vonImma Luise Harms 29.01.2019

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

Vor mir geht eine Frau mit Kinderwagen. Über dem Kinderwagen ist ein Cape, denn es ist die ganze Zeit ein leichter Regen. Wenn ich an meiner Kapuze vorbeischiele, sehe ich das Pärchen links neben mir. Auf ihrer anderen Seite ist noch jemand, den sie anscheinend kennen; sie laufen jedenfalls nebeneinander, immer ungefähr auf einer Höhe. Auf meiner rechten Seite geht Thomas, noch ein Stück weiter Felix, Rolf und Wanja. Wanja hat eine große rote Fahne; sie läuft ein bisschen abseits, wahrscheinlich, damit die Fahne sich besser entfalten kann. Rolf hat einen Bekannten getroffen und schlendert mit ihm am Rand entlang, obwohl aus den Lautsprechern dazu aufgefordert wird, nicht am Rand sondern auf der Straße mitzugehen.
Ein paar Reihen vor uns wird ein Transparent getragen, weiße Schrift auf schwarzem Grund, mit regelmäßigen Löchern zwischen den Buchstaben, um den Wind durchzulassen. Ich habe mir nicht gemerkt, was draufsteht. Von hinten sieht das Tuch aus wie ein Taubenschlag; die Wörter von der Vorderseite könnten durch die vielen kleinen Stoffklappen gleich in den Himmel abheben.
Ein paar Reihen hinter uns kommt der Lautsprecherwagen. Die Redebeiträge sind einleuchtend, die Musik dazwischen ist zündend, treibt mich voran. Ich möchte hüpfen oder im Rhythmus mit den anderen vorwärtsziehen. Aber man marschiert auf Demos nicht mehr, wir sind doch keine Front! Man hüpft auch nicht wie in manchen südlichen Ländern.

Dies ist ein politisch gemäßigter Block auf der Rosa-und-Karl-Demonstration, auch LL-Demo genannt. Der hundertste Todestag der KPD-GründerInnen. Ich komme vom Friedhof in Friedrichsfelde Ost, weil ich das Auto schon mal an den Endpunkt der Demo gebracht habe. Viele, viele Menschen, vor allem alte Ehepaare mit ernsten Gesichtern, kommen mir entgegen, als ich Richtung Lichtenberger Bahnhof zurückgehe. Fast alle haben Nelken in der Hand, manche zwei, manche drei, einige auch fünf.  Diejenigen, die erst an der Demonstration teilnehmen und dann zu den Gräbern gehen, sind eher die Jüngeren. Die U-Bahn ist voll von ihnen.

Die Demonstrationsspitze steht schon, und die ersten Blocks dahinter auch. Ich bin nicht einverstanden mit den, alle historische Erfahrungen ignorierenden, Parolen auf den Transparenten und wandere auf der Suche nach meinem Platz langsam nach hinten. Köpfe sind aus den Gräbern der Geschichte aufgetaucht und wabern nun schwarz auf rotem Stoff: Lenin, Stalin, Mao. Irgendwie warte ich noch auf das Bild vom Präsidenten Gonzales, für dessen Befreiung wir in den 90er Jahren Himmel und Hölle in Bewegung setzen sollten, wie es auf einem über die Oranienstraße gespannten Transparent hieß. Auch Öcalan oder PKK-Fahnen sind nirgendwo zu sehen; die polizeilichen Greiftrupps stehen auf der anderen Straßenseite schon bereit.

Ich bin nicht für die starke Avantgarde-Partei Lenins, die mit eiserner Faust die Einheit der revolutionären Bewegung herstellt. Ich bin überhaupt nicht für eine Partei, sondern für Basisbewegungen, die wühlen und sich aufeinander beziehen und allmählich die Normen dessen verschieben, was als gerecht gilt, bis das Herrschende kollabiert. Und insofern bin ich auch für Aufstand und Revolution. Und das macht man nicht allein; man muss wissen, auf wen man sich dabei verlassen kann. Insofern: die Solidarität! Um die geht es hier; sie tönt aus allen Kanälen, wobei es Raum gibt, mit diesem und jenem mehr oder weniger solidarisch zu sein. Dazu sucht man sich seinen  Bezugsrahmen. Wir haben uns für den Block der Radikalen Linken entschieden, eher Bewegung als Partei. Andere haben auch so gewählt. Wir gehen in einem losen Haufen zwischen dem Transparent und dem Lautsprecherwagen. Wir hören einen Redebeitrag über Rojava und einen über den patriarchalen Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Die Frau mit dem Kinderwagen fällt etwas zurück, sie wird von den nachfolgenden Reihen umspült. Die Spaziereinheiten fallen in kurze Polymerketten auseinander und gruppieren sich neu. Wir sind jetzt auf einer Höhe mit Henner, der mit ein paar Leuten unterwegs ist, die ich nicht kenne. Er begrüßt mich und brüllt mir ins Ohr, dass er seit vielen Jahren das erste Mal wieder auf der LL-Demo ist. Aha – hm, warum sagt er mir das?

Ich schaue nach links und rechts, wer inzwischen meine NachbarInnen sind. Ein anonymes Geschiebe wie auf der Warschauer Brücke, wenn man von der U- in die S-Bahn umsteigt. Aber irgendwas hat uns doch hier zusammen gebracht, irgendwas eint uns doch? Rosa Luxemburgs menschlicher Begriff von Kommunismus? Vielleicht eine Projektion; sie hat nicht lange genug gelebt, um Teil des leninistisch-stalinistischen Parteiapparats zu werden – oder von ihm verschlungen zu werden. Die Überzeugung, dass die Revolution zwar nicht auf der Tagesordnung steht, aber die gesellschaftliche Umwälzung nach wie vor notwendig ist? Aber dazu braucht es das Wir, den Bezug aufeinander. Ich habe das Bedürfnis, dieses Wir körperlich zu machen, und hake mich bei Thomas ein. Thomas nimmt das als Signal, um sich bei Felix unterzuhaken, schon damit wir nicht ein auf einer Demo spazierengehendes Paar sind. Ich sehe nach links; die Dreiergruppe von vorhin ist wieder auf einer Höhe mit uns. Warum kann ich die nicht auch einhaken? Erstmal müsste ich Blickkontakt aufnehmen, irgendwie ins Gespräch kommen. Sonst ist das ja wie ein körperlicher Angriff. Aber ihre Augen gleiten über meinen Blick hinweg; sie nehmen mich nicht wahr. Das geht so nicht. Die kurzen Polymere gehen nicht in Verbindung.

Was ist das denn für eine Solidarität, die auf jedem Flugblatt und aus allen Lautsprechern beschworen wird, wenn es noch nicht mal möglich ist, in so einer Demo freundlich voneinander Notiz zu nehmen? Von Reihen oder Ketten ganz zu schweigen. Ketten wären Demo-technisch ganz verkehrt, erklärt mir Henner später in der Kneipe, weil man dann die Arme nicht frei hat, um Bullen-Angriffe abzuwehren. Abgesehen davon, dass es auf der LL-Demo keine Bedrohungssituation gab, war die Kette zu anderen Zeiten auch die Methode, um sich gegenseitig zu schützen – gegen das Herausgreifen Einzelner aus dem Demo. Und einfach die Fortbewegungsanordnung, um sich nicht gegenseitig auf die Hacken zu treten.

„Ich hab dich gestern auf dem Rosa-und-Karl-Gedenkmarsch gesehen“, sagt Dani am nächsten Tag. Na, ein Marsch war es nicht, wie ich schon sagte, viel zu unorganisiert. Und Gedenken? Vielleicht mehr ein Erinnerungs-Umzug – Erinnerung daran, dass es sie noch gibt, all die Gruppen, die der Revolution in wöchentlichen Verbandstreffen entgegenfiebern – dass es uns noch gibt.
Einheit heißt, für die Fehler der anderen mitverantwortlich zu sein – Freiheit heißt, in Zweifelsfall allein dazustehen. Die dialektische Spannung zwischen Solidarität und Bewegungsfreiheit macht mich schwermütig. Ich will untergehakt sein, aber mich nicht unterhaken, jedenfalls nicht mit jedem!

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2019/01/29/praktische-solidaritaet/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert