vonImma Luise Harms 31.10.2018

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Die Rollen der Koffer breiten einen dunklen Klangteppich unter den Schritten der Reisenden aus. Auf dem Pflaster der Hafenmole hüpfen und rumpeln die bunten Hart- und Weichschalen-Behälter ihren BesitzerInnen hinterher. Meiner ist eine unauffällige schwarze Weichschale.

Zwei Tage war Sturm auf Helgoland; die Fahrten des Katamarans, des Schnellbootes aus Hamburg sind eingestellt worden. Nur der große, schwere Vergnügungsdampfer aus Cuxhaven kann in den meterhohen Wellen noch einigermaßen geradeaus fahren. Die Reisenden wurden gebeten, auf dieses Schiff auszuweichen.

Der Dampfer ist schon in Sicht. Ich sehe, wie sich sein Bug jenseits der Mole hochhebt und dann wieder so tief absenkt, dass er nicht mehr zu sehen ist. Auf dem Rückweg soll es weniger schlimm sein, weil das Schiff dann in Windrichtung fährt. Ich habe zwei Tabletten gegen Seekrankheit genommen und stehe mit anderen vor dem Seil, das uns, die Reisenden daran hindern soll, auf das ankommende Schiff zuzustürmen. Erst muss ausgestiegen werden.  Ein Ehepaar steigt über das Seil, um seine Koffer zu einer kleinen Koffergruppe einige Meer vor uns zu stellen, die anscheinend vom Gepäckdienst hergebracht wurde. Ihnen sei gesagt worden, das sollen sie machen, dann ginge es nachher schneller. Da kann ich mich ja gleich anschließen. Wir tragen die Gepäckstücke das kleine Stück über das Pflaster, als wenn wir keinen Lärm verursachen dürften. Dann schlüpfen wir wieder hinter das Seil zurück. Ein Hafenmitarbeiter, der weiter vorn in Richtung der Anlegestelle steht, ist aufmerksam geworden und ruft von fern; das Ehepaar wendet sich ihm zu. Sie sollen ihre Koffer da wegnehmen; sonst kommen sie mit dem Gepäck durcheinander, das von Schiff herunter geladen wird. Sie tun, was ihnen gesagt wird.

Ich bin unschlüssig, soll ich meinen Koffer auch wiederholen? Ich wurde nicht direkt angesprochen, und ich habe es ihnen ja nur nachgemacht. Andererseits, das Gepäck, bei dem er steht, muss schließlich auch auf das Schiff. Ich warte ab und beobachte.

Die Menschenmenge hinter mir wird größer und drängender. Ein Mitarbeiter in Signalweste hält das Absperrtau jetzt mit den Händen fest und lässt nicht mehr zu, das sich jemand daran vorbeidrängt. Also könnte ich meinen Koffer jetzt auch gar nicht mehr zurück holen, ohne umständliche Erklärungen abzugeben.

Als schließlich auch die letzten Passagiere mit Sack und Pack in Richtung Insel an uns vorbeigezogen sind, wird auch für uns der Weg freigegeben. Wieder bin ich unsicher, ob ich mich bemühen sollte, meine Spitzenposition zu nutzen, um einen günstigen Platz auf dem Schiff zu bekommen – man hat mir gesagt, dass man auf einem Schiff bei schwerer See am besten unten und in der Mitte sitzt – oder ob ich darauf achten sollte, dass mein Koffer auch in die richtige Richtung transportiert wird. Wie ein Stück Treibholz werde ich am Rande des Menschenstroms mitgezogen.

Helgoland ist eine Ausflugsinsel; die meisten Menschen bleiben nur ein paar Stunden, machen eine Runde auf dem für sie vorgesehenen Weg über den Sandsteinfelsen, bestaunen die Lange Anna, fotografieren die Möwen, kaufen auf dem Rückweg zollfreie Spirituosen und fahren am Nachmittg wieder zurück. An den Klippen gibt es den Lummenfelsen. Von dort stürzen sich die kleinen Trottellummen, die noch nicht fliegen können, aber den Lockrufen ihrer Eltern blind vertrauen, die 50 Meter tief ins Meer. Vielleicht sind es auch nicht die Rufe der Eltern, sondern der Sog der Artgenossen. Alle stürzen sich runter, dann ich auch.

Im Sandsteinfelsen gab es während des Krieges ein komplexes mehrgeschossiges Tunnelsystem, ein Vielfaches der Inselgröße lang, das von den Engländern nach Kriegsende sorgfältig in die Luft gejagt wurde. Die ganze Insel erhielt durch die Sprengung eine neue Topografie. Zwei Stollen, die dem Schutz der Zivilbevölkerung gedient hatten, sind übrig geblieben. Dort kann man jetzt das Luftschutzbunkergefühl sinnlich erfahren. Die Menschen mussten während der Kriegstage ständig rein und raus. Sie hatten ihren festen Platz auf den Bänken im Gang, unter ihnen eine Kiste mit dem Nötigsten, an der Wand eine Stange für Anzüge und Kleider. Auch am 19. April saßen die EinwohnerInnen der Insel hier drin, als ein Generalangriff mit 7000 Bomben alles oberirdische Leben auf der Insel auslöschte und keinen Stein auf dem anderen ließ. Die Menschen mussten ausharren und wurden am nächsten Tag durch seitliche, noch freizuschaufelnde Ausgänge auf Schiffe verladen und ans Festland gebracht. Ihr Zuhause haben sie nicht wiedergesehen, weder heil noch zerstört. Ich stlele mir vor, wie ein Zug von 2.500 Menschen durch die Stollen nach draußen kriecht, einer hinter dem anderen, die Kinder an der Hand. Nicht umsehen, sonst erstarrst du zur Salzsäule, zur Langen Anna!

Das Wesen einer Herde. Du bist ohnmächtiger Teil von etwas, du hast keine Chance, dir eine eigene Meinung zu bilden oder gar eine eigene Handlungsentscheidung zu treffen. Du kannst nur deinem Vorgänger vertrauen, dass er seinem Vorgänger vertraut, und der seinem, und dass da irgendwo vorne eine Sinnhaftigkeit in dem Ganzen liegt.  Dein Vorgänger reicht dir die Hand und du reichst deine deinem Nachfolger. Mehr kannst du nicht tun.

Die Überfahrt ist ein sanfter Abschied. Unten in der Mitte wollte niemand sitzen. Ich komme in Cuxhaven an, mein Koffer auch. Ich fahre mit dem Zug nach Bremen, von dort nach Berlin. Aber in Sehnde bleibt der Zug stehen, endgültig. Ein Personenschaden auf der Strecke, heißt es. Alle sollen aussteigen. Busse werden kommen. Ein Menschenstrom ergießt sich über den kleinen Bahnhofsvorplatz. Niemand weiß, wohin. Die einen folgen ihrer Intuition, die anderen folgen denen mit der stärkeren Intuition. Es bilden sich Beulen von wartenden Menschen an Stellen, wo ein Bus halten könnte, dicht an den Kantstein gedrängt. Denn wenn er kommt, will man ganz vorne sein.

Es dauert lange, bis schließlich zwei Busse um die Ecke kommen. Zwei Busse für hunderte von Menschen. Sie halten nicht vor dem Knäuel aus Wartenden, sondern ein Stück weiter weg. Alle rennen, manche geziert, manche unverhohlen.

Ein Geschiebe, ein Gequetsche, niemand will darauf vertrauen müssen, dass noch weitere Busse kommen.

(wird fortgesetzt)

 

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2018/10/31/den-anordnungen-des-personals-ist-folge-zu-leisten/

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