vonSchröder & Kalender 22.12.2006

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
Auf daß die Bäume nicht in den Himmel wüchsen, mußte ich erst mal meine vierzehntägige Gefängnisstrafe antreten, die ich mir im Jahr zuvor durch die Unfallflucht eingehandelt hatte. Ich ließ die Berufungsfrist verstreichen in einer Mischung aus Nachlässigkeit, Geldmangel und Neugier. Da ich als ›Selbststeller‹ meine Strafe antreten konnte, wann ich wollte, überlegte ich mir: Urlaub will ich dafür nicht nehmen, und stellte mich am 22. Dezember 1960. Als sich das Tor der Ulmer Höh hinter mir schloß, war es mir doch mulmig, und die »Was soll’s, vierzehn Tage Knast!«-Stimme im Kopf wurde piepsiger. Und erst der Fragebogen: »Erbkrankheiten, Vater, Mutter, Syphilis, wenn ja, wann?« Das System saugte mich ein, und die irrationale Angst, hier nie wieder rauszukommen, begann zu fiepen. Beim Betreten eines Gefängnisses kriegst du sofort ein übersteigertes Gefühl für Raum und verlierst das Gefühl für Zeit. Eine Erfahrung, die ich bildenden Künstlern nur empfehlen kann, deren bevorzugtes Thema bekanntlich die Bewältigung des Raum-Zeit-Problems ist.

Es folgt das Fassen der Fallada-Utensilien, dann läufst du, wie man es aus jedem Knastfilm kennt, mit der gefalteten Decke auf den ausgestreckten Armen, obendrauf die Blechschüssel, in der das Besteck klappert und deine eigene Zahnbürste, die man dir aus dem Kulturbeutel genehmigt hat, vom Maschores geführt, ins Innere der Anstalt, in Knastklamotten, um den Hals das blau-weiß gewürfelte Tuch – Halstuch ist sehr übertrieben, eher eine Art Taschentuch. Ich habe allerdings später Knastrologen gesehen, denen es durch geschicktes Knoten gelang, sich damit einen Hauch von Distinktion zu verleihen. Ansonsten angerauhte Großvaterunterhemden mit Knopfleiste, blaue Drillichklamotten ohne Streifen, Hose zum Zubinden, Filzpantinen und Stahlkappenschuhe. Wenn ich es mir überlege, eigentlich das perfekte Granger-Outfit, womit du in der letzten Saison als son of a pitch-fork in jedem Szeneladen eine gute Figur gemacht hättest.

In die Decke, die ich trug, war ›Preußische Strafanstaltsverwaltung‹ eingewebt, natürlich sauber das Ding, heißdampfgereinigt. Du marschierst durch zwei Schleusen und kommst in den Zellentrakt mit den durchbrochenen Stahltreppen. Ich sollte mich auf die zweite Ebene verfügen. Der ebenerdige Teil des Baus heißt im Knastjargon »Spiegel«, das lernte ich gleich am ersten Tag, als mein Zellengenosse Hansi, der mit allen alten Maschores auf du war, mir die Geschichte von Knochenkarl erzählte, einem Beschließer, der quasimodohaft verzogen vor sich hinging. Hansi berichtete, daß Knochenkarl früher ein ganz Scharfer gewesen sei, weswegen ihn ein paar Knastrologen mal packten und von der zweiten Ebene auf den Spiegel schmisssen. Er war zehnfach gebrochen, die Orthopäden flickten den Mann wieder irgendwie, aber vieles war bei ihm falsch zusammengewachsen unter seiner Uniform. »Un jätz«, meinte Hansi, »is dat äne janz fröndlische Minsch.« Halt, ich kenne ja Hansi noch gar nicht, sondern latsche mit einem zweiten Einrücker über den Spiegel, der so heißt, weil die Kalfaktoren ihn ständig wischen und bohnern, eben spiegelblank. Der uns führende Wärter brüllte durch den Trakt: »Zwei Zugänge nach zwei!« Aus der Glaskanzel von zwei hallte es zurück: »Zwei Zugänge nach zwei! In Ordnung!«

