vonChristian Ihle 22.02.2010

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Ya (I Am)

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=1Qm5iqUQLWk[/youtube]
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1. Der Film in einem Satz:

Ein russischer Bilderrausch aus Wahnsinn, Drogen, White Trash, Flamboyanz, Tod, Punk, Kreuzigung und „Maria Magdalena“.

2. Darum geht‘s:

Die einzige Möglichkeit, der Einberufung zur Armee zu entgehen, ist es, sich im Irrenhaus Schizophrenie attestieren zu lassen. Da es für Jungs nichts schlimmeres als die Zucht und Ordnung – Ideale des russischen Heeres gibt, ist die Selbsteinweisung in das Irrenhaus definitiv die zu bevorzugende Option.
Die semiautobiographische Geschichte Igor Voloshins, die er mit „Ya“ verfilmt, klingt dünn – und das ist vollkommen egal, denn wie schon in seinem letzten Film „Nirvana“ ist Voloshin kein Erzähler, sondern ein Meister der Bilder. So richtig weiß man nie, ob man gerade erlebte Realität, Drogenwahn oder Traumgebilde sieht. Die Ebenen verschwimmen, werden undeutlich, sind aber durchweg mit beeindruckender Wucht inszeniert. Die mysteriöse Figur des „Rome“, eine Art Vorbild und zum Mythos stilisierter Misfit, der von den Jungs vergöttert wird, ist dabei eine der beeindruckendsten Rollen, die man seit langem im Kino gesehen hat. Wenn er – Jesus nicht unähnlich – mit einer Armada leichter Mädchen im Arm die dunklen Straßen entlang schreitet, während der Soundtrack Sandras „Maria Magdalena“ spielt, Rome Pillen und Pulver in die Luft wirft und alle gemeinsam die Nacht zum Tag machen, gelingt es Voloshin die Wildheit der Jugend in mitreißenden Bildern einzufangen. In der letzten Szene des Films zieht ein Hund elend langsam einen ans Kreuz geschlagenen jungen Mann über den Asphalt, auf der Tonspur hören wir – auch in der russischen Originalversion! – auf Deutsch eine Stimme „was soll das?“ flüstern; Wir wissen es nicht, wir haben keine Ahnung, was eigentlich in diesem Film passiert ist und sind doch bewegt, erschüttert, mitgerissen von diesem Bild einer Jugend am Abgrund.

Neben einer merkwürdigen Schönheit im Schmutz ist immer Gevatter Tod ein stiller Begleiter, was in einem wunderbar gefilmten Epilog auf herzzerreißende Art deutlich wird: auf einer Insel sitzen zwischen verfallenen griechischen Säulen die Weggefährten des jungen Voloshins und in einer stummen Szene blendet Voloshin die Daten ihres Dahinscheidens ein. Soviel verschwendetes Leben, so viel junger Tod! Die Figuren erstarren zu Stein und zerbröseln zu Staub, aus.

Der erst 35-jährige Igor Voloshin zeigt mit seinen ersten beiden Filmen „Nirvana“ und „Ya“, dass er der beeindruckendste Bilderstürmer unter den jungen europäischen Regisseuren ist. Seine Bildsprache ist nicht weniger originell als die eines Alejandro Jodorowsky und wie beim alten Chilenen liegt die Geschichte in den Bildern.

3. Der beste Moment:

Jene bereits angesprochene “Maria Magdalena” – Szene, nach der man sofort aus dem Kino rennen will, um sich den backcatalog von Sandra zu besorgen!

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=3DBIV3S-Do0[/youtube]
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4. Diese Menschen mögen diesen Film:

Wer gerne einmal hören würde, wie eine punkisierte Bastardpopversion von Trainspotting meets Die Bibel klingen würde.

* Regie: Igor Voloshin
* imdb

Au Revoir Taipei

taipei

1. Der Film in einem Satz:

Wong Kar Wais “Chungking Express” im taiwanesischen Teenager-Slapstick-Modus.

2. Darum geht‘s:

Die Freundin des jungen Kai ist von Taipei nach Paris gezogen. Jeden Tag geht Kai nun in eine Buchhandlung um dort auf dem Boden sitzend Französischlehrbücher zu studieren. Die hübsche Hilfskraft hat ein Auge auf ihren seltsamsten Kunden geworfen, aber der liebesblinde Kai nimmt sie natürlich nicht wahr.
Per Telefon trennt sich Kais Freundin von ihm und verzweifelt bietet Kai einem Onkel seine Botendienste an, um sich seinen Paris-Flug zu finanzieren. Viele Verwicklungen später, die liebesmüde Polizisten, Junggangster in schrillorangenen Anzügen und die netteste Entführung der Filmgeschichte beinhalten, sieht Kai dann doch, dass sein Traum bereits vor ihm steht.

Arvin Chen gelingt in seinem Debütfilm etwas Außergewöhnliches: die Heirat von Albernheiten mit aufrichtigen Gefühlen. Obwohl Au Revoir Taipei skurril und lustig ist, werden die Figuren nie der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern mit einer Liebe gezeichnet, die auch die absurdeste Plot-Wendung nicht mindern kann.

Chen erweist sich dabei als aufmerksamer Student der Filmgeschichte. Insbesondere die Nouvelle Vague, Godards “Bande à part”, wird mehrfach zitiert und – dementsprechend fast zwangsläufig – auch Wong Kar-Wais Geniestreich “Chungking Express” sowie Woody Allens “Manhattan” und die Screwballkomödien des alten Hollywood.

Vielleicht nicht ganz der beste, aber mit Sicherheit der schönste Film der Berlinale. Produziert wurde Arvin Chens Debütfilm übrigens von Wim Wenders.

3. Der beste Moment:

Die beiden Nochnichtverliebten fliehen vor einem Polizisten und müssen sich zur Deckung in eine Gruppe alter Menschen einreihen, die auf einem Platz in Taipei ihre nächtlichen Gruppentanzroutinen vollziehen. Wenn’s da nicht funkt, funkt’s nimmermehr.

4. Diese Menschen mögen diesen Film:

Wer Woody Allens “Manhattan” gerne einmal als Liebeserklärung an Taipei sehen möchte.

* Regie: Arvin Chen
* imdb

The Kids Are All Right

kids

1. Der Film in einem Satz:

„Sideways“ ohne langweilige alte Männer, dafür mit Julianne Moore und Annette Bening als lesbisches Paar.

2. Darum geht’s:

Zwei Mütter, zwei Kinder – Familienleben mal anders. Bevor seine große Schwester Joni aufs College geht, bringt der 15-jährige Laser sie dazu, Kontakt zu ihrem biologischen Vater aufzunehmen. Der Mann wird ausfindig gemacht und für gut befunden. Als es zum ersten Treffen mit den Müttern, der kontrollsüchtigen Ärztin Nic (Annette Bening) und der arbeitslosen Architektin Jules (Julianne Moore), kommt, klären sich schnell die Sympathie-Fronten. Während Nic den Erzeuger am liebsten ungespitzt in den Boden rammen und ihm dabei emanzipatorische Hasstiraden in die Ohren brüllen würde, nimmt Jules von ihm lächelnd den Auftrag an, seinen Garten zu verschönern. Pauls (Mark Ruffalo) Eindringen in die Familie sorgt für Spannungen zwischen den seit 20 Jahren verheirateten Frauen. Und dann macht Jules einen ziemlich heterosexuellen Fehler.

Zweifellos überwiegt in Lisa Cholodenkos Tragikomödie das Komische, wenn dies auch meistens nur auf Klischees basiert. Amüsanten Klischees, die immer kurz vor der Gürtellinie aufhören, um niemanden zu verärgern und so aus der Geschichte einen massentauglichen Unterhaltungsfilm machen. Zum Beispiel Nic und Jules, grandios gespielt von Annette Bening und Julianne Moore. Nic, pragmatische Ärztin und Familienernährerin, die etwas zu gerne Wein trinkt und die Männer-Hasserin gibt. Jules die Pseudo-Alternative, die glaubt, mittels Kompostierung die Welt retten zu können und zur antiautoritären Erziehung tendiert. Oder Paul, der Samenspender mit Holzfällerhemd und Lederhalsband, derart überzeichnet, dass der Film in seiner Anwesenheit beinahe zum Aftershave-Werbespot wird. Er ist Biobauer, Motorradfahrer, lässiger Naturbursche und eine wahre Testosteronschleuder – immerhin reichte sein Samen für zwei Kinder, wie er überrascht erfährt.

Lesbische Eltern machen dieselben Fehler wie heterosexuelle. Und eine Ehe unter Frauen steht an Krisenherden der Mann-Frau-Variante in nichts nach. Diese Botschaft scheint Lisa Cholodenko sehr wichtig zu sein, denn sie erzählt ihren Film so selbstverständlich, dass in den meisten Augenblicken völlig egal ist, welche Geschlechter hier versuchen, ihre Liebe zu retten und nebenbei die Kinder zu erziehen. „The Kids Are All Right“ ist ein harmloser, politisch korrekter und schön anzusehender Sommerfilm, der zu Recht außer Konkurrenz gezeigt wird. Für einen Wettbewerbsfilm fehlt im der Biss.

3. Der beste Moment:

Dinner bei Paul, und Nic versucht, ihn auch endlich zu mögen. Sie entdeckt eine Joni-Mitchell-Platte und singt mit geschlossenen Augen und leicht hysterischer Stimme diverse Songs daraus vor. Die anderen am Tisch stochern betreten in ihren Tellern herum.

4. Diese Menschen mögen diesen Film:

Fans von Ulrike Folkerts, Sommer, „Made In America“ mit Whoopie Goldberg und Wein. Letzteren möchte man übrigens nach der Vorstellung gerne literweise in sich hineinschütten.

* Regisseurin: Lisa Cholodenko
* USA
* imdb

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