vonChristian Ihle 11.08.2014

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

Mehr über diesen Blog

Ein Selfie wird zum einzigen erinnerungswürdigen Moment der großen Oscar-Verleihung und bringt danach Twitter zum Erliegen. Wie konnte es so weit kommen? Eine kurze Kulturgeschichte der Ich-Ikonografie. Duckface inklusive.


Weit vor Ellen DeGeneres und Twitter-Retweets in Millionenhöhe gab es bereits Selfies. Schon unsere Eltern machten Selfies mit Pyramide. Vater und Mutter vor Sehenswürdigkeit, geknipst mit Selbstauslöser, waren zentrale Elemente jeder vermaledeiten Dia-Show über Familienurlaube, die die Älteren unter uns noch ertragen mussten.


Selfies sind die Sex Pistols der Fotografie


Das Bedürfnis, sich selbst zu sehen, ist tief in der Kultur verankert. Der Mythos des Narziss erzählt von einem schönen Jüngling, der an einer Wasserquelle sein Spiegelbild betrachtet und sich in sich selbst verliebt – was übrigens tragisch endet: Er will sich umarmen, stürzt ins Wasser und ertrinkt (Epic fail!). Auch durch die Kunstgeschichte ziehen sich Selbstporträts, die zwar noch nicht das Duckface für sich entdeckt haben, aber sozusagen Selfies mit Pinsel sind. Das bekannteste Selbstporträt ist sicher van Gogh mit frisch abgeschnittenem Ohr, doch den Grundstein für die Selfie-Mythologie hat Gustave Courbet, ein wilder Vertreter des Realismus, mit »Der Verzweifelte« gelegt: nah dran am echten Leben und doch eine einzige Pose.

Denn das ist das Wesen der Selfies: Einerseits verweigern sie sich bewusst dem aufwendigen Modell-Stehen für einen Fotografen, sind also »man selbst von einem selbst«; andererseits ist ein Selfie aber auch kein Schnappschuss, kein festgehaltener Moment. Er wurde mühsam aus vielen Aufnahmen und verschiedenen Posen herausgesucht und suggeriert die Echtheit nur. Selfies sind die Sex Pistols der Fotografie: die Gleichzeitigkeit von DIY-Attitude und Inszenierung.


Klug eingesetzte Selfies können subversiv wirken


Selbst Bravo und ihr Dr. Sommer griffen diese Idee auf, als Teenies jahrelang Nacktfotos mit deutlich sichtbarem Selbstauslöser-Trigger in der Hand machen konnten, was die Macht über das eigene Bild und damit die eigene Nacktheit symbolisierte. Auch in einem der berühmtesten Musik-Videoclips gibt es einen entscheidenden Selfie-Moment: In Prodigys umstrittenem Video zu »Smack My Bitch Up« (1997) sieht man aus der subjektiven Sicht einer Person eine Nacht der Ausschweifung. Drogen, Sex, Gewalt – you name it! Doch im letzten Bild des Videos schaut die Person in den Spiegel, und wir bemerken durch diesen Selfie-Moment, dass wir die ganze Zeit einer Frau und keinem Mann zugesehen haben. Der Beweis, dass klug eingesetzte Selfies sogar subversiv wirken können.


[vimeo]http://vimeo.com/43574586[/vimeo]


In jüngeren Jahren hat das Prinzip Selfie einige Entwicklungsschritte durchlaufen. Der Selfie-Durchbruch wird mit der Etablierung von MySpace als erstem großen Sozialen Netzwerk verzeichnet. Das berühmte MySpace-Gesicht, das Duckface, beherrschte die Profile: von schräg oben aufgenommen, mit etwas vorgeschobenen Lippen, die wohl Kussmöglichkeit verheißen sollten, leider aber oft eher trotzige »Ich will aber meine Suppe nicht«-Attitude versprühten. MySpace verschwand, doch die Selfies blieben.

Ungeschminkte Damen präsentierten zuletzt No-Make-up-Selfies, die damit wieder den Ur-Mythos, die angebliche Authentizität und Intimität, befeuerten. Ziel des No-Make-up-Selfies war ein Spendenaufruf für die Brustkrebsforschung. Da das Internet mit dem in ihm wohnenden Schwarm ein seltsamer Ort ist, den kein Mensch je verstehen wird, hat die Idee auch noch funktioniert und mehr als neun Millionen Euro eingesammelt. Dadurch verhallten auch alle Einwände, No-Make-up-Selfies wären latent frauenfeindlich, da sie suggerieren, es wäre eine besonders mutige Tat für eine Frau, sich ohne Schminke in der Öffentlichkeit zu zeigen.


Eine Antwort darauf war der Socks-On-Cocks-Selfie zugunsten der Hodenkrebsforschung. Die Wiederkehr des Selfie mit Pinsel sozusagen, aber anders als bei van Gogh und Courbet. Folge war eine Schwemme von Fotos, auf denen hübsch trainierte, nur mit einer Socke an entscheidender Stelle bekleidete junge Herren ihre Ganzkörper-Tattoos vorzeigten. Ein überraschendes Revival für das alte Bühnenoutfit der Red Hot Chili Peppers – die haben also auch nicht nur Schlechtes gemacht.


Shelfie statt Selfie


Von Socks-On-Cocks ist es dann auch nicht mehr weit zum jüngsten Instagram-Trend, dem After-Sex-Selfie, der selbst aufgenommene Fotos von Paaren direkt nach dem Akt zeigt. Als Alternative für alle scheueren Pferde im Schwarm bietet sich aber die Initiative der britischen Zeitung Guardian an, die »Shelfie statt Selfie« propagierte und die Leser dazu aufforderte, doch Fotos von ihrem Bücherregal, dem bookshelf, einzusenden. Das wiederum kann natürlich auch als Weg zum After-Sex-Selfie gesehen werden, denn wie wir alle nur zu gut wissen: Das Bücher- und Plattenregal ist das zentrale Kriterium, um sich seine Geschlechtspartner auszusuchen.

Der Selfie ist so zum visuellen Leitelement des sozialen Internets geworden – bei Promis wie Nutzern. Von der Oscar-Verleihung bis zu Obama werden Selfies getwittert, wie auch jeder einzelne Nutzer auf der Suche nach dem nächsten Like Bilder von sich selbst schießt. Ob mit Duckface oder ohne Make-up, mit Buchregal oder Schwanzsocke.


(Text: Christian Ihle. ursprünglich als Titelgeschichte des Intromagazins mit Leitthema Selfies erschienen)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/popblog/2014/08/11/die-kulturgeschichte-der-selfies-my-my-selfie-i/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert