genug nimmt. Dabei hatte die Schülerin nicht die Gefahren im Sinn, zu deren Herbeiführung die Kampfjets konstruiert werden, sondern die, denen die Piloten der Maschinen selbst ausgesetzt sind. Denn nur von ihnen war in den Zeitungsartikeln die Rede, wenn es hieß, sie hätten sich gerade eben noch mit dem Schleudersitz retten können.

Zwei minus. Der Aufsatz ist gut, aber eben doch nicht so ganz, hieß es. Was die Vorbehalte waren, hat die Schülerin nicht verstanden; die Deutschlehrerin hatte hintergründig gelächelt, als sie ihr die Arbeit zurück gab.

Ein sauberes, eindeutiges Verfahren zur Gewinnung von Erkenntnissen und zur Übersetzung dieser Erkenntnisse in Sprache gibt es wohl nicht, musste die Schülerin einsehen und wandte sich den technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen mit ihren eindeutigen Repräsentationsbeziehungen zu.

In der Informatik lernte sie dann, dass auch komplexe, verzweigte und verwobene Strukturen, wie sie zum Beispiel im Bild des Baumes dargestellt werden, algorithmisch erfasst und auf die Reihe gebracht werden können. Das machte sie zuversichtlich. Wer die Marschordnung kennt, wird das Ziel nicht verfehlen. Sie wurde Ingenieurin. Sie baute Anwendungen für die neue Mikroprozessortechnik.

Nach ein paar Jahren Berufspraxis kriegte die Ingenieurin Zweifel an ihrer Arbeit. Nicht, ob das, was sie da baute, auch funktionieren würde und ob sich im Notfall der Pilot noch mit dem Schleudersitz würde retten können, sondern was für gefährliche Effekte die intelligenten Bauteile haben könnten. Sie fing an nachzudenken, sie engagierte sich in der Gewerkschaft, sie wollte sich zu den Gefahren äußern. Sie versuchte Artikel zu schreiben und Reden zu halten. Es war alles sehr mühselig und irgendwie konstruiert, wie sie selbst fand. In Diskussionen war es zwar etwas einfacher, weil man auf Fragen antworten oder anderen Aussagen widersprechen konnte. Aber hatte sie die Probleme wirklich durchdrungen? Auch wenn Technikkritik auf der Höhe der Zeit war,  täuschte sie das nicht über die Zweifel an ihrer eigenen Argumentation hinweg.

Die Technik hielt sie nicht länger; sie wollte an der öffentlichen Debatte teilnehmen, sie wollte schreiben, eine Zeitung mitgründen. Ihren letzten Arbeitsplatz in einem Technik-Institut nutzte die kommende Journalistin dafür, sich ein mobiles, reisetaugliches Schreibpult zu bauen, um auf einer bevorstehenden Reise ihre Gedanken aufs Papier bringen zu können. Das Pult half nichts, das Schreiben blieb ein Stammeln. Es lag ihr nicht, sie hatte es nicht gelernt. Sie wusste nicht, dass Schreiben Eigenmächtigkeit und Entschlusskraft verlangt und nicht operationalisiert werden kann.

Aus ihrem Technikstudium rettete die Ingenieurin die Zuversicht, dass sich ein Verfahren findet, wenn man sich nur tief genug in den Prozess einlässt und das Problem, hier das Problem des Schreibens, genau erfasst. Das mobile Schreibpult hatte nicht weitergeführt. Aber was war es dann? Wie könnte man seine Gedanken systematisieren?

Es hatte was mit Entspannung zu tun, das merkte sie. Immer wenn sie in der Badewanne lag oder wenn sie mit dem Bus durch die Stadt fuhr oder auch wenn sie spazieren ging, ohne etwas anderes zu wollen, als den Zustand des Gehens herbeizuführen, dann entflocht sich wie durch ein Wunder das Dornengestrüpp der unübersichtlichen Assoziationen zu einer blühenden Rosenhecke aus erkennbaren und deutlich miteinander verbundenen Argumenten. Aber dann war nichts zum Schreiben da.

Der kommenden Journalistin fiel der Kiesel wieder ein. Man brauchte ein kleines Gerät, das man zur Not mit einer Hand und blind bedienen konnte, um den Gedanken aufzuschreiben, dann wenn er sich zeigt, eine Einhand-Schreibmaschine auf der Basis der Mikroprozessortechnik. Sie dachte sich den Schreibkiesel aus, und den fand sie selbst eine ganz großartige Erfindung.

Der Schreibkiesel sollte ein ovales Gerät sein, das gut in eine Hand passt. In seine Fläche sollten fünf Tasten für die fünf Fingerkuppen eingelassen sein, außerdem eine LED-Zeile, die einen laufenden Text anzeigen könnte.

Mit fünf Fingern lassen sich 32 verschiedene Zeichen darstellen, 31, wenn man die Null als Nicht-Aktion herauslässt. Damit könnte man das internationale Telegrafenalphabet benutzen: 24 Buchstaben und noch ein paar Sonderzeichen. Könnte man so eine aus Fingerkombinationen bestehende Eingabe beherrschen? Warum nicht? Man kann ja auch Klavierspielen lernen; da müssen sich auch alle Finger unabhängig voneinander bewegen. Und wenn der Schreibkiesel Mode würde, weil man ihn raffiniert und praktisch findet, dann würden das die Leute schon schnell lernen. (Aus heutiger Sicht ergänze ich, die erste Generation der SMS-Mitteilungen über Handy waren mindestens genauso kompliziert.)

