vonImma Luise Harms 23.03.2017

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Dieses Mal ist es mir richtig schwer gefallen. Die Kontoauszüge von 1977 bis 2006 weggeworfen! Die waren in einer Kiste verstaut und von mir seit langer Zeit nicht angerührt.  Ich wollte eigentlich gerade einen leeren Kontoauszugsordner wegwerfen, weil man jetzt sowieso keine Kontoauszüge mehr sammelt; ist alles im Netz.

Gleichzeitig suchte ich einen Karton für Spielkarten. Da lag die Frage nahe, ob ich denn diese uralt-Kontoauszüge, die ich für irgenwelche zukünftigen Beweisfälle auf einem Hängeboden aufgehoben hatte, noch jemals brauchen würde.

Ich konnte nicht widerstehen, die alten Kontobewegungen noch einmal durchzusehen. Und es berührt. Überweisungen für Wohnungen, in denen ich mal gewohnt habe, Steuerbescheide für Autos, die ich mal besessen habe, finanzielle Verflechtungen mit allen möglichen Menschen, mit denen ich zu tun hatte. Eine Überweisung und Barabhebung von fast 30.000 Mark. Ich erinnere mich genau, wie ich das Geld von einer Bank zu einer anderen getragen habe, als Anzahlung für meine damalige Eigentumswohnung. Es ging aus irgend welchen Gründen nicht anders; das Geld musste hingetragen werden. Und ich hatte das Gefühl, jeder sieht mir an, dass ich eine unvorstellbare, geradezu kriminelle Menge Geld in der Tasche habe.
Anwaltskosten für das juristische Nachspiel eines Unfalls. Überweisung für vier Einheiten Flötenunterricht von 1983; mehr sind es denn auch nicht geworden. Honorare für journalistische Arbeiten, die ich längst vergessen hatte. Telefonrechnungen – ich wusste nicht mehr, dass die Telefonkosten in den Jahren so hoch waren, manchmal 60, 80 oder 100 Mark. Telefonabrechnungshefte aus WG’s tauchen in meiner Erinnerung auf, in denen jedeR eintragen musste, wann und wie lange er/sie telefoniert hatte. Und dann drei vorwurfsvolle Fragezeichen hinter den Einheiten, die sich nicht zuordnen ließen.

Wie schon bei der akribische Berechnung meines Rentenanspruchs durch die Bundesversicherungsanstalt tauchen auch jetzt die Lebensphasen wieder vor mir auf, wann ich von wem Geld bezogen (und entsprechend meine Arbeit abgeliefert) habe. Dazu, wer bei mir gewohnt hat, bei wem ich gewohnt habe, in welchen Sportvereinen mein Sohn war. Der Kinderladen hieß “Lach & Krach”. Nach dem Judoclub kam der Footballclub.

Die schon zum Wegwerfen gestapelten Auszüge habe ich dann doch nochmal durchgeblättert und die Belege herausgesucht; sie kamen mir vor wie facettenreiche Bruchstücke eines Lebensspiegels. Vielleicht will ich das doch noch mal alles rekonstruieren, was wann und wo war.

Thomas kommt dazu, ich erzähle ein bisschen, sitze da, zusammen gesunken, betäubt von meiner eigenen Geschichte. Wie lange das alles her ist! Und jetzt im Abfall versenken? Nochmal wieder wegsortieren, damit ich es ein anderes Mal wieder finden kann? Und dann sitze ich wieder so da wie jetzt . “Hau’s weg und merk dir, was du dir merken willst!” sagt Thomas. Das habe ich dann auch getan.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2017/03/23/let-it-go-19/

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