vonChristian Ihle 20.11.2017

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Über kaum etwas konnte sich die Kunstszene so aufregen als über die neue Besetzung der Volksbühne mit dem theaterfremden Chris Dercon. Mit Spannung wurde nun seine Premiere erwartet und die Presseresonanz ist recht vernichtend – interessanterweise sogar von Autoren, die nicht unbedingt per se im Anti-Dercon-Lager zu verorten wären:

“Eine Beleidigung der Zuschauer und Darsteller: Die Neue Volksbühne eröffnet das alte Haupthaus mit „Live-Situationen“ von Tino Sehgal und drei Beckett-Einaktern. Wären die sogenannten „Volksbühnen“-Besetzer nicht so programmlos und einfältig gewesen, hätten sie sich an der ästhetischen Sache und nicht nur am tagespolitischen Zeichen interessiert gezeigt, dann wäre jetzt der richtige Moment gekommen, um auf ihre Seite zu wechseln. Jetzt, nach der sogenannten Eröffnung der neuen Volksbühne, dem ersten Premierenabend im alten Haupthaus am Rosa-Luxemburg-Platz unter der Leitung von Chris Dercon. Was hier passierte, war nichts anderes als eine Veralberung des Publikums. Als wolle der Intendant seine Kritiker vorführen, indem er es geradewegs darauf anlegt, jedes ihrer Vorurteile zu bestätigen. (…) Das ist Dercons Ernst? Dass er das Theater wirklich wie ein Museum nutzen will, in dem man von Raum zu Raum wandelt, frei flottierend, ohne Konzentration, beiläufig vorbei an einem Nullprogramm ohne Anfang und Ende. Genau darum scheint es dem neuen Intendanten zu gehen, den Berlinern mit größtmöglicher Arroganz deutlich zu machen: jetzt erst recht. Wenn ihr mich für mein avantgardistisches Kunstverständnis kritisiert, mir eure hergebrachten Erwartungen an ein Theater zumutet, dann lasse ich euch zur Strafe umso länger in der Performancehölle braten. Nur, dass es gar keine Hölle, nicht mal ein Fegefeuerchen ist, in dem man hier herumsteht. Sondern nur ein sterbenslangweiliger Limbo. (…) Nichts auch nur annähernd Interessantes ist sonst zu sehen, und so steht man mehr als eine weitere Stunde im Foyer herum und verliert dabei endgültig den letzten Rest Vorschusssympathie. Dercon steht derweil mit dem iPhone am Ohr an der Garderobe und sieht so aus, als hätte er mit alldem gar nichts zu tun. (…) Nichts als klischeehaftes Kuratorendenken steckt hinter dem Ganzen. Das verdirbt einem alles, auch den dritten Beckett, „He, Joe“. (…) Keiner weiß, wozu das gut sein soll, gelangweilt stehen die Besucher erst in Grüppchen herum, verlassen dann entnervt den Saal. Jedes Berührtsein durch Becketts Stücke ist da schon längst wieder verschwunden. (…) Dieser Eröffnungsabend ist eine Beleidigung, den Zuschauern, aber auch den Darstellern gegenüber, die hier völlig acht- und schutzlos eingesetzt werden. Sie machen sich zum Dummen, nur damit eine Leitung behaupten kann, etwas „ganz anderes“ auf dem Spielplan zu haben als ihre Vorgänger. Unabhängig von allem anderen – dass es beispielsweise kläglich ist, ein neues Haus mit so vielen Übernahmen zu eröffnen (auch Grunwalds „He, Joe“ lief im Juni schon in Kopenhagen), dass Beckett weder eine Musealisierung braucht noch Sehgals Banalitäten den Vergleich damit aushalten und dass der Versuch ein ganzes Haus zu bespielen sich peinlich in der Besichtigung der Immobilie erschöpft –, unabhängig davon beweist es einfach höhnischen Hochmut, zu einer bis ins Organisatorische hinein derart schlecht vorbereiteten Eröffnung einzuladen. Einfallslosigkeit als Geste des Trotzes? Theaterverweigerung als anderer Name für Einfallslosigkeit? Das darf nicht sein. Wenn es so wäre, müsste man das Haus wirklich besetzen. Nicht für den billigen Wohnraum, sondern für die teure Kunst.”

(Simon Strauss in der FAZ)

“Kunst ist auch eine Frage des Kontextes, an diesem Abend wirken die Performances entsprechend wie in den falschen Rahmen kopiert, in die Hände einer wahlweise überforderten oder dilettantischen Dramaturgie geraten. Der laute Anfang, die leisen Bild-Monologe danach: Das verträgt sich schlicht nicht. Eine Kunstkommunikationskatastrophe: Ratlosigkeit macht sich unter den Besuchern breit, teils achselzuckendes Desinteresse, teils höhnisches Gelächter. Warum nur hat Sehgal sein eigenes Werk derartiger Verhunzung anheimgegeben? Traurig. (…) Das transdisziplinäre Gespräch bleibt hier kunsttheoretische Behauptung, kuratorische Absichtserklärung. Das prägt den gesamten, papiernen, konzeptlastigen Abend: große Gesten, wenig Gehalt.”

(Dirk Pilz in der Berliner Zeitung)

“Im Anschluss an diese etwas ungelenke Fingerübung in Berliner Pampigkeit war erstmal zwei Stunden Zeit für weiteren Leerlauf. Schlecht projizierte Videos von weidlich bekannten Performances wie “Quad” und “Geistertrio”, die Samuel Beckett in den Siebzigern und frühen Achtzigern inszeniert hatte, dämmerten am Gangende der Foyers erklärungslos vor sich hin. Tino Sehgal zeigte zwei seiner Kinderperformances auf den rosa und türkisen Teppichleerflächen, die man bereits vor zwei Jahren bei seiner großen Werkausstellung im Martin-Gropius-Bau ansehen konnte, nur dass es dort hell und leise war, während in den Foyers der Volksbühne in dieser Zwangspause ein derartiger Gesprächslärm herrschte, dass man zwar leicht mitbekam, dass die Brezeln bereits alle waren, aber auch mit schmerzhaftester Konzentration kein Wort von dem verstand, was die merkwürdigen Kinder einem sagen wollten. (…) Dieser hochkonzentrierte Maximalminimalismus wäre sicherlich mal eine Sonderveranstaltung im Spielplan wert, um etwas Theaterarchäologie lebendig werden zu lassen. Aber als programmatischer Einstieg für eine neue Ära an der Volksbühne, die vorher über zweieinhalb Jahrzehnten zu den innovativsten Bühnen des Landes zählte, ist diese Dokumentation über die Ausgrabung eines theaterhistorischen Königsgrabs so vielversprechend wie eine Gruft. (…)
Frustriert von diesen fünf Stunden Trübsal, Warten und hölzernem Charme erschien die Berufung von Chris Dercon als Nachfolger von Frank Castorf tatsächlich wie das große Missverständnis, das seine gehässigen Gegner seit zwei Jahren mit den gröbsten Vokabeln beschwören. Miserabel in Szene gesetzt, akustisch unverständlich, inhaltlich dröge und lieblos dargeboten war dieses House Cooling wahrlich kein Versprechen für den Beginn einer neuen Epoche zeitgenössischer Erregungskunst.”

(Till Briegleb in ART Magazin)


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