Wir trappsten mit unseren nagelbeschlagenen Schuhen kling, klang die Eisentreppen hoch. Zum neuen Raumgefühl fügte sich dieser spezielle Lärm, eine Mixtur aus Stimmen, Scheppern und Treppendröhnen. Es reichte mir schon, ich verfluchte den Tag, an dem ich leichtfertig die Berufungsfrist verstreichen ließ, von wegen: »Knast ist doch mal ’ne neue Erfahrung.« Aber jetzt stell dir mein Glück vor! Wer kommt mir auf Ebene zwei aus der Maschoreskanzel entgegen, um mich in Empfang zu nehmen? Ein Mensch! Und zwar Erwin aus Kappes-Hamm, ein Schneiderlehrling ehemals, der mich ansprach, als ich am Rheindamm saß, ein Buch las auf einer Bank, an der unser Hauswirt, der Gemüsebauer Franken, vorbeifuhr und halb verächtlich, halb bewundernd zu meiner Mutter sagte: »Ihren Sohn, Frau Eddi, dä Professor, sitzt widder am Ring und is am Studeere.« Er hätte lieber gesehen, daß ich Unkraut schuffle auf seinem Gemüseland. Zu meinen Füßen auf dem Rhein lag ein Flußboot mit einer wilden Nachkriegskneipe, in der sich die ganz Harten abfüllten, oben auf dem Damm saß der Herr Professor und las, was er sich als Lehrling bei Schrobsdorff rausgezogen hatte.

Diesem gelehrten jungen Mann hatte sich ehrerbietig der Schneiderlehrling Erwin genähert, der den Drang zu Höherem verspürte. Ein Jüngling mit sonderbarem, fast totenkopfartigem Schädel, großen blauen Augen, nein, es waren schon krankhafte Glupschaugen. Eigenartigerweise sah er zwar schräg, aber nicht unangenehm aus. Es gibt ja Leute mit ungewöhnlichen Gesichtsschädeln, die trotzdem nicht richtig häßlich sind. Aber jetzt unter der tellerförmigen Schirmmütze mit dem umlaufenden grünen Rand war er zum Schießen. Egal, ich rufe überglücklich, ihn hier zu treffen: »Mensch, Erwin!« Da zieht der sich zurück, tut so, als hätte er mich noch nie gesehen, fragt scharf: »Ihre Straftaten?« »Raub«, trompetet mein Begleiter. »Verkehrsvergehen«, sage ich. »Ein Räuber, ein Verkehrverbrecher!« brüllt Erwin in Richtung seines Kollegen, der uns die Zellen anweisen soll. Derselbe Erwin, der mir auf dem Rheindamm kleinlaut erklärte, daß er nicht Schneider bleiben, sondern nach Amerika gehen wolle. »Da mußt du Englisch lernen.« »Ja, aber das ist so teuer.« »Na gut, ich kann dir ein bißchen Englisch beibringen.« Ein halbes Jahr lang hatte der Knabe jede Woche einmal Unterricht bei mir, er war begeistert und lernte deshalb ganz gut. Umsonst machte ich das! Und jetzt kommt der mir mit seiner komischen Maschoresmütze entgegen und knöpft sich den eisigen Mantel zu.
Hoffentlich haben sie ihn irgendwann auf den Spiegel geknallt, das Schwein hat mir für ein halbes Jahr kostenlosen Englischunterricht noch nicht mal eine Packung HB zugesteckt – da muß man doch einfach gleich in die Luft gehen. Er kam auch später nicht, zumindest hatte ich erwartet, daß Erwin mich beiseite nehmen würde: »Du, ich darf hier niemand bevorzugen. Tut mir leid.« Ach was, der Kerl ist im mittleren Dienst versackt, eigentlich Strafe genug, hatte ja kein Abitur, konnte also nicht mal Gefängnisdirektor werden.

