vonLalon Sander 11.05.2014

Aus dem Onlinebunker

Die tägliche Arbeit im taz.de-Ressort spült Bemerkenswertes, Skurriles und Anregendes in die Inboxen. Das meiste davon geht verloren – einiges wird hier gesammelt.

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Besoffen von ihrer eigenen Toleranz liegen sie sich in Armen, feiern einen Sieg für die Homobewegung, bejubeln ein Symbol dafür, wie weit Europa schon gekommen sei in seiner Akzeptanz sexueller Minderheiten. Bravo.

Dabei sind wir grad genau so weit, wie es unsere Ururgroßeltern auch schon waren. Ist doch die „bearded lady“, die bärtige Frau, schon immer fester Bestandteil der übers Land tingelnden Freakshows gewesen. „Missgebildete“ Menschen wurden dort wie Zirkustiere zur Unterhaltung der Bevölkerung präsentiert.

Der Zweck der Freakshow war dabei keineswegs die Steigerung der Akzeptanz oder Toleranz gegenüber dem Anderem, dem „Unnormalen“, sondern ganz im Gegenteil, die Einhegung der Störung und ihre Ausstellung in einem Ambiente kanalisierter Abscheu – zur Selbstvergewisserung des „Normalen“. Das muss sogar einmal ein Fortschritt gewesen sein, immerhin wurden die Ausstellungsstücke nicht mehr gleich als Teufelswerk totgeschlagen. Zivilisation geht bisweilen grausame Umwege.

Im Jahre 2014 nun wird die Freakshow per Satellit in alle Winkel Europas übertragen, und ganz am Ende darf das Publikum einen Gewinner wählen. Herzlichen Glückwunsch, ihr seid normal, das Andere bleibt weiterhin dort, wo es hingehört: auf die Bühne, bloß nicht in unsere Mitte. Sind die Drag Queens, die Transen, die Tunten doch selbst in der Schwulenszene Außenseiter(innen). Auch dort ist der Freak unter Freaks zwar eingeladen, mit fröhlichen Bühnenpräsentationen zu unterhalten, ist aber sonst nicht selten mit Ausschluss und Verachtung gestraft.

Selbst das russische Staatsfernsehen, sendend immerhin im Geltungsbereich eines Gesetzes gegen die Propagierung der Homosexualität, hat kein Problem damit den ESC auszustrahlen. Auch in Moskau weiß man, dass die bearded lady eben nichts anderes propagiert als die Normalität – denn wenn die Normalität eines braucht, ist es die Devianz als Referenzrahmen; ein Anderssein, das eben nicht „die Jugend verdirbt“ und zum Nachmachen einlädt, sondern statt dessen die Gemeinschaft des heterosexuellen Durchschnitts bestätigt. „Wir erlauben dir, uns zu unterhalten.“ – Wenn sie jetzt noch aufhören würden, im Alltag die Abweichenden (tot)zuschlagen, hätte die Zivilisation wieder einen großen Schritt vorwärts gemacht. Man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben.

Im Bild: Die wahren Freaks – Nationalfahnen schwenkendes Publikum in Kopenhagen (dpa)

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