Ich sitze also im Bus und tickere durch Tastenkombinationen meine Gedanken in den Kiesel, dann wenn sie gerade am flüssigsten sind. Und, denkt sich die kommende Journalistin, ich kann auch heimlich in der Hosentasche Notizen machen, wenn ich mit Leuten zusammen bin, die nicht merken sollen, dass ich mir das alles merke, was sie sagen. Zwischendurch oder später kann ich mir den Text auf dem LED-Band anschauen. Das Ganze müsste dann natürlich in einen Computer entladen und weiterverarbeitet werden.

Der Schreibkiesel wurde nicht gebaut. Ich weiß also nicht, ob er was getaugt hätte, ob möglicherweise die Geschichte der intelligenten Schreibgeräte anders verlaufen wäre oder auch die Handys als Nachfahren der Schreibkiesel heute eine andere Form hätten. Die Leute, denen die kommende Journalistin 1980 von der Idee erzählte, reagierten vorsichtig ermutigend oder etwas verlegen das Gesprächsthema wechselnd. Es bot ihr nimand an, eine Schreibkieselfabrik aufzubauen oder nur einen Prototyp herzustellen.

Dann kam die Zeitschrift, dann kam die taz, dann kamen die texis, die ersten mobilen Texteingabegeräte, mit denen man den Satzbau immer wieder ummodeln konnte, ohne auf dem Papier alle bisherigen Fehlversuche angucken zu müssen. Dann kam die Routine. Das Schreiben ist doch nicht so schwer, wenn man in der Übung ist. Fast jeder Anfang ist möglich, fast jeder gezogene Zusammenhang kann bei bereitwilligen LeserInnen einen Sinn entfalten.

Das alles ist lange her;aus der Ingenieurin, der Journalistin wurde eine Philosophin, eine Filmemacherin, eine Gelegenheitsautorin. Eine solche Gelegenheit war der Vortrag über Filmgespräche, der jetzt inzwischen hinter mir liegt.

Ich hab ihn dann doch als Powerpoint-Vortrag gehalten, nicht weil ich von dieser Darreichungsform überzeugt wäre. Meistens starre ich dann die projizierte Texttafel an und versuche hektisch zu ergründen, was ich damit gemeint haben könnte. Die Reihenfolge der Tafeln bildet meinen inneren Erzählzusammenhang nicht mehr ab. Auch beim Beschreiben der einzelnen Tafeln werde ich von den allzu empfangsbereiten Seiten abgestoßen. Das „Geben Sie hier Ihren Text ein!“, das in jedem Textkasten steht, bis ich mich entschieden habe, tatsächlich etwas hinein zu schreiben, ist noch penetranter als der blinkende Cursor. Der aufmunternde Ton ist eine Zumutung, ich fühle mich wie in einem Workshop vors Flipchart zitiert.

Ich ärgere mich, gebe aber trotzdem meine Einfälle in die Powerpoint-Masken ein. Dann entdecke ich, dass das Programm eine Notizzettel-Funktion hat. Man kann die Texttafeln als kleine Kästchen über den Bildschirm verteilen und beliebig hin und her schieben. Wenn man noch einen zweiten Bildschirm anschließt, ist das schon ganz schön viel Fläche. Man kann alle Einzelgedanken um sich ausbreiten und ihnen wieder eine räumliche Dimension geben. Wenn ich sie eine Weile betrachte, sehe ich, wie die Assoziationen, diese Längs- und Querverbindungen, diese Luftwurzeln und Schlingpflanzen, zwischen den einzelnen Begriffen wachsen. Und dann wird es mir möglich aus dem Begriffsraum die zeitliche Abfolge einer Argumentation zu gewinnen.

Eine Schreibgelegenheit ist auch dieser blogeintrag. Danke, dass du ihn gerade liest, Ich weiß, der Text ist viel zu lang für einen blog. Darum danke, dass du ihn sogar bis hier runter gelesen hast. Es ist ein in die Länge gezogener Gedanken- und Erinnerungsinhalt, der vor seiner Abbildung nichts als ein Knäuel, eine Struktur an Gedanken war, die irgendwie zusammen gehören.

Ich lagere also meine aufgefädelten Überlegungen im tiefen Schacht der Blogeinträge der taz ab. Du ziehst sie wieder heraus, liest sie in deinen Kopf ein. In deiner Erinnerung veknäulen sich meine Mitteilungen wieder. Morgen oder in einer Woche hast du‘s entweder komplett vergessen, dann gibt es in deinen Gedächtnislandschaften nichts als ein paar unbekannte Schwebstoffe. Oder in dir kommen beim Gedanken an diesen Text einzelne Bilder hoch: dieser merkwürdige Schreibkiesel, dein altes Handy, Fotos von Kampfjets, Powerpoint-Referate in dunklen Räumen. Du spürst meinem Jargon nach und  den einzelnen Formulierungen darin, und du denkst in der Erinnerung: Nee! oder: Hm! oder: Lustig!

Oder – und das schreibe ich jetzt nur für mich – es liest mal wieder kein Schwein. Dann wird meine kleine Assoziationskette einfach zu einer winzigen neuen Schicht in den dicht gepressten Sedimenten des Internet. Wie sie so daliegen, in irgendwelchen Speichern, über die verwendeten Begriffe oder auch über die Lagerstätte zu orten, fallen die Gedankenketten und Argumentationsstränge wieder auseinander, werden räumlich in diesem gigantischen Lager, dem Internet-Universum. Meine Ideen werden als Substanz kollektiviert, werden als Teil der Cloud dann vielleicht per Zufall gefunden und in einen neuen Zusammenhang eingebaut.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2017/01/31/der-schreibkiesel/

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