vonImma Luise Harms 18.09.2019

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ich bin allein im Haus. Das Haus hat einen Garten. Er ist weitläufig und etwas verwildert und wirkt verlassen. Seit dem trockenen Sommer ist hier nicht viel passiert. Ich finde einen kleinen Kürbis beim Komposthaufen und drei wurmstichige Mohrrüben in einem halb versteckten Beet. Ein Apfel ist noch von meiner Reise da und ein paar gekochte Kartoffeln von gestern Abend.

Ich werde mir eine Kürbissuppe machen. Kürbis, Apfel und… – ich habe das Kraut doch hinten bei den Möhren gesehen, das Kraut, das man außer Apfel in die Kürbissuppe tut! Wie heißt es nochmal?

Wie heißt das Kraut? Das kann doch nicht wahr sein! So ein alltäglicher Name! Längliche, ovale Blätter, silbrig klein bis silbrig groß, glatte Kante, die Fläche narbig, wie mit Raureif überzogen. Wächst in kleinen Büschen überall, wo man sie hinpflanzt. Los! Wie heißen sie!? Man trocknet sie auch und nimmt sie für Tee, zum Beispiel bei Halsweh. Das kann nicht sein, dass ich mich nicht an den Namen erinnere! Irgendwas mit sch- .

Bei einem Treffen fragte ich Thomas mit Blick auf ein Paar, das uns bekannt ist: „Wie heißt der Freund von Mira nochmal? Ich komm nicht drauf.“ Thomas schaut, stutzt, denkt nach, antwortet: „Wenn du mich nicht gefragt hättest, hätte ich es gewusst.“ Das haben wir schon öfter erlebt – die Blockade überträgt sich. Die kleine Hand im Gehirn, die den Satz zusammenbaut, greift in Leere. Sie greift immer wieder hin, aber der Name entschlüpft. Wir wissen, da hilft nur situatives Vergessen, nicht mehr drüber reden. Nicht mehr spekulieren, ob es „Jacques“ war oder „Jean“ oder „Jorge“, irgendwas mit J. Dann, beim Nachhause Gehen fällt uns fast gleichzeitig ein: „Dario“! Wie kommen wir auf J? Er heißt doch „Rumpelstilzchen“!

Ich hole das Kraut aus dem Garten. Ich schaue die silbrigen Blätter in meiner Hand an. In das angestrengte Nachdenken mischt sich Verzweiflung. Demenz, Demenz – das Wort drängt sich nach vorn und es legt sich lähmend über die Suchbewegungen in meinem Kopf. Irgendwas mit –sch, versuche ich weiter, vorne oder hinten oder in der Mitte! Da liegen die Blätter in meiner Hand, da schwimmt das kleine Wort in meiner Gehirnsuppe, ein Wort aus ein paar Buchstaben auf der Suche nach seinem Kontext. Ein Stückchen Treibholz, das von den heftigen Wellen des Nachdenkens in immer neue Uferverstecke getrieben wird, wo ich es nicht finden kann. Nein, ein kleines Boot, das seinen Sinn in sich trägt, aber nirgends anlanden kann. Für was ist es da, dieses Wort, wo gehört es hin? Wie kann es sich verbinden?

Ich setze mich an den Tisch. Der Kürbis ist zerlegt, die Äpfel geschnitten, die Karotte gesäubert. Die Blätter liegen vor mir. Ich will nicht aufgeben. Eine Freundin hat mir mal ihren Trick verraten. Wenn sie auf der Suche nach einem Namen ist, der ihr nicht mehr einfallen will, geht sie das Alphabet durch. Ganz langsam, Buchstabe für Buchstabe. Wie eine Wünschelrute – beim richtigen Buchstaben schlägt sie an und der Name springt aus seinem Versteck!

Ich mache einen Versuch.
„A, B, C…“ Nein, das war’s nicht, aber nichts auslassen!
„D, E, F, G…“ Nein, nichts.
„H, I, J…“ Nein, sicher nicht.
„K, L, M, N…“ Irgendwas mit sch-, vorne oder hinten oder in der Mitte, der Gedanken fährt mir immer wieder in die Versuchsreihe.
Weiter. „ O, P, Q…“ Nein.
„R?“ Jetzt kommt „irgendwas mit sch“. Wenn‘s das nicht ist… Das Alphabet ist fast durch. Mir wird bang. Aber vor Sch kommt ja erstmal ist S.
„S?“ – „Salbei“. Salbei! Natürlich Salbei! Erleichtert und glücklich benutze ich das Wort, um das Kraut vor mir zu bezeichnen, erst im Kopf und dann auch laut: „Salbei“. So ein schöner Name, wie elegant er sich in sich beugt und wendet! Sal-bei! Wie er im Mund liegt!

Salbei. Nun zerhacke ich die Blätter; sie verlieren dabei ihren silbrigen Schimmer. Ich gebe sie in die Suppe, zerkoche sie und beim Löffeln der Suppe beruhige ich mich langsam. Meine Gedanken treiben in andere Richtungen. Das Wort „Salix“ schwebt vorbei, das lateinische Wort für den Weidenbaum, das ich auch mal gesucht habe. Dann die Salizylsalbe, die es damals in unserer Hausapotheke gab, ich weiß nicht mehr, wofür oder wogegen. Und dann komme ich auf „Salis“, altes Adelsgeschlecht, dem die halbe Schweiz gehört, auch das Schloss in Soglio im Bergell mit seinem zauberhaften Rosengarten und den zwei riesigen steinalten Mammutbäumen. Wenn man an ihnen empor sieht, gleitet der Blick bis in den blauen Himmel.

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