vonSchröder & Kalender 30.06.2006

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert schwach in südwestlicher Richtung.

Neben dem Eingang zum Markt, man muß an ihm vorbei, wenn man den Einkaufswagen holt oder abgibt und den Euro aus dem Kettenschlitten nimmt – also an strategisch günstiger Stelle –, steht unser Bettler. Ich sage »unser Bettler«, weil wir uns in Marokko angewöhnt hatten, jeden Morgen immer demselben Mann einen Dirham zu geben. Es war ein Krüppel, der auf einem Holzbrett mit vier kleinen Rollen hockte, das Brett ähnelte einem Transportroller für Möbel. Der winzige Kerl bewegte sich, trotz seiner Behinderung, mit erstaunlicher Schnelligkeit und Geschicklichkeit auf dem Gefährt. Rund um den Djemma-el-Fna gab es viele blinde, taube, aber auch körperlich unversehrte Bettler. Erstaunlich war das Informationssystem dieser Gilde. Wenn man einem etwas gegeben hatte, versuchte es kein anderer mehr bei dir. Wie sie sich verständigten, weiß ich nicht. Aber die Einheimischen waren ebenfalls an dieses Ritual gewöhnt und beherzigten die tägliche pragmatische Barmherzigkeit, die übrigens der Koran vorschreibt.

Unser Bettler bei Aldi ist von anderer Sorte: ein junger Mann in stets sauberer Kleidung. Er ist nüchtern, hat gut geschnittenes Haar, graublaue Augen und einen melancholischen Blick, in dem die ganze Weite der Taiga und die ganze Sehnsucht nach dem Euro liegen. Unser Bettler hält den ›Straßenfeger‹ hoch wie ein Zeuge Jehova den ›Wachturm‹, aber dieses Obdachlosen-Magazin verkauft er nur pro forma. Ich sah nie einen, der ihm etwas gab, das Blatt mitnehmen. Der Mann spricht nur wenige Worte, vermutlich stammt er aus Rußland oder der Ukraine. Wir wollen das gar nicht genau wissen, denn zum Bettelwesen gehört Distanz, Geben und Nehmen sind ein faires Geschäft: Man zahlt für ein etwas besseres Gewissen und nicht für menschliche Nähe.

Nur manchmal kommt diese Prämisse ins Wanken. Neulich hatte Barbara keinen Euro für den Einkaufswagen, also fragte sie den Mann: »Können Sie mir das bitte wechseln, ich brauche einen Euro.« Sie gab im 1,80 in kleiner Münze, er erwiderte: »Bitte, ich kann, aber ist zuviel!«»Der Rest ist für Sie wie immer«, sagte Barbara. Da passierte etwas Seltsames: Unser Bettler mußte lachen, das vertrug sich nicht mit seiner professionellen Melancholie. Für eine halbe Sekunde lief eine merkwürdige Welle über sein Gesicht wie in einem Windkanal, dann hatte er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle, gab Barbara ernsthaft wie ein Kassierer den Euro für den Einkaufswagen und verabschiedete sich von mir – ich stand etwas abseits – mit einem leichten Kopfnicken.

(BK / JS)

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