von 24.02.2013

Ökosex

Martin Unfrieds Blog beschäftigt sich mit emotionaler Klimaintelligenz, mit der Kultur und Emotion von solarer Effizienz und Ökologie .

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gesellschaftliche Energiewende-Thesen

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1. Ohne gesellschaftlichen Wandel keine umfassende Energiewende

Das Gelingen einer umfassenden Energiewende (also nicht nur beschränkt auf den Bereich Strom) ist nicht allein von technischen und ökonomischen Voraussetzungen abhängig. Gesellschaftliche Voraussetzungen wie Lebensstil- und Konsummuster und vor allem die gesellschaftliche Akzeptanz politisch gesteuerter Energiepreise und ambitionierten Ordnungsrechts sind wichtige Bedingungen für zukünftige Entwicklungen und politische Mehrheitsentscheidungen. Diese gesellschaftlichen Voraussetzungen sind nicht festgeschrieben, sondern durch Politik und Gesellschaft veränderbar.
Die technischen und ökonomischen Voraussetzungen und Pfade einer umfassenden Energiewende sind bereits in unzähligen Studien und Szenarien untersucht. Für den umfassenden gesellschaftlichen Wandel als Voraussetzung einer Energiewende beispielsweise in den Bereichen Strom, Gebäude und Verkehr gibt es diese umfassenden Studien und entsprechende Szenarien nicht.
Es gibt bisher auch keine ernsthafte Debatte über gesellschaftliche Voraussetzungen. Dagegen gibt es reflexartige Verweise auf moralische Fragen, wenn es um Lebensstil und umweltgerechtes Verhalten geht.

2. Lebensstil- und Konsumfragen und politische Haltungen einer Gesellschaft haben nur am Rande mit der Moral des Einzelnen zu tun

Private politische Haltungen, Lebensstil und Konsum sind Ausdruck kultureller Prozesse (z.B. Werte, Konsumleitbilder, Moden). Sie sind eingebettet in wirtschaftspolitische Entscheidungen (Industriepolitik, Steuerpolitik) und entsprechende Ordnungspolitik (Ge- und Verboten, technische Standards, Produktdesign-Gesetzgebung). Die heutige autozentrierte deutsche Verkehrspolitik wird nicht nur mit Werbemilliarden emotional unterstützt, mit öffentlich finanzierter Infrastruktur ermöglicht, mit Steuerrecht begünstigt (Dienstwagen, Pendlerpauschale), sondern ebenso mit rigidem Ordnungsrecht flankiert (Versicherungspflichten, Baurecht, Parkraumbewirtschaftung). Die gesellschaftlich gewollten privaten und öffentlichen Investitionen in PKWs (Neuwagen im Durchschnitt 25000 Euro mit hohen Verbräuchen) entziehen sich einer strengen individuellen und volkswirtschaftlichen Kostenlogik. Sie sind offen kulturell (Schnellfahren als Kulturgut) und industriepolitisch (Standort/Arbeitsplätze) motiviert. Interessanterweise ist es gerade der nicht-kostenorientierte private Dauerkonsum im Auto- und auch im IT-Bereich, der wegen seiner Wachstumsimpulse positiv gesehen wird. Deshalb ist es eine Lebenslüge der Gesellschaft, den Produktbereich Energieeffizienz und erneuerbare Energien aus dieser Art Konsumlogik heraus zu nehmen und einer reinen Kostenlogik zu unterwerfen (oder die moralische Verantwortung des Einzelnen zu bemühen). Die Energiewende gelingt, wenn innovative Techniken zu neuen Leitbildern der Konsum- und Industriegesellschaft werden (was mit der Photovoltaik in Ansätzen bereits der Fall ist) und diese durch weitergehende, steuer-, sozial- und ordnungspolitische Entscheidungen flankiert und von der Gesellschaft akzeptiert werden (was noch nicht der Fall ist).

3. Die deutsche Gesellschaft kann sich die Energiewende leisten, wenn sie sich die Energiewende leisten will

Natürlich hat die im Vergleich reiche, deutsche Gesellschaft den Handlungsspielraum, Investitionsprioritäten zu verändern und neue kulturelle und gesellschaftliche Prioritäten im Sinne der Energiewende zu vereinbaren. Sie kann sich die Energiewende leisten, wenn sie sich die Energiewende leisten will, auch wenn die Energiepreise (nicht unbedingt die Energiekosten) steigen sollten. Die Debatte um gestiegene Strompreise in Privathaushalten zeigt allerdings, dass dieser Handlungsspielraum (im Vergleich zu anderen Prioritäten) kaum diskutiert und wahrgenommen wird. Gesellschaftliche Prioritäten können sich aber ändern. Dazu braucht es eine offene Debatte und überzeugende gesellschaftliche Unterstützer dieses Prioritätenwechsels. Und wie gezeigt braucht es eine weitergehende politische Unterstützung durch Steuer- Ordnungs- und Sozialpolitik. Politisch wird dies nur möglich, wenn Regierungsparteien davon überzeugt sind, dass ein solcher Politikwechsel die eigenen Wahlchancen nicht beeinträchtigt, sondern fördert. Gesellschaftliche, politische, technische und ökonomische Voraussetzungen bedingen sich deshalb gegenseitig, und können nur in einer schrittweisen Strategie gegenseitiger Stimulanz erfolgreich sein. Die gesellschaftliche Akzeptanz einer Verschiebung von privaten und öffentlichen Investitionen kann politisch positiv beeinflusst werden (finanzielle Anreize, Steuern) und ist wiederum wesentlich für weitergehende politische Reformschritte.

4. Für eine intensivere Debatte der gesellschaftlichen Dimension der Energiewende braucht es zusätzliche wissenschaftliche Studien und Szenarien

Welche Maßnahmen und Maßnahmenpakete könnten den genannten gesellschaftlichen Wandel in Richtung Energiewende begünstigen? Wie können gesellschaftliche Mehrheiten für einen solchen Wandel gewonnen werden und wie können bereits gefestigte Mehrheiten schneller Einfluss auf die Politik nehmen? Wie im technisch-ökonomischen Bereich wären neue Studien und deren Ergebnisse Voraussetzung einer gründlicheren Diskussion verschiedener Szenarien gesellschaftlicher Entwicklung. Heutige Einschätzungen zur Bedeutung von Ge- und Verboten, Steueranreizen, Bürgerbeteiligung im Energiebereich für Akzeptanz und Finanzierung, Rekommunalisierung und genossenschaftlichem Wirtschaften, den Chancen nachhaltigen Konsums und nachhaltigen Lebensstilen (Beispiel privater Autoverkehr und Fleischkonsum) müssen systematischer zur Entwicklung einer gesellschaftlichen Strategie und verschiedener Szenarien führen. Verglichen mit der technischen oder ökonomischen, ist die gesellschaftliche Debatte wenig fundiert und systematisch.

5. Der ökonomisch-technische als auch der gesellschaftliche Wandel ist im Strombereich am weitesten

Der Bundesumweltminister liegt falsch, wenn er gerade die Herausforderungen der Stromwende überzeichnet. Die ökonomischen und technischen Pfade der Stromwende sind weitgehend bekannt (mit Debatten zum Umfang neuer Leitungs- und Speicherinfrastruktur). Auch die gesellschaftliche Akzeptanz des Umstiegs auf erneuerbare Stromproduktion ist trotz anspruchsvoller raumplanerischer und preissteuernder Eingriffe hoch. Die Transformation im Strombereich ist gesellschaftlich in vollem Gange mit regionalem und lokalem Bürgerengagement. Landkreise und Kommunen entwickeln sich zu neuen Trägern der erneuerbaren Energiepolitik. Allerdings verschleiert die Überbetonung der ökonomischen (Kosten) und technischen Herausforderung (Leitungen/Speicher) auch hier die eigentliche gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Anforderung.

6. Es geht im Kern um die politische und gesellschaftliche Unterstützung neuer Geschäftsmodelle und Märkte gegen gefestigte Interessen

Jenseits der oberflächlichen Betonung von Technik und Kosten geht es bei der Energiewende vor allem um die Veränderung von Märkten und gängiger Geschäftsmodelle (z.B. Energieverkauf, Automobilverkauf, Geräteverkauf), die gekoppelt sind an die Interessen großer Konzerne. Auch hier sind die Konflikte im Strombereich nur Vorläufer für spätere gesellschaftliche Interessenskonflikte.
Damit verbunden sein kann der notwendige Um- oder Abbau großer Stromkonzerne aufgrund des politisch gewollten Verschwindens bisheriger Geschäftsmodelle (z.B. große Atom- und Kohlekraftwerke) und einer Dezentralisierung der Stromproduktion. Unbekannt sind hier weniger ökonomische Fragen wie die Wirkung von Preissignalen und des Marktdesigns, sondern eher gesellschaftliche Fragen des Umbaus von großen Unternehmen und des Übergangs zu einer regionalen und kommunalen Energiewirtschaft. Noch wird in Deutschland politisch nicht offen diskutiert, ob die bisherigen Konzerne (too big to fail), deren Größe im Falle eines wirtschaftlichen Scheiterns auch volkswirtschaftlich problematisch wäre, im Sinne einer Dezentralisierungsstrategie bewusst verkleinert oder aufgeteilt werden sollten. Im Strombereich wurde bisher deutlich, dass herkömmliche Geschäftsinteressen der Konzerne und eine Beschleunigung der Energiewende nicht zusammen gehen. Das wird mit Blick auf deutsche und europäische Automobilunternehmen in wenigen Jahren vielleicht ähnlich relevant, wenn neue Mobilitätsdienstleister erfolgreich neue Marktanteile übernehmen. Noch ist nicht im Ansatz zu erkennen, wie für einen solchen industriepolitischen Prioritätenwechsel politische Mehrheiten gewonnen werden können. Die gesellschaftliche Akzeptanz einer Dezentralisierung der Energiewirtschaft dagegen scheint bereits hoch zu sein.

7. Die Qualität gesellschaftlicher Kostendebatten ist ein entscheidender Faktor, wenn es um Kosten geht

Mit Blick auf die verschiedenen Bereiche wird die künftige Qualität gesellschaftlicher Kosten- und Marktdebatten die Akzeptanz und das Tempo der Energiewende bestimmen. Auch hier ist der Stromsektor nur Vorläufer.
Im Strombereich geht es angesichts des erfolgreichen Ausbaus Erneuerbarer bereits um die radikale Reform des jetzigen Strommarktes und die Anpassung von Preissignalen an die künftige Dominanz erneuerbarer Stromproduktion (siehe Agora-Energiewende Thesen | http://www.agora-energiewende.de/themen/die-energiewende/detailansicht/article/12-thesen-zur-energiewende/). Ein aktuelles Problem in diesem Bereich sind allerdings nicht nur reale heutige und künftige Kosten, sondern die Grundlagen der gesellschaftlichen Strommarkt- und Kostendebatte. Insbesondere ist das Hantieren mit einem beschränkt volkswirtschaftlich aussagefähigen Kostenindikator (wie der EEG Umlage) problematisch: das führt zu verzerrten Debatten über Milliardenkosten der Erneuerbaren und wenig Sicht auf volkswirtschaftliche Effekte und den echten Kosten der fossilen Konkurrenz. Im Verbund mit Privilegierung von Industriebetrieben und fehlender sozialpolitischer Steuerung (einkommensschwache Haushalte) kommt deshalb sogar ein offensichtlich erfolgreiches Instrument politisch in Gefahr. Ein Beispiel dafür, wie die Qualität der Kostendebatte über das Schicksal politischer Instrumente und über die Akzeptanz weitgehender politischer Reformen entscheidet. Im Fall der Erneuerbaren Stromproduktion braucht es dringend einen neuen umfassenderen Energiewende Kostenindikator (einige Institute arbeiten daran), der die gesellschaftliche Kostendebatte entzerrt.
Im Verkehrsbereich, dessen praktische Transformation noch kaum begonnen hat, zeigen sich seit Jahren ähnliche Probleme der Kostenkommunikation. Bisher werden beispielsweise höhere Grenzwerte für CO2 bei PKW mit dem betriebswirtschaftlichen Argument der höheren Kosten pro Modell aus Sicht der Autobauer/Autofahrer diskutiert. Für die offensichtlichen volkswirtschaftlichen Vorteile kleinerer, preiswerterer und verbrauchsarmerer Autos, sowie die ungeheuren Einsparpotentiale privater und öffentlicher Haushalte gibt es kaum Indikatoren. Aktuell beherrscht auch wieder ein Klassiker der Ausredengesellschaft die Debatte: der Fokus auf die Elektromobilität und deren hohe Kosten – eine noch nicht massentaugliche technische Lösung – lenkt von den finanziellen Einsparpotentialen nicht-technischer Lösungen ab.
Auch der schleppende Umbau der deutschen Städte und Gemeinden in Richtung ÖPNV und Fahrradstadt wird mit hohen Kosten und fehlenden individuellen Finanzmitteln begründet, wobei umfassendere volkswirtschaftliche Vorteile keine Rolle spielen. Dem liegt ein Rechenmodell zugrunde, das beispielsweise Radwege in der deutschen Verkehrsplanung auf allen Ebenen als zusätzliche Kosten der Autogesellschaft verbucht und nicht als kostenfreundlicher Umbau mit entsprechenden Einsparungen (Beispiel Parkraum). Auch hier geht es weniger um tatsächliche Kosten, als um gängige Kostenkalkulationen sowie die Kommunikation und Struktur öffentlicher Haushalte.
Im Gebäudebereich zeigt sich, dass die Gesellschaft seit 20 Jahren weniger Probleme mit technischen Fragen hat (sogar große Erfolge in Richtung Null- bzw. Plus-Energiehaus), auch lassen sich viele Sanierungsmaßnahmen finanziell darstellen und die staatlichen Anreizsysteme sind bekannt. Eher sind Investitionsprioritäten politisch in den Parlamenten noch nicht mehrheitsfähig, beispielsweise eine grundsätzliche Aufstockung der öffentlichen Förderung der energetischen Sanierung und der jährlichen Modernisierungsraten. Gesellschaftlich und politisch kaum diskutiert ist auch, ob angesichts der ungeheuren Bedeutung des Gebäudebereichs das Ordnungsrecht (wie im Fall des Brand- und Denkmalschutzes) viel stärker in die Investitionsfreiheit von Hausbesitzern eingreifen müsste. Ebenso fehlen gesellschaftspolitische Impulse, um Investitionskosten zwischen Mietern und Vermietern effektiver und gerechter zu verteilen und endlich innovative Modelle und Anreize in der Fläche einzuführen, die das Mieter/Vermieter-Dilemma auflösen können.

8. Heutige Konsumstandards und Konsumanreize sind noch wesentliche Blockaden der Energiewende, jedoch nicht durch Appelle an den Einzelnen zu ändern

Wie die gesellschaftliche Diskussion von Kosten, steht auch die Diskussion von Konsumstandards und Konsumanreizen für die Energiewende und deren Ursachen noch am Anfang. Die Konsumentscheidungen im Bereich von PKWs, Häusern, Haushaltsgeräten, Wärmeerzeugern, Reisen und der allgemeine Umgang mit Energie beeinflussen in großen Maße Energieverbrauch und die Marktchancen innovativer Technologien. Beim Sprit, Öl/Gas und Stromverbrauch sind bisher noch keine großen Sprünge in Richtung spektakulärer Energieeinsparungen zu erkennen. Eine echte Energiesparkultur ist noch nicht in Sicht.
Der persönliche Konsum ist nur am Rande abhängig von individuellen Vorlieben. Hier spielen wie oben ausgeführt kulturelle Prozesse, wirtschaftspolitische Entscheidungen, öffentliche Infrastruktur, Technologieentwicklung und entsprechende Ordnungspolitik eine wesentliche Rolle. Die deutsche PKW-Flotte ist eben nicht Ausdruck individueller Vorlieben deutscher Autofahrer. Deshalb können Konsumvorlieben auch nur bedingt durch den Appell an den individuellen Konsumenten verändert werden, sondern durch konzertierte Maßnahmen in den oben genannten Bereichen. Eine systematische Überforderung durch Konsum- und Lebensstilappelle an der falschen Stelle führen hier eher zu Frustrationen in der Gesellschaft. Die Konsumentscheidung zwischen günstiger, gesellschaftlich etablierter Flugreise in den Süden und der verhältnismäßig teuren aber umweltfreundlicheren Bahnfahrt in die Region ist ein grundsätzliches Konsumentendilemma, das nicht durch die Entscheidung Einzelner aufgelöst werden kann. Ebenso unzureichend ist der Appell zum Fahrradfahren in der auf den Autoverkehr ausgerichteten Stadt. Wesentliche Voraussetzungen für eine echte Wende sind auch hier die Diskussion und Veränderung öffentlicher Investitionen und finanzieller Rahmenbedingungen, die energiewendefreundlichen Konsum- und Lebensstil behindern.

9. Die Energiewende braucht gesellschaftliche Konsumvorbilder und eine Energiewendekultur

Trotz des oben beschriebenen breiteren Rahmens spielen kulturelle Prozesse für Konsum und Lebensstil durchaus eine wichtige Rolle. Neben der Überforderung gibt es in dieser Hinsicht auch eine Unterforderung und tatsächliche gesellschaftliche Blockaden, insbesondere bei gesellschaftlichen Gruppen mit souveräner Handlungsfreiheit. Die Autoflotte des Bundestages beispielsweise und Dienstlimousinen von Bundes- und Landespolitikern haben durchaus wichtige Symbolkraft als Konsum- und Lebensstilstandard. Gleiches gilt für Eliten in Wirtschaft und Showbizz und deren Konsumvorbild. Beim Festhalten dieser Eliten an alten überkommenen Konsumstandards handelt es sich um wesentliche emotionale und kulturelle Blockaden der Energiewende. Die Energiewende hat in diesem Sinne auch ein Elitenproblem. Gegenwärtige deutsche Eliten taugen noch nicht als gesellschaftliche Leitbilder einer neuen Konsumkultur der Energiewende oder des Klimaschutzes (z.B. Mobilität, Wohnen, Reisen). Eliten und Vorbilder werden allerdings dringend gebraucht, um eine neue Konsum- und Lebensstilkultur der Energiewende attraktiv zu machen.

10. Energiewendefreundliches individuelles Verhalten muss finanziell belohnt werden (und ist abhängig von weiteren Bedingungen)

Quer durch die Gesellschaft gib es Menschen, die sich intensiver mit nachhaltigem Konsum und Lebensstil beschäftigen und diesen leben, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Es gibt durchaus definierbare Bedingungen, die gesellschaftliches Engagement erleichtern und die in einer neuen gesellschaftlichen Strategie der Energiewende zentral diskutiert werden müssen:

  • Ein energiewendefreundliches Verhalten (Investitionen, Konsum) muss finanziell belohnt und durch öffentliche Infrastruktur begünstigt werden (und nicht bestraft oder behindert),
  • es muss auf bisherige Konsummuster und Lebensstile aufbauen können und positiv auf den gesellschaftlichen Status wirken,
  • es muss zum gesellschaftlichen Standard (Normalität statt Exklusivität) werden können oder bereits sein und von überzeugenden Protagonisten im Umfeld vorgelebt werden.

Wiederum zeigt der Bereich der Stromproduktion, mit über einer Million privat finanzierter Solaranlagen und privater Investitionen in Windparks, dass es politischer Instrumente bedarf, um Potentiale gesellschaftlichen Engagements und Veränderungen im Konsum auch wirklich anzustoßen. Die Verknüpfung positiver Bedingungen konnte im Fall der Photovoltaik zu einer Massenbewegung führen, zu einem sozialen Standard, der eine ungekannte Dynamik auslösen konnte. Handlungsfreiheit (Hausbesitz/verfügbare finanzielle Spielräume) ist ein wesentlicher Schlüssel zu umweltfreundlichen Investitionen und die Anknüpfung an bisherige Konsummuster (Eigenheimbau). Dass heute in der öffentlichen Debatte gerade den privaten Solaranlagenbetreibern und Investoren in Windparks die Gewinnabsicht vorgeworfen wird und sie sogar zu rückwirkenden Solidaritätszahlung angehalten werden (Bundesumweltminister) stellt eine Grundvoraussetzung der erfolgreichen Energiewende in Frage: finanzielle Anreize und Sicherheit für jene, die die Wende tragen, sind Grundvoraussetzung für ihre Beschleunigung. Dafür muss allerdings die Energiewende auch als Wende des privaten Konsums und als Wandel vom Konsumenten zum Produzenten/Investoren verstanden werden. Die Photovoltaik und die Windenergie zeigen, welche Beschleunigung und grundsätzliche Umwälzung das Engagement von privaten Haushalten auslösen kann. Im Bereich des Energiesparens und des nachhaltigen Verkehrs sind diese Potentiale noch nicht einmal angekratzt.

11. Verrechtlichung: Es braucht eine gesellschaftliche und politische Mehrheit für strikte Klimaschutzgesetze, weitergehendes Ordnungsrecht und Steuerrecht als wichtige Voraussetzungen der Energiewende

Mit Blick auf die Beschränkungen und negativen Folgen heutiger ökonomischer Instrumente (Beispiel Emissionshandel, Strommarktdesign, Umwelthaftung, Subventionen für fossil-atomare Energie) ist deutlich, dass es einer Verrechtlichung durch Energiewende/Klimaschutzgesetze und anspruchsvolleren ordnungsrechtlichen Maßnahmen bedarf. Die rechtliche Absicherung von Zielen des Klimaschutzes und der Energiewende sind heute immer noch schwach, insbesondere im Vergleich zum Bergbaurecht, Baurecht, Denkmalschutz, Planungsrecht, Wettbewerbsrecht, Naturschutzrecht oder Atomgesetzgebung (Euratom-Vertrag). Wenn sich der Bau von Kohlekraftwerken wegen gesunkener Weltmarktpreise und niedriger Zertifikatpreise kurzfristig betriebswirtschaftlich wieder lohnt, heißt das nicht, dass dies langfristig volkswirtschaftlich und im Rahmen der Klimaziele sinnvoll ist. Erst wenn hier die nötige Verrechtlichung durch Klimaschutzgesetze geschaffen ist, werden Instrumente wie ein Neubauverbot für neue Kohlekraftwerke unmittelbar auf der Tagesordnung stehen und können politische Entscheidungen, die den Zielen der Energiewende entgegenstehen, auch rechtlich angegriffen werden. Die Energiewende braucht in allen Bereichen stärkere rechtliche Grundlagen und neues Ordnungsrecht. Die politische und gesellschaftliche Herausforderung wird sein, für weitergehende staatliche Ge-und Verbote die nötige Akzeptanz zu schaffen. Die Energiewende und der Klimaschutz können in diesem Sinne sehr gut mit dem Brandschutz verglichen werden. Die Vorsorge wird hier nicht dem individuellen Bauherren (und seiner Moral) überlassen oder dem Markt, sondern der Staat bestimmt die Bedingungen der Vorsorge des einzelnen Bauherrn, die sich am Ende kollektiv und individuell auszahlt.
Das Glühlampenverbot hat gezeigt, dass selbst verhältnismäßig kleine Verbote zu gesellschaftlichen Erregungen führen können. Es zeigt aber auch, wie wirksam Verbote beschleunigte Produktinnovation auslösen können. Deshalb ist eine offene Debatte über die Notwendigkeit von Ordnungsrecht eine Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Energiewende. Dabei geht es beispielsweise um das Verbot von Kohlekraftwerken, strengeren Standards im Gebäudebereich, neue Vorschriften im Verkehr (Tempolimits, Umweltzonen, Stadtplanung) strengeren Produktstandards (CO2-Standards, etc.) und Innovationen in der Raumplanung.
Neben dem Ordnungsrecht braucht es zusätzliche neue gesellschaftliche und politische Initiativen zum Abbau schädlicher Steuererleichterungen und zur Weiterführung einer ökologischen Steuerreform. Die politisch verlässliche Steuerung von Energiepreisen ist eine Voraussetzung der Energiewende. Allerdings fehlt sowohl für den Einsatz von Ge-und Verboten und als auch für eine aktivere Energiesteuerpolitik im Moment die breite gesellschaftliche Unterstützung. Hier gesellschaftliche Mehrheiten zu gewinnen, ist eine wichtige Voraussetzung zur Beschleunigung der Energiewende.

12. Bürgerbeteiligung, Regionalisierung von Wirtschaftsunternehmen, sozialer Ausgleich: die Energiewende braucht ein Gesamtkonzept der „sozialen Energiewirtschaft“

Der Starnberger Zahnarzt ist in aller Munde, dessen Solaranlage vom Gelsenkirchener Hartz IV Empfänger bezahlt wird. Noch herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung der Eindruck, die bisherige von den Milliardengewinnen großer Aktiengesellschaften geprägte alte Energiewirtschaft wäre sozial gerechter gewesen als die bisher von der Förderung Erneuerbarer geprägte Energiewende mit vielen Einzelinvestoren. Noch wird die Energiewende vor allem in den Medien als Kostenfrage porträtiert, die angeblich bereits zu großen sozialen Verwerfungen geführt habe. Auch hier ist der Strombereich nur der Vorgeschmack auf die sozialen Debatten der Zukunft (insbesondere bei Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft). Noch wird kaum diskutiert und ist kaum bekannt, welche sozialen und demokratischen Vorteile in einer dezentraleren/regionalen Energiewirtschaft mit Millionen Produzenten und Anteilseignern stecken. Deshalb wird es Zeit, ein Leitbild der erneuerbaren „sozialen Energiewirtschaft“ zu entwickeln. Die Befürworter von Bürgerbeteiligung, Rekommunalisierung, Regionalisierung und Privatisierung von Stromproduktion müssen hier offensiv ein attraktives Gesamtkonzept erarbeiten und dieses gesellschaftlich bewerben. Regionale Strukturen mit entsprechender regionaler Wertschöpfung (individuell, genossenschaftlich oder kommunal) können dazu beitragen, herkömmliche holzschnittartige Kosten-Nutzen Betrachtungen zu verändern.
Insbesondere braucht es deutliche Positionen zum sozialen Ausgleich und der wichtigen flankierenden Rolle von Sozialpolitik bei steigenden Energiepreisen, die durchaus politisch gewollt sein können.

MARTIN UNFRIED | martin.unfried@oekosex.eu

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