vonImma Luise Harms 28.07.2018

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Über die Lippen als Verschluss des Mundraums, des Vorraums zum Schlund in das Körperinnere habe ich geschrieben. Da ging es hauptsächlich um Essen, das diesen Weg nimmt. Die Lippen verschließen aber auch den Sprachraum. Wer seine Lippen geschlossen hält, sagt nichts, schweigt.

Wer beharrlich die Kommunikation verweigert, wird schmallippig. Als ginge es nicht darum, die Worte im eigenen Mundraum zurückzuhalten, sondern die auftreffenden Anreden abprallen zu lassen, obwohl für den Empfang von Gesprochenem ja die Ohren zuständig sind. Merkwürdige Verschiebung: die zusammengekniffenen Lippen ersetzen den Ohrverschluss.

Wir haben einen Durchbruch zwischen zwei Zimmern gemacht und eine Glastür eingesetzt. Das hat verschiedene Gründe, die hier nicht erklärt werden sollen. Die Glastür kann offen stehen oder geschlossen werden. Die geschlossene Tür behindert weder den Lichteinfall noch den Blick in das Zimmer; ihre Funktion ist also ausschließlich, Geräusche auszusperren oder auch einzusperren. Geräusche dringen durch Ritzen. Also muss die Tür dicht sein. Damit sie das ist, gibt es in dem Metallrahmen eine Gummiwulst, gegen die sich die Glastür drückt, eine Dichtung. Und nun gehen die Probleme los.

Beim Einreißen der Wand stellte sich heraus, dass sie auf einer massiven alten Eisenbahnschiene aufgebaut ist. Die Schiene muss als gegeben hingenommen und irgendwie umbaut werden. Das bedeutet, der Metallrahmen muss am Boden auf der Schiene aufsitzen. Und hier bildet sich natürlich eine Ritze, denn die Glastür darf nicht an die Eisenbahnschiene anschlagen, Bruchgefahr. Es muss eine schützende Holzkonstruktion als Türschwelle den Eisenträger umfassen, und in dieses Holz muss eine Gummidichtung eingelassen werden, damit die Tür an allen vier Seiten dicht ist. Sonst hätte man auf ihren Einbau gleich ganz verzichten können.
Das kann ja nicht so schwer sein. Ein passendes Holz finde ich; eine Nut, in die die Dichtung eingelassen wird, kann ich fräsen. Nun brauche ich diese Gummiwulst. Heimwerkerbedarf.

Bei Obi versuche ich es gar nicht erst; ich fahre zu Hornbach. Die Frau von der Information schickt mich in die Bäderabteilung. Ich finde merkwürdige Silikonstreifen mit komplizierten Profilen. Ich kann nicht erkennen, wie die befestigt werden sollten, um die Berührung zwischen Glas und Holz abzupuffern. Anscheinend weiß ich noch zu wenig über Dichtungen.

Ich mache mir ein Bild im Internet und staune, welche verschiedenen Formen an Dichtungen es gibt. Und nun erfahre ich auch, dass es zum Beispiel Flügelfalzdichtungen, Schlauchdichtungen, Überschlagsdichtungen und – Lippendichtungen gibt. Die Gummilippe! Während ich das Wort hinschreibe, beeindruckt es mich mit seiner Buchstabenfolge. Die Gummilippe hat eine Art Lamelle, die etwas absteht und die beim Schließen der Tür angedrückt wird. Die Gummilippe schließt die Geräusche aus und ein. Ich brauche also eine Gummilippe oder etwas vergleichbares.

Hornbach ist ein Heimwerkermarkt, wenn auch ein großer. Possling ist ein Handwerker-Fachgeschäft, auch ein großes. Die müssen sowas haben – Gummidichtungen für Türrahmen.

In die Verkaufs- und Ausstellungslandschaft ist eine Art offenes Büro integriert. Hinter der Theke schauen MitarbeiterInnen in Bildschirme und blättern in Papieren. Ein Reißwolf frisst leise schnurrend ein Dokument. Eine Mitarbeiterin – es widerstrebt mir, sie „Verkäuferin“ zu nennen – tritt an die Theke und richtet ihren Blick auf mich. Sie ist klein, noch etwas kleiner als ich, hat rötlich-braun-geschecktes, kurzgeschnittenes Haar, unter dem die Kopfhaut hell schimmert. Ich bin schon froh, dass ich es nicht mit einem männlichen Kollegen zu tun habe; da werde als erstes mal zurechtgewiesen und belehrt.
Ich will also eine Dichtung. Sie schaut zögernd. „Da haben wir nicht viel; wozu brauchen Sie die denn?“ Bei dem männlichen Kollegen hätte ich ausweichend geantwortet, weil ich als nächstes zu hören bekommen hätte, dass man das so nicht baut, dass das grundsätzlich so nicht geht, usw. Der Mitarbeiterin erkläre ich, möglichst allgemein bleibend, was ich suche und für welchen Zweck. Sie blättert in einem Katalog und fragt, ob ich nicht lieber zu Graf gehen will, das sei ein Fachgeschäft für Dichtungen in Kreuzberg.

Nun bin ich aber bei Possling; sie verkaufen jede Menge Türen und Türrahmen, sie werden doch wohl eine einfache Dichtung haben! „Kann ich mir das mal ansehen, was Sie haben?“ frage ich. Ja, kann ich. Sie kommt aus dem Freiluft-Büro heraus und führt mich durch die Gänge bis vor eine Wand mit Rollen. Dort gibt es die Dichtungen vom Meter. Sie zeigt mir, dass die Auswahl tatsächlich nicht sehr groß ist. Es gibt ein Dichtungsband, das für mich infrage kommt, in weiß und in dunkelbraun, beides nicht das, was ich mir in der Schwelle so vorgestellt hätte. Es hat kleine Lamellen an der Unterseite, die in die gefräste Nut eingedrückt werden, und im übrigen ist es auch eigentlich ein Dichtungsschlauch, der beim Türschließen zusammengepresst und nicht nur angedrückt wird. Aber egal, dicht ist dicht. Außerdem bin ich jetzt hier, und der Meter kostet 1,31 Euro. Den nehme ich doch auf jeden Fall mit.
Die Mitarbeiterin steht abwartend neben mir und beobachtet, wie ich zu einer Entscheidung komme. „Also bei Graf haben sie jedes Profil, das Sie brauchen, auch noch andere Farben“, preist sie die Konkurrenz an. Aber ich bleibe stur und will kaufen, ich nehme den dunkelbraunen. „Also einen Meter“, sagt sie resigniert. Es ist aber keine Schere da. Ich biete die kleine Schere meines Taschenmesser an, das lehnt sie verwirrt ab und verschwindet in Richtung Freiluft-Büro. Die Schere zu holen, dauert eine Weile. Ich bin kurz davor, den Meter einfach abzuschneiden, da kommt sie mit einem amtlichen Maßband und einer amtlichen Schere zurück.

Nun habe ich ihn, den Meter Dichtung, kriege einen Zettel und kann zur Kasse gehen – habe ich gedacht! Ich muss ihr zum Freiluft-Büro folgen. Sie steht wieder auf der anderen Seite der Theke und fragt mich voller Hoffnung, ob ich eine Kundennummer habe. Nein, habe ich nicht. Sie wendet sich unglücklich ihrem Bildschirm zu. „Dann brauche ich mal Ihren Namen und Ihre Anschrift“. Ich werde erfasst und kann in Zukunft Ladungen von Holzplatten bestellen, wenn ich das möchte, ich bin im System. Jetzt geht es aber um den Ausdruck einer Rechnung über 1,31 Euro mit ausgewiesener Mehrwertsteuer und der Belehrung, dass ich dieses Produkt nicht zurückgeben kann. Das muss ich auf einem Extra-Formular unterschreiben.
Der Ausdruck der Rechnung macht Schwierigkeiten; ich warte und schlage dann höflich vor, ich könnte in der Zwischenzeit nach einer Gummimanschette (auch eine schöne Buchstabenreihe!) für unseren Meißel schauen. „Nein, nein“, sagt die Mitarbeiterin, „ist gleich da. Kommt schon!“. Sie legt mir zwei A4-Bögen vor und erklärt den Posten noch einmal. Dann darf ich das dunkelbraune Gummistückchen und die zweifache Rechnung mit zur Kasse nehmen.

Ich schau nochmal bei den Meißeln vorbei, finde aber nicht das, was ich brauche. Auf dem Weg zur Kasse taucht der rot-braun-gescheckte Kopf im Gang hinter mir auf. Die Mitarbeiterin schwenkt ein Blatt Papier. „Es fehlte ja noch der dritte Ausdruck, der ist noch für Sie“, erklärt sie mir, drückt mir auch diesen Zettel noch in die Hand und verschwindet sehr schnell hinter der nächsten Regalreihe.

Die Kassiererin wartet schon. Sie nimmt die dreifache Rechnung entgegen und schaut staunend auf das Stück Schlauch. Sie tippt Verschiedenes in die Kasse ein und die rattert und rattert und würgt einen Beleg hervor, der anscheinend alle Informationen enthält, die schon auf den A4-Blättern vermerkt waren. Der Kassiererin ist das ein bisschen peinlich. Als der Apparat endlich fertig ist, faltet sie den Beleg, der 70 cm lang geworden ist ein paarmal zusammen, sodass er eine harmlose Größe kriegt, nimmt die 1,31 entgegen und wünscht mir einen schönen Tag noch.

Ach so, das eine A4-Blatt ist ja für meine Unterlagen, das muss ich auch mitnehmen!

Epilog:
Ich bin mit der Farbe dann wirklich nicht so ganz zufrieden. Beim nächsten Berlinaufenthalt suche ich das Dichtungs-Fachgeschäft Graf auf. Ich finde eine hellgraue Gummilippe, diesmal wirklich eine Lippe, verlange einen Meter davon. Der Verkäufer geht in die Lagerräume und kommt mit einem hellgrauen Stück Gummi zurück. Ich frage, was es kostet, und mache mich auf alles gefasst. Er sagt: „Ach, geben Sie was für die Kaffeekasse. Ich hab keine Lust, dafür ne Rechnung zu schreiben“ und hält mir ein Glas hin. Ich lasse 2 Euro da.

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