vonChristian Ihle 22.06.2010

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Soundcloud-Link: Jetzt! – “Kommst Du Mit In Den Alltag”


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Es war eine Sensation als vor etlichen Monaten unter den Fanatikern der vergessenen Band Jetzt! ein Link die Runde machte, der das für alle Zeiten verschollen geglaubte Tape „Liebe in GROSSEN Städten“ zugänglich machte.





Die deutsche Musik ist tot


Warum Freudenschreie durch die entlegenen Winkel des Netzes hallten, wird vielleicht klar, wenn wir einen kleinen Blick zurück auf die Band und ihr Umfeld werfen. Es ist Mitte der 80er Jahre und nachdem die deutsche Popmusik Ende der 70er, Anfang der 80er in Düsseldorf, Berlin und Hannover eine eigene Sprache und die wilde Lust am Experiment gefunden hatte, wartet man vergeblich auf Nachfahren der Fehlfarben und anderer großer Bands.


Das Dorf am Ende der Welt


Die nächste Generation findet sich ausgerechnet in dem kleinen Örtchen Bad Salzuflen unter dem Dach des Fast Weltweit Labels zusammen. Fast Weltweit veröffentlichte Kassettensampler und Bandtapes von Künstlern, die das folgende Jahrzehnt beeinflussen sollten wie niemand sonst: eine frühe Inkarnation der Sterne um Frank Spilker, Bernadette La Hengst, Bernd Begemann und Jochen Distelmeyers Blumfeld-Vorgänger-Band Die Bienenjäger haben alle bei Fast Weltweit eine Heimat gefunden. Später stehen sie exemplarisch für die Hamburger Schule, die zum ersten Mal seit der Düsseldorfer Ratinger Hof Szene wieder in deutscher Sprache Politik und Liebe besingen wird.


[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=eP8DzwRA_s4&feature=player_embedded[/youtube]


Liebe in kleinen Städten


Doch trotz eines Spilker, Begemann oder Distelmeyer ist es die Stimme von Michael Girke, die am verheißungsvollsten klingt. Seine Band heißt „Jetzt!“ und ist – im Rückblick betrachtet – die Brücke zwischen den beiden lebendigsten Szenen, die die heimische Poplandschaft je zu bieten hatte.


[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=38P1_BDJ35c[/youtube]


Zwischendurch spielt auch Thomas Schwebel bei Jetzt!, ein Gründungsmitglied von Mittagspause, Fehlfarben, SYPH, jemand, der wie kaum ein zweiter für all das steht, was Alfred Hilsberg einst so unvergleichlich Musik „aus grauer Städte Mauern“ nannte. Doch bereits auf dem nun wieder entdeckten Tape sind Jochen Distelmeyer (Blasinstrumente, backing vocals) und Bernadette La Hengst beteiligt.

Allein die historische Bedeutsamkeit des Brückenschlags wäre allerdings noch nicht der Rede wert, wenn Girke mit Jetzt! nicht auch die größten Songs der Fast Weltweit Zeit geschrieben und – wie man nicht überhören kann – einen sehr starken Einfluss auf (den ganz frühen sowie späten) Distelmeyer und Begemann ausübte hätte. Zudem ist Jetzt! die wohl einzige deutsche Band, die den in Großbritannien im Untergrund damals vorherrschenden C86-Sound der Wedding Present ebenso brillant wie Paul Wellers Agitprop-Pop und –Soul der Style Council spielten.

Textlich arbeitet sich Girke an den ewigen Themen Deutschland und Liebe ab und zeigt natürlich auch hier wieder auf, wohin sich Blumfeld spätestens mit „Old Nobody“ bewegen würden. Kein Zufall ist es demnach auch, dass Blumfeld auf eben jenem Album das Jetzt!-Stück „Kommst Du mit in den Alltag“ coverten, das als ein Höhepunkt im Blumfeldwerk gelten darf.




Du bist nicht allein


Dank der Tape-Entdeckung ist nun endlich der Vergleich zwischen Original und Cover möglich. Musikalisch ist die Jetzt!-Version stärker an den Indiepop der Mitt-/End-80er angelehnt und lässt gleichermaßen an den Jingle-Jangle-Sound der Smiths und Orange Juice, den Schrammelgitarrenpop der Wedding Present zu „George Best“-Zeiten wie eben auch den weißen Soul der Style Council denken, während Blumfelds Version sich in die „Old Nobody“-Atmosphäre einfügt und deutlich langsamer, vielleicht auch resignativer, gespielt wurde.
Auch textlich hat Distelmeyer einige Veränderungen vorgenommen – manche kosmetischer Natur (Distelmeyer singt von „Leuten“, Girke von „Menschen“) doch zwei Stellen erstaunen.
Im versöhnlichen Schluss-Textteil ändert Distelmeyer zwei entscheidende Sätze.

