vonSchröder & Kalender 12.07.2006

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in südlicher Richtung.

Gestern hatten wir in Kreuzberg Freunde besucht und nahmen nach Mitternacht am Görlitzer Bahnhof die U-Bahn Richtung Kurfürstendamm. Am Kottbusser Tor wankten zwei Gestalten in den Wagen, wenn du die gesehen hast, brauchst du nicht mehr Dietmar Dath zu lesen, echte Bier-Zombies, Hogarth-Figuren, Zille ist da viel zu milde. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich sie, wollte nicht so genau hingucken, damit sie mich nicht anquatschen. Die Frau hatte ein rosarotes aufgedunsenes Gesicht, hoher Blutdruck. Ach, eigentlich muß man nur sagen: voll breit, eine alte Schlampe eben. Aber was heißt alt? Sie war wohl Mitte vierzig, ein vom Alkohol zerstörtes Gesicht – weiß ja jeder, was Alkohol aus Gesichtern macht. Und dazu dünnes Sardellenhaar, die hingen gelb gefärbt in Strähnen auf die Schultern. Ihr Typ hatte ein Gesicht wie Wolfgang Neuss, aber eben kein Kiffer, sondern ein Bier-Neuss. Das Pferdehaar hatte er zu einem dicken Zopf geflochten. Wackelig ließen sie sich auf die Sitzbank ein paar Schritte von uns entfernt fallen.

Ihnen gegenüber saß ein offenbar gebildeter, nüchterner, undrogistischer Nachtarbeiter, der von der Schicht kam. Früher hätte man gesagt: Setzer bei einer Zeitung, heute gibt es das ja nicht mehr. Egal, es war ein intellektueller Nachtarbeiter. Die bedröhnte Tante quatschte den reserviert unter sich blickenden Mann über den Gang an: »Wir müssen am Kudamm raus. Sag uns ma Bescheid, wenn Kudamm iss!« Die hatte Nerven der nüchternen Mittelklasse Befehle zu erteilen! Und dann brabbelten sie wieder ihren Singsang. Sie: »Nee, nee, um eins keen Bier mehr!« Darauf er: »Un dit is nu Berlin!« Und immer wieder von vorn: Sie: »Nee, nee, um eins keen Bier mehr!« Er: »Un dit is nu Berlin!«

So ging es vier oder fünf Stationen lang, die Litanei der beiden Suffnelken wirkte einschläfernd und als der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr, las ich die vorbeiziehenden Stationsschilder »Kurfürsten…«, schrecke hoch und sprang auf: »Barbara, Kurfürstendamm!«, stand schon mit einem Bein auf dem Bahnsteig, mit dem anderen noch in der U-Bahn, da rief der nette Nachtarbeiter: »Nein, das ist doch erst Kurfürstenstraße.« Ich sprang wieder in den Wagen rein: »Ach Gott! Ja! Kurfürstenstraße!«

Und nun entspann sich folgender Dialog, die Suffnelke beschwerte sich bei ihrem Gegenüber: »Du wolltest uns doch Bescheid jeben! Nu, sind wa am Kudamm vorbei!« Darauf er: »War doch erst Kurfürstenstraße. Es sind noch drei Stationen bis Kurfürstendamm.« »Nee, nee, uff keenen iss mehr Verlaß!« Der nette Mensch wiederholte: »War doch erst Kurfürstenstraße. Es sind noch drei Stationen bis Kurfürstendamm.« Sie ignorierten das und beschäftigten sich wieder mit ihrem Freund: »Nee, nee, um eins keen Bier mehr!« »Un dit is nu Berlin!«

Inzwischen überlegte ich mir, warum sie ausgerechnet von Kreuzberg aus, wo es eine Kneipe neben der anderen gibt, zum Kudamm wollten. Vermutlich hatte der Wirt ihrer Stammkneipe ihnen nichts mehr gegeben, und sie wollten es jetzt in einer der Touristendestillen rund um den Kudamm versuchen. Vielleicht auch bei angetüterten Berlintouristen schnorren? Ach, wer weiß schon, was sich zwei Besoffene denken?!

Wir waren am Ziel, der hilfsbereite Mensch suchte eilends das Weite. In gebührendem Abstand folgten wir dem Säuferpärchen. Auf der steilen Rolltreppe schwankten sie bedenklich, die Frau schräg nach hinten geneigt, das gelbe Sardellenhaar wehte in der Zugluft, ihr Röckchen auch. Bloß nicht hinfallen, dachte ich, sonst gibt es einen Notfall, dann müssen wir uns darum kümmern. Aber Kinder und Besoffene haben Glück, schwankend kamen sie unten an, schlurften vor uns durch die gefliesten U-Bahn-Gänge. Sie trug Nylonstrumpfhosen, die ihren kuhhessigen silly walk noch betonten. Die X-Beine waren rosarot wie ihr Gesicht, sie leuchteten durch die Strümpfe hindurch. Ihr Freund daneben ging wie ein normaler Besuffski. So schwankten sie miteinander durch die U-Bahn-Gänge, solidarisch und überhaupt nicht aggressiv, sie unterhielten sich eben prächtig: »Nee, nee, um eins keen Bier mehr!« »Un dit is nu Berlin!«

(BK / JS)

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