Erwin war ein Schock, jetzt wußte ich, es würde sich nicht um den lustigen Knastabriß handeln, sondern, egal wie kurz dieser Aufenthalt auch sein mochte, das mußte an die Substanz gehen. Dagegen ist der Gang zu einer Sozialbehörde ein Klacks. Wer hat sich nicht schon mal über Behördenwichser geärgert als freier Bürger? Und wenn du dann einmal Arbeitslosengeld brauchst, nachdem du dreißig Jahre eingezahlt hast, dünkelt dich eine vom Klimakterium besessene Dummbeutelin ab, die zu allen Überfluß auch noch Gantenberg heißt. Da fängt der Infarktcharakter an zu kochen. Bist du aber raus aus ihrer Amtsstube, machst du doch nur »pöhhh!« und lachst dir einen: Was geht mich die dumme Gans an? Als zweites weißt du: Ich kann der, wenn ich will, den Kopp runtermontieren, weil ich als Diplomquerulant im Notfall den richtigen Oberregierungsrat bei der Bundesanstalt für Arbeit ausfindig mache, der dieser Frau Gantenberg die Federn gehörig rupft. Wer ein Jahr in einem Ministerium zu Mittag gegessen hat als Pennäler, weiß genau, wie er jedem, der Vorgesetzte hat, mit Hilfe eines solchen die Fittiche stutzen kann. Das gibt dir augenblicklich deine Gelassenheit zurück: Wegen der durchgedrehten Ziege einen Schriftwechsel anfangen? Aber du könntest es! Hier drinnen weißt du, ein Erwin tut dir ja nichts, außer dich wie schlechte Luft zu behandeln. Wir haben draußen leicht lachen über das Wort ›Würde‹. Im Knast, wenn dir ein Glupschauge so kommt, schreit jede Faser in dir: »Würde! Würde! Würde!« Und das bereits im humanen deutschen Strafvollzug, ich rede nicht von Foltergefängnissen. Und wenn es einem im deutschen Edelknast schon so an die Nieren geht, daß dich jeder Erwin als Nequam behandeln kann, dann hat die Faszination ein Ende. Keine der zig ›Blechnapf‹-Lektüren vorher hatte mir einen Hauch der Dumpfheit vermittelt, die sich in mir und um mich herum breitmachte.

Der Maschores schloß die Tür auf, in der Zelle saß ein gefährlich aussehender Brecher mit Boxernase. Mein Bammel vor ihm war bald verflogen, er war nicht als Totschläger hier, sondern wegen notorischen Fahrens ohne Führerschein. Sie legten wohl die Verkehrsrowdys zusammen. Der Mann war Klempner, ich weiß nicht, ob er noch etwas anderes auf dem Kerbholz hatte, jedenfalls saß er schon ein halbes Jahr, schenkte mir eine selbstgedrehte Lulle und erklärte die wichtigsten Knastrituale: Wecken, Mahlzeiten, den Bello, so heißt das Zellenklosett, den Hofgang. Wieder drehte sich der Schlüssel, in der Tür stand verlegen grinsend Hansi, ein großer schwammiger Dummkopf. Die Einzelzellen wurden wegen Überfüllung des Gefängnisses mit drei Leuten belegt, zwei waren nicht statthaft wegen möglicher Schwulibertereien. Zwei Insassen hatten immerhin Bettgestelle, die tagsüber links und rechts an der Wand hochgeklappt wurden, der dritte mußte seine Matratze auf dem Fußboden ausrollen und lag quer. Der dumme Hansi plazierte sich mit dem Kopf am Knie des Bello. Warum er sich nicht mit dem Kopf an die Wand legte? Wahrscheinlich, um Rudi und mich besser im Auge zu behalten. Hansi war Stadtstreicher, welche traditionsgemäß kurz vor dem Fest eingesammelt wurden, damit sie das christliche Mitgefühl nicht überstrapazierten. Er gehörte zur ersten Düsseldorfer Pennersahne, hatte seine Karriere schon mit dreizehn begonnen. Allerdings war das Berberwesen als multikulturelle Minderheitengruppe noch nicht installiert oder von den Abschlußsemestern der Filmhochschulen für die dritten Programme entdeckt worden. Sie hießen noch nicht mal ›Berber‹, sondern eben ›Stadtstreicher‹, das Delikt war ihr Titel. In der Nachkriegs-Nazi-Zeit waren sie Ungeziefer, menschlicher Abschaum, der eigentlich vernichtet gehörte. Also brauchten diese Hansis mehr List, mehr Mimikry als heute, wo doch viel abgefedert wird von Sozialhilfestationen mit Suppenküchen und Kleidung vom Sozialamt.

Der Vater war Lumpensammler gewesen, der Sohn zog den Karren: »Lumpen, Eisen und Papier!« Er wuchs ohne Schule auf, stotterte auch. »Äwer isch kann die Uhr läse, ming Mudder hat misch dat jeliehrt.« Den Alten hatten die Nazis als Säufer und Kommunist einkassiert, er kam nicht wieder. Mit seiner Mutter und der älteren Schwester lebte Hansi nach 1945 im Keller eines Trümmerhauses. So etwas gab es nicht nur in Neapel, worüber Curzio Malaparte in seinem Roman ›Die Haut‹ berichtet und vom Leben der Kinder in den Ruinenhöhlen schreibt. Über dieses Buch und ›Kaputt‹ wurden damals erregte Diskussionen geführt, ob die Schilderung des brutal Obszönen durch künstlerische Notwendigkeit gerechtfertigt sei, während Hansi in einem Keller hauste, den Strom aus dem öffentlichen Netz anzapfte, bis das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk ihm draufkam und er wieder mal in den Knast einfuhr. Seine Schwester hatte mehr Glück, sie schaffte an, lernte dabei einen englischen Sergeanten kennen, der sie heiratete, mit ihm wohnte sie in der Kaserne. Von den Engländern bekam Hansi abgelegte Klamotten, sie tränkten ihn auch mit Whisky und brachten ihm schweinische Bawdy Ballads bei, Landsknechtslieder von der Qualität: »Da ham wer geschissen, / den Arsch aufgerissen, / die Kellnerin gepelzt.« Es lief dir einmal eiskalt den Rücken runter, wenn er den geschnorchelten, gepfiffenen, gefurzten Refrain dieser Urlautsonaten heraustrompetete: »Därädärärädärä ähhh hrrch füüh prüpt äheh!«, und das zweite Mal, wenn er von seinen sexuellen Abenteuern erzählte. Perverse Frauen erkoren sich ihn zum Beschäler, »des Narren Gehenk ist der Maibaum der Damen«, heißt es in ›Fanny Hill‹.

Hansi sah zum Fürchten aus, abstehende schwarze Kräuselhaare, der fette römische Millowitsch-Typ mit fleischiger Nase, wasserblauen, nach außen schielenden Augen, einem breiten Maul mit dicken feuchtglänzenden Lippen, wenn er mit der Zunge darüber fuhr – und auch wenn du mich dafür einen Damenfeind schimpfst –, da konnten nur perverse Weiber drauf stehen. In seinem gebrachten englischen Zwirn setzte er sich in Tanzcafés, und die Frauen mit den ganz und gar ungewöhnlichen Gelüsten ließen sich von ihm den flambierten Pudding abschlecken. Ach, ein armer Schlucker im doppelten Sinn des Wortes, denn er war Alkoholiker, darüber hinaus eben auch bekannt als Genießer gewisser Speisen. Die abnormen Gelüste der Frauen und Männer waren damals keine anderen als heute, nur blieben sie unter dem Tisch und standen nicht in einer Anzeige im ›Prinz‹: »Schokoladenpudding sucht Leckermäulchen zum Schlecken.« Da mußten die Asozialen ran. Hansi stand für solche Zwecke zur Verfügung. Er hat das alles nicht erfunden, besaß ja keine Phantasie, sagte also die reine Wahrheit. Schon unheimlich, du sitzt in einer Zelle auf einer zusammengerollten Matratze, die ›Nordwestpassage‹ auf den Knien, und so ein Fleischberg schlurft vor dir auf und ab, zählt die Schokoladen- und Vanillecremes auf, mit denen er seine Klientinnen bekleisterte, und wie er sie ihnen ableckte.

Na, gut, meinetwegen, wenn das so harmlos ist, dann kann ich dir ja eine noch harmlosere Sache erzählen von meinem Gewährsmann für besondere Speisen, und zwar in seinen eigenen Worten: »Isch sann et disch, Jong, äns hät misch so än Wiff in ihrem Uto jesäätz, dann sinn mä jefahre un jefahre. Un dann sinn mä in Heidelbärsch anjekume un han jut gefräte un jesuffe. Un dann sinn mä in so äne Hutälzimmer jejonn. Un do hann isch noch zwä Fläschken Wing jesuffe. Jong, dat war äne joote Wing, isch sann et disch! Un wie isch so in dem Bäätt lieje un bin äns so jlücklisch, säht die Aal för misch: ›Hansi, kumm äns, Hansi!‹ Un do sitz dat Wiff vor em Bäätt un hät jeschisse! Un isch sann för die: ›Bah! Wat is dat dann?!‹ Un do hät die än kleen silwerne Löffelsche jenumme un hät dat an ihre Driss jedonn un säht för misch: ›Kumm, isch jew disch noch äns hunnert Maack, wenn du dat jetz fräten dust.‹ Un isch war so besuffe un hann misch jedaht: Hunnert Maack, dat schöne Jeld! Un so hann isch dat jefräte. Bah! Nä! Wat förene Sauerei! Nä! Un do hann isch so ine Wut jekrisch, do hann isch die jepopp, dat die jekrisch hät! Nä, dat Läve is äne Driss!« Ja, das Leben ist Scheiße, besonders, wenn du in einer Zelle sitzt mit einem Scheißefresser.

Fortsetzung folgt

(BK / JS)

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