Manchmal wenn ich meinen Kopf
ganz zärtlich neben Deinen lege
und wir uns ganz tief, ganz tief
in die Augen sehen
dann weiß ich, worum es hier geht
und dann weiß ich
wo ich hingehöre
und ich denke:
Nieder mit den Umständen!



…heißt es in der Blumfeld-Version, wodurch Distelmeyer die Perspektive ändert: „Manchmal wenn ich meinen Kopf / ganz zärtlich neben Deinen lege“, wohingegen Girke in der Jetzt!-Version noch „Manchmal wenn du deinen Kopf / ganz zärtlich neben meinen legst“ textete. Bei Blumfeld sucht also der Protagonist die Nähe, während bei Girke noch der Partner sich an ihn schmiegt. Eine größere Verletzlichkeit, Verlorenheit signalisiert die Blumfeldversion, die durchaus auch mit der getrageneren Instrumentierung korrespondiert. Während Blumfeld mit dem wunderbaren Girke-Satz „Nieder mit den Umständen!“ schließen, singt sich Girke die Seele aus dem Leib: „Es lebe die Zärtlichkeit!“ heißt sein Mantra, das die letzten eineinhalb Minuten der Jetzt!-Version einnimmt und uns mit einem beinahe revolutionären Gestus entgegengeschrieen wird. Nieder mit den Umständen! Es lebe die Zärtlichkeit!


Alle Textunterschiede:


Jetzt!: “du weißt zwar nicht wo das ist”
Blumfeld: “und Du weißt auch gar nicht wo das ist”

Jetzt!: “wir hatten uns so fest geschwor’n
anders zu sein / als die Menschen in ihren Büros und anders als die Menschen, die jeden Morgen um 6 Uhr mit den Bussen zu der Arbeit gekarrt werden.”
Blumfeld: “wir hatten uns so fest geschwor’n
anders zu sein / als die Leute in ihren Büros”

(im Rahmen der Blumfeld-Anthologie „Ein Lied mehr“ wurde „Kommst Du mit in den Alltag“ von der letzten Blumfeld-Besetzung erneut eingespielt. Hier ändert Distelmeyer den Text in Richtung der Ursprungsversion und nimmt die fehlende Zeile mit leicht kosmetischen Veränderungen wieder auf: „als die Leute in ihren Büros und anders zu sein als die Leute, die jeden Morgen um 6 Uhr zur Arbeit fahren“)

Jetzt!: “doch wir haben gar nichts gewußt”
Blumfeld: “doch wir haben von all dem noch gar nichts gewußt”

Jetzt!: “Manchmal wenn Du Deinen Kopf / ganz zärtlich neben meinen legst”
Blumfeld: “Manchmal wenn ich meinen Kopf /ganz zärtlich neben Deinen lege”

Jetzt!: “Nieder mit den Umständen! Es lebe die Zärtlichkeit!”
Blumfeld: “Nieder mit den Umständen!”

Der Blumfeld Text in Gänze (Old Nobody Version):

Kommst du mit in den Alltag
Auf einmal hast Du gesagt
Du verläßt diese Stadt
das Leben hier
hat Dich nur noch müde gemacht
Du warst noch nie da
wo Deine Träume spielen
und Du weißt auch gar nicht
wo das ist
doch Du weißt:
hier ist es nicht

Ist das alles, was das Leben fragt ?
Ist das alles, was das Leben fragt:
Kommst Du mit in den Alltag ?

Weißt Du noch unter
der alten Brücke
wir hatten uns so fest geschwor’n
anders zu sein
als die Leute in ihren Büros
alles schien so einfach zu sein
doch wir haben von all dem
noch gar nichts gewußt

Ist das alles, was das Leben fragt?
Ist das alles, was das Leben fragt:
Kommst Du mit in den Alltag ?

Manchmal wenn ich meinen Kopf
ganz zärtlich neben Deinen lege
und wir uns ganz tief, ganz tief
in die Augen sehen
dann weiß ich, worum es hier geht
und dann weiß ich
wo ich hingehöre
und ich denke:
Nieder mit den Umständen!

Ist das alles, was das Leben fragt ?
Ist das alles, was das Leben fragt:
Kommst Du mit in den Alltag ?

(Text: Christian Ihle, ursprünglich einmal in einem anderen Blog veröffentlicht, aber dank der netten DIY-Tasche mit dem Jetzt!-Slogan, die mir Theresia Feldmann zugeschickt hatte, wieder ausgegraben
Tasche: Theresia Feldmann)

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